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Die schweigende Mehrheit

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12.11.2008
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Die schweigende Mehrheit

Ein aufgeregtes Getuschel waberte durch den großen Versammlungssaal.
»Die hier beobachtete Abweichung von der Norm aller bisher erforschten Planeten stellt eine Perversion der allein gültigen Grundsätze der natürlichen Ordnung dar. Es ist daher von großem Interesse für unsere Rasse, diesem Phänomen nachzugehen. Uns bietet sich hier die einmalige Gelegenheit, wissenschaftliche Pionierarbeit zu leisten.«
Das Getuschel wurde heftiger. Die vorsitzende Sechsheit verlangte vehement »Ruhe!«
Die historische Dreiheit fuhr fort: »Es ist uns bisher nicht gelungen, Parallelen bei den bekannten Zivilisation zu finden. Wir können deshalb davon auszugehen, dass die Situation auf diesem Planeten isoliert zu betrachten ist. Unsere technische Überlegenheit erlaubt eine problemlose Beibehaltung dieser Isolation, daher plädieren wir für eine weitere Erforschung. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich ein solcher Fall auf weniger weit entwickelten Welten auf keinen Fall wiederholen kann.«
Wieder brach wildes Gemurmel aus. Die vorsitzende Sechsheit forderte erneut Ruhe ein und erteilte der exobiologischen Dreiheit das Wort.
»Aus biologischer Sicht stimmen wir einer weiteren Erforschung ebenfalls zu. Bisher gelang es uns nicht, die Natur dieses Phänomens ausreichend zu erforschen. Die von uns gefangenen Muster der dominanten Spezies können nach unseren Kriterien eigentlich unmöglich die dominante Art sein. Dennoch beherrschen sie alle anderen Spezies auf diesem Planeten, obwohl nahezu jede Art ihnen physisch oder durch pure Zahl überlegen ist. Die von uns untersuchten Muster sind weder resistent gegen Strahlung, noch haben sie Abwehrmechanismen gegen Gifte. Ihre natürliche Verteidigung gegen Feinde ist mangelhaft. Ihr Körperbau ist unvorteilhaft und extrem anfällig. Ihre Körperchemie, sofern wir dies feststellen konnten, reagiert empfindlich auf kleine und kleinste Veränderungen in Zusammensetzung von Atemluft und Nahrung. Die wenigen Erkenntnisse, die wir bisher gewinnen konnten, reichen für eine abschließende Analyse nicht aus. Offensichtlich hat diese Spezies den gesamten Planeten domestiziert und dabei das ökologische Gleichgewicht empfindlich gestört. Dennoch scheint diese Rasse bereits viele tausend Generationen alle anderen, deutlich widerstandsfähigeren, Arten zu beherrschen. Wir stimmen daher ebenfalls für eine weitere Erforschung dieser Widersprüche.«
Durch das nun aufbrandende Stimmengewirr konnte sich die soziologische Dreiheit nur mühsam verständlich machen.
»Bei der ersten Auswertung der Fernerkundungsdaten bot sich uns das übliche Bild. Es gibt Besiedelungsstrukturen, wie sie für alle bisher bekannten präkosmischen Kulturen üblich sind. Große Zentren mit vorgelagerten Versorgungsnestern. Die Zentren bestehen aus den üblichen Großbauten. Das Kommunikationsaufkommen entsprach ebenfalls dem erwarteten Wert. Allerdings scheint die Völkerbildung nach uns bisher unverständlichen Mustern abzulaufen. Es gibt keine Schwarmbewegung und es wurde kein Nestwechsel beobachtet. Stattdessen scheinen die Völker sich in einer Fluktuationsbewegung zu durchmischen. Diese Phänomene sind höchst beunruhigend und müssen weitergehend untersucht werden.«
»Solch eine widernatürliche Perversion muss ausgelöscht werden«, schrie die Glaubensdreiheit. Stille senkte sich über die Versammlung. Gemäßigter fuhr die Dreiheit fort:
»Seit tausenden von Generation leben wir im Vertrauen auf die unumstößliche Wahrheit, dass unsere Art, Kultur und Lebensweise die einzig Richtigen sind. Alle Planeten, die wir im Laufe der Zeit erforschten, waren nur weitere Belege für die Gültigkeit dieser Wahrheit. Dieser ... Irrtum«, die Dreiheit deutete auf das Abbild des Planeten, das in der Mitte des Raumes schwebte, »muss ausgetilgt werden. Es negiert alles, woran wir glauben.«
Als sich die Dreiheit würdevoll gesetzt hatte und abwartend in das Plenum blickte, regte sich keiner der Anwesenden. Schließlich brach die Philosophische Dreiheit die lastende Stille.
»Wir haben hier einen klassischen Konflikt. Zum einen sehen wir in der Existenz dieses Planeten eine Bedrohung für unser Verständnis dessen, was richtig und natürlich ist. Zum anderen wollen wir um jeden Preis herausfinden, was diese Abartigkeit ausgelöst hat. Wie lösen wir nun diesen Konflikt?«
Ein kurzes Murmeln huschte durch die Reihen, doch eine Antwort blieb aus.
»Eine Konfliktlösung ist durch einen Kompromiss möglich«, fuhr die Dreiheit fort.
»Dieser Kompromiss kann nur wie folgt aussehen:
Wir riegeln diese Welt ab, erforschen die Grundlagen der Andersartigkeit der herrschenden Rasse und vernichten sie dann.«
Die Anwesenden trommelten zustimmend auf ihre Pulte.
»Nun gut«, sagte die vorsitzende Sechsheit.
»Wir haben also einen Konsens. So soll es geschehen.«
Viele Kilometer unter der Versammlung drehte sich ein Planet. Ungestört zog er seine Bahn um seine Sonne. Die schweigende Mehrheit, vielbeinig und meist hart gepanzert, nahm davon nichts wahr. Sie baute ihre Nester, vermehrte sich uns sicherten ihre Territorien ab, so wie sie es schon seit Jahrmillionen taten. Und als die beherrschende Spezies des Planeten schließlich verschwand, nahm die schweigende Mehrheit keine Notiz davon, ebenso wie sie sie immer ignoriert hatten.

 

Hallo Dave,

nett, aber doch sehr sehr menschlich, Deine überlegenen Außerirdischen!

Dieser Irrwitz ....muss ausgetilgt werden. Es negiert alles, woran wir glauben

Erscheckender Gedanke: diese primitive Einstellung steht der Entwicklung von Technik, Wissen und Macht nicht im Wege.

Schöne Fingerübung,

Gruß Set

 

Hallo Set,

und vielen Dank fürs lesen. Freut mich, dass dir die Fingerübung gefallen hat.

Erscheckender Gedanke: diese primitive Einstellung steht der Entwicklung von Technik, Wissen und Macht nicht im Wege.

Die Geschichte lehrt uns, dass gerade diese primitive Einstellung ein Motor der Wissenschaft war (und vermutlich immer noch ist).

lg
Dave

 

Jau, sehr ordentlich geschrieben, Sonderlob für die Wortschöpfung "Dreiheit".

Die abgegriffene Perspektive der übermächtigen Aliens zwecks Reflektion menschlicher Schwächen kann ich hingegen nicht loben. Das ist mir zu platt und bleibt aufgrund der Kürze und der Vielzahl der Redebeiträge an der Oberfläche.

Lass sie doch einfach einen Menschen an Bord beamen, um ihnen ihre Fragen zu beantworten! Sagen wir... Woody Allen?

Uwe
:cool:

 

Jau, sehr ordentlich geschrieben, Sonderlob für die Wortschöpfung "Dreiheit".

Danke schön. :)

Die abgegriffene Perspektive der übermächtigen Aliens zwecks Reflektion menschlicher Schwächen kann ich hingegen nicht loben. Das ist mir zu platt und bleibt aufgrund der Kürze und der Vielzahl der Redebeiträge an der Oberfläche.

Yep, abgegriffen stimmt. Aber, wie geschrieben, handelt es sich um eine Fingerübung. Da ich mich zur Zeit vermehrt auf Auschreibungen stürze :Pfeif: , skizziere ich viel und probiere viel aus. Diese Miniatur ist eines der Ergebnisse.

Lass sie doch einfach einen Menschen an Bord beamen, um ihnen ihre Fragen zu beantworten! Sagen wir... Woody Allen?
Du wirst lachen. Ich habe kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, in der Mitte des Versammlungsraumes einen Menschen in einem Energiefeld schweben zu lassen, der als Anschauungsobjekt dient. Aber irgendwie hat sich die Idee während des Schreibens verkrümmelt. Mir ging es eigentlich auch eher um diesen Teil:
Jau, sehr ordentlich geschrieben
Also testen, ob eine solche Ansammlung von Ideen und "Stimmen" überhaupt eine gute Szene abgibt. Scheint funktioniert zu haben.

lg
Dave

 

Hallo Dave,
meines Erachtens passt der Titel nicht.
Denn Die schweigende Mehrheit kommt nur in einem einzigen Satz vor:
Die schweigende Masse, vielbeinig und meist hart gepanzert, nahm davon nichts wahr. Sie war zu sehr mit ihrem Überlebenskampf beschäftigt.
Noch dazu steht dieser Passus im Text isoliert ohne Bezug zu den Sätzen davor und danach. Er könnte also ersatzlos gestrichen werden und der Titel ist dann endgültig Makulatur.
Sollte dieser Satz bedeuten, dass auch bei Aliens nur die oberen Zehntausend das Sagen haben und die schweigende Mehrheit entweder die Menschen in Ruhe lassen beziehungsweise sie gleichgültig links liegen lassen würde, dann steht er nicht an der richtigen Stelle.
Mein Tipp: Überschrift ändern und den Satz weg – der passt einfach nicht zu dieser Story.
Mit freundlichem Gruß und kreative Tage noch!
kinnison

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Kinnison,

Mist, ich habe die Hinweise im Text wohl zu gut versteckt.

Allerdings scheint die Völkerbildung nach uns bisher unverständlichen Mustern abzulaufen.
Es gibt keine Schwarmbewegung und es wurde kein Nestwechsel beobachtet.
Zwar hielt sie sich für die Krone der Schöpfung, doch sie sollte bald feststellen, dass der Schöpfer mehr als nur zwei Arme besaß.

Wie Uwe schon schrieb, die Idee ist abgegriffen. Ich gebe dir insofern Recht, als das ich die Aliens besser als Insektoiden hätte charakterisieren müssen. Aber dann wäre die Auflösung zu schnell im Text gewesen.

Ich habe die Masse jezt mal gegen Mehrheit ausgetauscht, vielleicht wird es dann ersichtlicher.

lg
Dave

P.S.: Hat dir die Geschichte gefallen?

P.P..S.: Titel sind nicht meine Stärke ;-)

 

Hi Dave,

ganz nette Geschichte. Bis kurz vor Schluss. Denn der letzte Absatz trübt die Wirkung gewaltig. Das übliche "Die Menschheit wird vernichtet, weil sie nicht wert ist, weiterzuleben"-Ende.
Lass den Absatz weg, widme der schweigenden Masse noch zwei, drei Sätze über den Überlebenskampf. Dann wäre es für mich rund.

CU,
Teja

 

Hallo Teja,

und velen Dank für deine Kritik. Ich habe mal das Ende umgestaltet und bin neugierig auf deine und die Meinung der Anderen.

lg
Dave

 

Hallo Dave!

Vor einiger Zeit schrieb ich mal > jetzt fürcht ich schon fast, was mit SF anfangen zu können …<,

und das ist im Prinzip – seh ich mal angefangen bei Mrs. Shelley’s Frankenstein, über Verne, Orwell, Huxley & Lem und Dir ab – so geblieben, denn auch bei Dir ist SF nix anderes als eine negative Utopie. Bei dieser kleinen Fingerübung passt in jedem Fall die Überschrift, denn wie kann die schweigende Mehrheit anders als durch ein Optimum an Darstellung dargestellt werden, eben indem sie kaum auftaucht (Optimum deshalb, weil’s Minimum eben bei gleichem Titel bedeutete, dass nicht ein müdes Wort drüber verschwendet würd.)

Ein wenig erinnert mich dass Personal ans Dreigestirn, Dreieinigkeit & Sex(geil)heit: >die vorsitzende Sechsheit, die exobiologische Dreiheit, die soziologische Dreiheit, die Glaubensdreiheit<, allesamt mit dem weibl. gramm. Geschlecht bedacht wegen ihrer Endung (-heit) - oder mit Absicht, insofern als ein echtes Matriarchat herrscht (alles andere historisch blebte ist ja nur "Mutterrecht", letzte Überbleibsel bei den Haudenosaunee (ach so, versteht keiner: so nennen sich die Irokesen der Six Nations, die Griechen Nordamerikas).

Und die Kleinkrämerseel’ erstummt, muss inzwischen bei Dir fast verhungern.

Nee, doch nich’ganz, jetzt kommt s’e erstmal etymologisch daher:
ein Wort solltestu abändern, denn „witz“ lebt ja heut noch in der „Gewitztheit“ und dem „Mutterwitz“, was allemal auf einen hellen Verstand hinweist = Klugheit, was schön Paradox wäre: irre Klugheit. Aber vielleicht sind wir Klugscheißer so … Vielleicht besser "Irrsinn".

Schließlich: "Stilke"? Name oder Tippfehler?

Wie dem auch sei: Gulliver kommt auch in den idealen Pferde-Staat und findet dort die Yahoos ...

Gruß

Friedel

 

Hallo Friedel,

weiser Mann. Ja, Dystopien sind mein Metier, wenngleich auch der Humor funktioniert, jedoch nicht hier und in SF gar erst einmal (wenngleich auch nicht hier im Forum).
Schön, dass es dich trotzdem immer wieder hierhin zieht.

Immerhin, keine Nulldiät für die Seele. :)

So deuchten zwar die Yahoos Gulliver die edelsten aller Herrscherwesen, doch waren sie eben nur das: Herrscher. Und hielten sie den swiftschen Zeitgenossen auch den Spiegel vor, aus heutiger Sicht waren sie Feudalisten reinsten Wassers. Wenn auch mit vier Beinen.


@Teja : :)

lg
Dave

 

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