Die schwarze Madonna
In Brinas Schatten verblasste Nelli praktisch bis zur Unsichtbarkeit, und niemandem kam das mehr zu pass als Nelli selbst. Aus genau diesem Grund sah sie Wolken heraufziehen, als ihnen an diesem Oktobernachmittag Torben, Benny und Gerrit auf ihren Fahrrädern entgegenkamen.
„Hey, was läuft denn so?“ In seiner schwarzen Motorradlederhose und dem T-Shirt mit Van Halen Aufdruck wirkte Torben auf seinem Fahrrad irgendwie fehl am Platz, ein Abbild der 80er Jahre, so wie er überhaupt fehl am Platz wirkte, so wie er, Benny und Gerrit ihnen gar nicht begegnet sein dürften, nicht heute, nicht an diesem Nachmittag, am besten nie. Die langen, schwarz gelockten Haare fielen ihm bis über die Schultern und er blies sich eine Strähne aus dem Gesicht, während er Brina ansah.
„Wir wollten ...“, begann Brina, und Nelli beendete den Satz im Geiste für sich: ... den Tag zusammen verbringen, in den Park gehen. Vor allem wollten wir nicht mit Spinnern wie euch abhängen. Nelli sah zu Benny, der den Blick abwendete, und sie spürte einen hässlichen kleinen Stich, den sie sich selbst zuschrieb. Auch der dickliche Gerrit wich ihrem Blick aus, worauf es nicht ankam, da Gerrit in gewisser Weise – so wie sie auch - für die anderen in diesem Moment nicht existierte.
„Wir wollen rauf zum See“, sagte Torben. „Kommt doch mit.“
Nelli lag es auf der Zunge und dort blieb es auch: Brina, ich weiß nicht ... Sie fing sich einen verächtlichen Blick von Torben ein, als ob er ihre Gedanken gespürt hätte. „Ist doch geiles Wetter, und wir haben tonnenweise Bier dabei.“ Torben grinste und klopfte auf die Packtasche am Gepäckträger seines Rades. Bennys und Gerrits Fahrradtaschen sahen ebenfalls prall gefüllt aus.
„Wir haben unsere Räder nicht dabei“, versuchte Nelli es, und sie hasste diesen Klang in ihrer Stimme, der andere – besonders Typen wie Torben – nur noch stärkte.
„Drauf geschissen“, sagte er prompt. „Wir schieben unsere. So weit ist es ja nicht.“ Brina nickte und damit war die Sache beschlossen.
Während Nelli sich nichts aus Klamotten machte – sie trug Turnschuhe, eine schlabbrige Jeanshose und darüber ein übergroßes T-Shirt – lugten Brinas BH-Träger unter ihrem bauchfreien Top hervor, der knielange Jeansrock betonte ihre Hüften und einzig die flachen Schuhe waren ein Tribut daran, an diesem Tag in den Park gehen zu wollen. Doch nicht nur das bewunderte Nelli an Brina. Sie schaffte den Spagat, sexy auszusehen und trotzdem kumpelhaft zu sein. Vor allem schaffte sie es, mit jedem gut auszukommen. So flachste sie wie selbstverständlich mit Torben, während sie alle ein Stück die Landstraße entlang gingen. Nelli war abgemeldet.
An einer Stelle der bewaldeten Straße wichen die herbstlich gefärbten Bäume und das Unterholz einer schmalen Lücke. Von hier aus führte ein fast zugewachsener Pfad in den Wald hinein. Ein vergessener Pfad, der zu einem vergessenen Ort führt, dachte Nelli. So falsch lag sie damit gar nicht; außer den Leuten im Dorf kannte kaum jemand den See und sie rechnete nicht damit, an einem Nachmittag wie diesem jemanden dort anzutreffen.
Sie setzten ihren Weg im Gänsemarsch fort, Torben voran, Benny und Gerrit hinter ihm, Brina und sie selbst bildeten das Schlusslicht. Brina musste immer wieder Brennnesseln, die weit in den Pfad hineinragten, vorsichtig heruntertreten, um sich nicht die Waden zu verbrennen. Der Weg stieg leicht an, einen Hügel hinauf, dann fiel er wieder ab und schlängelte sich durch dichteren Wald, bis er eine Biegung machte und die Bäume einer offenen Wiese wichen, die sanft zum See hin abfiel. Die Oberfläche bildete eine silbrig-graue Scheibe, aufgebrochen nur von ein paar Köpfen, die aus dem Wasser ragten, - Kiddies, die an diesem ungewöhnlich heißen Oktobertag eine Abkühlung suchten. Schon aus der Ferne hatten die Fünf ihr Kreischen und Planschen gehört. Die Uferböschung wich nur an dieser einen Stelle einem steinigen Strandabschnitt, vor dem nur Hartgesottene und Fakire nicht zurückschreckten.
„Scheiße, was machen wir jetzt?“ Gerrit machte am Rand der Lichtung halt. Torben blieb ebenfalls stehen und sah sich um. Ein paar Ruderboote dümpelten träge an einem Steg, doch außer den Kids schien niemand hier zu sein. „Nichts, weswegen du dich aufregen musst.“
„Ach ja? Das seh ich anders. Wenn einer von denen -“
Torben schnaubte, stellte sein Rad auf dem Seitenständer ab und öffnete den Verschluss der Packtasche. „Was bist du, Mann? Ein Kiddie?“ Die erste Bierdose flog Benny zu, die zweite Brina, die dritte ihr und die vierte behielt er selbst in der Hand. „Na, wat is nu? Wir haben Durst.“ Gerrit schien plötzlich etwas Interessantes auf dem Boden entdeckt zu haben.
„Also gut. Für unser Baby kein Bier.“ Torben lachte und trank einen Schluck, setzte ab und blickte in die Runde: „Bleiben wir hier?“
Benny zögerte einen Moment und riss dann seine Dose auf. Nelli hätte nichts anderes tun müssen und die Entscheidung wäre gefallen. Trotzdem schaute sie ihre Freundin an. Brina drehte ihre Dose abwägend in der Hand. Es mochte eine Pufferfunktion in ihrer Freundschaft bestehen; hier versagte der Puffer.
„Wisst ihr, ich find´s ungerecht“, sagte sie. „Ihm gegenüber. Er hat recht. Kinder quatschen.“ Sie sah Gerrit an. Damit ließ Brina die Hand mit der geschlossenen Dose sinken. Alle Blicke fielen auf Nelli. Torbens und Bennys herablassend. Wieso musste Benny immer Torben imitieren, wenn er dabei war, dachte sie, wieso konnte er nicht einfach nur Benny sein? Gerrit sah verunsichert aus und Brina sah sie herausfordernd und neugierig an.
Gerrit ist eigentlich auch nur eine arme Sau, dachte Nelli. Andererseits: Weitergehen bedeutete ... Dort oben befand sich die Klosterruine des alten Benediktinerordens, besser gesagt, die Überreste davon, kaum mehr als die Grundmauern der einstigen Kapelle. Das machte Nelli keine Sorgen, auch wenn es Geschichten gab. Beunruhigend fand sie den Gedanken, dort oben mit den Jungs alleine zu sein. Viele Leute aus dem Dorf mieden die Ruine und deswegen war es dort sehr abgeschieden. Trotzdem ließ Nelli die Hand mit der Dose sinken.
„Na gut, wie ihr meint.“ Torben klappte den Ständer seines Fahrrads wieder ein und schob es mit einer Hand balancierend weiter den Weg entlang über die Lichtung. In der anderen Hand hielt er die Bierdose, aus der er einen weiteren Schluck nahm. Benny folgte ihm. Nelli, Brina und Gerrit ließen sich etwas zurückfallen, bevor sie weitergingen.
„Das war echt fair von euch“, sagte Gerrit.
„Vielleicht haben wir es ja gar nicht für dich getan“, erwiderte Brina. „Vielleicht haben wir einfach keinen Bock auf die Kiddies.“ Nelli machte sich bewusst, dass ihre Freundin ihrer Meinung gewiss gewesen war, und genauso lief das auch zwischen Torben und Benny. Gerrit als Schwächster der Dreiergruppe hätte sich fügen müssen, nur gelangte man manchmal an einen Punkt, an dem man nicht mehr ja sagen konnte.
Der Weg führte am Rand der Wiese und des kleinen Strandabschnitts vorbei zum anderen Ende der Lichtung und tauchte dann wieder in das Dämmerlicht des Waldes ein. Die Bäume verloren bereits die ersten in allen möglichen Rot-, Braun- und Gelbtönen gefärbten Blätter, jedoch bildete ihr Laubdach immer noch einen Tunnel und spendete Schatten. Die Luft war hier deutlich kühler. Der Weg führte stetig hügelan, verengte sich teilweise zu einem Pfad und nur hin und wieder konnte man durch die Baumkronen ein Stück Himmel erkennen. Die Gruppe folgte Torben schweigend. Zu hören war nichts außer dem Rascheln des bereits zu Boden gefallenen Laubs unter ihren Schuhen und dem Rauschen der Bäume in der lauen Herbstbrise. Nach ein paar Kilometern tauchte die Lichtung vor ihnen auf, beherrscht von den Überresten der Klosterkapelle, die anklagend in den Himmel ragten. Die grauen Wände waren zum Teil abgetragen oder eingestürzt, Dachkonstruktion und Kapellenturm nicht mehr erhalten, einzig das Halbrund der Apsis mit den schmalen hohen Fensteröffnungen ließ die einstige Kapelle erkennen. Mehr war von der Klosteranlage nicht geblieben. Dort, wo Wohn- und Arbeitshäuser gestanden hatten, wuchsen jetzt hohes Gras, Farne, Wildblumen und Kräuter kreuz und quer durcheinander. Nelli hätte sich gern etwas umgesehen – Ruinen lösen immer einen gewissen Reiz aus, sie zu erkunden, einfach, weil sie da sind -, aber Torben und Benny lehnten ihre Räder gegen das alte Gemäuer und fläzten sich vor der ehemaligen Kapelle ins Gras. Gerrit nahm sich eine Bierdose aus seiner eigenen Packtasche, legte sein Rad achtlos hin und gesellte sich dazu. Brina und sie setzten sich ein Stück abseits der Jungs auf die Überreste einer angrenzenden Mauer. Ihre Freundin riss den Verschluss der Bierdose auf und nahm einen ersten Schluck.
Eine Zeit lang tranken sie schweigend oder tauschten bestenfalls Belanglosigkeiten aus, sie und Brina für sich und die Jungs ebenfalls für sich. Nelli ließ den Ort auf sich wirken und die anderen taten das auch, denn kaum jemand sagte etwas.
Selbst am helllichten Nachmittag strahlte die Lichtung eine bedrückende Ruhe aus. Sämtliche Geräusche des Waldes wirkten gedämpft. Tiere, auch Vögel oder Insekten, gab es hier nicht. Das alte Bauwerk – was davon übrig war – ragte drohend wie ein Mahnmal in den Himmel, und obwohl größtenteils verfallen, hatte es nichts von seiner Würde eingebüßt. Nelli konnte die Präsenz dieses Ortes spüren: Nichts Greifbares, keine Geister oder unheimlichen Phänomene, nur verströmte dieser Ort eine dunkle Ruhe, selbst bei Tag und im warmen Sonnenlicht. Die Stirnseite der Kapelle mit ihren tristen grauen Steinen, dem stufenförmig zulaufendem Giebel und den schmalen hohen Fensteröffnungen, die eher an Schießscharten erinnerten, wirkte feindselig; das Rundbogentor mit den fehlenden Türen wie ein geöffnetes Maul. Schwer vorstellbar, dies als Gotteshaus –
„Brina an Nelli. Hörst du mich?“
Nelli zuckte zusammen. „Was? Oh, ich hab nur ... ich meine ... ist doch schon etwas seltsam hier, oder?“
„Du warst völlig weggetreten. Das ist seltsam. Hast du überhaupt etwas von dem mitbekommen, was ich gesagt habe?“
„Sorry. Irgendwas über die Jungs ... Ich hab nur überlegt ...“ Nelli sah wieder zu der Ruine hinüber.
„Das da? Ist doch bloß ein alter Kasten. Ein Haufen Steine, sonst nichts.“
Nelli, jetzt wieder ganz da, sah ihre Freundin an. Brina saß ihr mit angewinkelten Beinen auf der niedrigen Mauer gegenüber, ihr Rock war ein Stückchen hochgerutscht und entblößte einen Teil ihrer Schenkel, was sie nicht zu stören schien. Sie schaute Nelli belustigt an. Offenbar genoss Brina die Blicke von Torben, der unverhohlen zu ihnen herübersah. Von den Schwingungen an diesem Ort spürte sie nichts. Sie waren auch nur schwach und man musste eine spezielle Antenne dafür haben. Nelli besaß eine Antenne für Schwingungen jeglicher Art, und diese hier besagten nichts Gutes. Sie besagten, es wäre besser, von hier zu verschwinden, auch wenn sie das an nichts festmachen konnte.
Torben und Benny hatten – scheinbar in Rekordzeit, Nelli wusste nicht, wie lange sie in ihrer Traumwelt gewesen war -, insgesamt sechs Dosen Bier geleert und hielten jeder eine weitere in der Hand. Die Leeren lagen wie gefallene Soldaten neben ihnen im Gras. Gerrit schien sich immer noch in seiner Schmollphase zu befinden. Er saß zwar bei den Jungs, ignorierte sie jedoch genauso, wie er sie und Brina ignorierte. Brina zerdrückte die leere Dose in ihrer Hand, warf sie ins Gras und schwang ihre Beine von der Mauer.
„Ey, das geht auch anders“, motzte Torben, als er das Geräusch zerknitternden Blechs hörte.
„Fick dich!“ Brina ging zu den Rädern hinüber und nahm sich eine neue Dose aus Torbens Packtasche. Auf dem Rückweg zur Mauer ging sie nah an ihm vorbei und ließ ihn unter ihren Rock sehen. „Schlampe“, sagte er, als sie fast über ihn rüberstieg. Die Szene wirkte nicht wirklich bedrohlich, nicht ernst gemeint. Es war jedoch die Art von Flachserei, die einen schnell in Schwierigkeiten bringen konnte.
„Miststück!“, fauchte Torben. „Wir sprechen uns noch!“
Die beste Zeit zu gehen, dachte Nelli. Sie konnte Brina jedoch nicht so ohne Weiteres von diesem Ort loseisen. Nach diesem Zwischenfall schon aus Prinzip nicht, dazu kannte sie ihre Freundin zu gut. Brina riss ihre Bierdose auf und setzte sich wieder auf die Mauer.
Das Handy! Sie müsste nur außer Sichtweite kommen, eine SMS an ihre Schwester abschicken, und fünf Minuten später käme der erlösende Anruf, ein Vorwand, warum sie unbedingt aufbrechen müssten.
Benny stand auf, kam nicht zu ihnen herüber, sondern nahm sich eine volle Dose aus der Packtasche seines Rades. Er sah genervt aus und verzog sich mit dem Bier ins Innere der Kapelle. Vielleicht ist er doch ganz okay. Wenn er mit Torben zusammen war konnte er ein Arsch sein, aber als Nelli ihn einmal alleine im Dorf getroffen hatte, war er ganz anders zu ihr gewesen. Sogar ziemlich anständig. Sie hatten sich unterhalten und Nelli hatte sich wahrgenommen gefühlt, so als würde er sie tatsächlich bemerken. So, als wäre sie da gewesen.
Die Tatsache, von den Jungs kaum beachtet zu werden, konnte sie jetzt in einen Vorteil verwandeln, indem sie vorgab, sich ein neues Bier holen zu wollen. Ihre Dose war noch nicht einmal bis zur Hälfte geleert, trotzdem stellte Nelli sie auf der von den Jungs abgewandten Seite der Mauer ins Gras und stand auf. Sie ging zu den Fahrrädern hinüber, nahm sich eine Dose und tat so, als faszinierte sie die Kirchenruine. Benny befand sich immer noch im Inneren, das brauchte sie nicht zu kümmern, es reichte völlig aus, außer Sichtweite zu kommen.
Früher einmal war es wahrscheinlich problemlos möglich gewesen, um das ganze Gebäude herumzugehen, jetzt drängten sich Dornengestrüpp und wucherndes Unkraut hinter dem Querschiff und um das Halbrund der Apsis bis ans Mauerwerk heran. Dahinter fiel das Gelände steil bis zum See hin ab, dessen Oberfläche das Sonnenlicht widerspiegelte. Der Legende nach war der stark beschädigte Glockenturm nach der Zerstörung der Kapelle abgerissen und die Glocke diesen Hang hinuntergestoßen worden und lag immer noch auf dem Grund des Sees. Nelli ging so weit wie möglich, lehnte sich an die Mauer – die sich trotz der Oktoberwärme eiskalt anfühlte – und zog ihr Handy aus der Hosentasche. Der Empfangsbalken im Display zeigte null an. Nicht ein bisschen, nicht etwas, sondern gar nichts. Und das, obwohl das Dorf keine sechs Kilometer entfernt und dort der Empfang immer ausgezeichnet war.
„Hey, kommt mal alle her.“ Benny. „Das müsst ihr euch ansehen.“
Das Innere der Kapelle bot keinen großartig anderen Anblick als ihr Äußeres. Das Kirchenschiff war leer, abgesehen von Löwenzahn, Gräsern und Kräutern, die aus Spalten im Boden herauswuchsen und Moos, das Boden und Wände bedeckte. Bennys Aufmerksamkeit erregte eine verwitterte und zum Teil mit Erdreich und Laub bedeckte Steinplatte, die seitlich des einstigen Hauptgangs auf dem Boden lag. „Meint ihr, wir können sie hochstemmen?“
„Wozu soll das gut sein?“, fragte Torben, den Daumen in der Vordertasche seiner Lederhose eingehakt und in der anderen Hand die Bierdose.
„Weil ein Keller drunter ist. Jede Kirche hat so was.“ Bennys Augen leuchteten.
„Du meinst, eine Krypta. So nennt man das“, sagte Gerrit.
„Eine Krypta, genau. Eine Art Kirche unter der Kirche.“ Benny.
„Wenn´s da was zu entdecken gäbe, hätte irgendjemand das längst getan“, wandte Torben ein. Nelli, die zusammen mit Brina bei den Jungs stand, überkam ein ungutes Gefühl. Es war wie die elektrisch aufgeladene Luft direkt vor einem Gewitter, bevor der erste Blitz in unmittelbarer Nähe vom Himmel zuckte; man konnte spüren, dass es gleich so weit war, weil sich einem die Nackenhaare aufstellten.
„Und wenn schon? Was soll´s?“, sagte Benny. „Kommt, packt mit an.“ Zu dritt schafften die Jungs es, die Platte aufzurichten und an die Wand zu lehnen. Zum Vorschein kamen zwei Flügel einer Falltür, vergammeltes Holz, beschlagen mit massiven Eisenringen. Benny zog daran und die Türen ließen sich mühelos aufklappen. Eine steinerne Treppe führte in die Dunkelheit hinab. Die Luft aus diesem Gewölbe war kalt und roch modrig. „Gehen wir runter?“, fragte Benny.
„Sag mal, hast du sie noch alle? Da unten gibt es nichts außer Ratten und Spinnen. Und ohne Taschenlampe kannst du das gleich vergessen. Kack.“ Torben wandte sich ab und ging wieder nach draußen.
„Mein Vater hat eine starke Stablampe in der Garage“, sagte Gerrit. „Wir könnten wiederkommen und –“
„Ach, vergiss es.“ Auch Benny wandte sich ab. Nur Nelli stand noch vor der Falltür und starrte ins Dunkel. Irgendetwas spürte sie. Nichts Greifbares, aber es war da. Wie ein kalter Hauch, der nicht ihren Körper, sondern ihren Geist streifte. Dann brach draußen die Hölle los. Brina kreischte lachend. Nelli rannte raus. Sie in Schwierigkeiten zu bringen lag bei Brina immer im Bereich des Möglichen. Torben lag wieder im Gras, Brina stand drohend über ihm, ihren Fuß auf seiner Brust. Benny und Gerrit sahen sich das Geschehen vom Tor der Kapelle aus an. Brina lachte immer noch. „Mit dir mach ich´s nicht mal, wenn du einen Schwanz wie ein Hengst hast. Aber da unten baumelt bestimmt nur ein mickriges Würstchen.“
„Probier´s aus. Du weißt nicht, was dir entgeht.“
„Kann ich mir lebhaft vorstellen.“ Sie verlagerte ihr Gewicht auf seine Brust. „Wenn du so stolz auf deinen Pimmel bist, dann hol ihn doch raus.“
Torben machte sich tatsächlich an seinem Hosenschlitz zu schaffen. „Ich zeig ihn dir, und dann bläst du mir einen.“
„Träum weiter. Du blamierst dich bloß.“ Sie nahm den Fuß von seiner Brust und wollte sich von ihm abwenden. Torben rollte sich herum und packte sie am Knöchel. Brina machte zwei humpelnde Schritte, bevor sie mit einem Schrei, der mehr Überraschung als Schmerz ausdrückte, bäuchlings zu Fall kam. Die Bierdose flog ihr aus der Hand und landete spritzend im Gras. Bloß weg hier!, dachte Nelli. Sie wollte loslaufen, ihrer Freundin aufhelfen und dann nur noch mit ihr verschwinden. Benny und Gerrit packten sie an den Armen. Brina lachte immer noch. „Schlappschwanz!“ Sie versuchte, von Torben wegzukommen. Er hielt ihren Knöchel noch umklammert und schaffte es, sich näher an sie heranzurobben. Brina trat mit ihrem freien Fuß nach ihm, verfehlte sein Gesicht jedoch immer um Zentimeter.
„Du Schlampe! Dir zeig ich´s!“ Er griff mit seiner freien Hand unter ihren Rock, zog ihren Slip herunter und zerriss ihn dabei. Brina schrie. Torben zog sich noch näher zu ihr heran. Brinas Beine waren jetzt als Waffen gegen ihn nutzlos, da er fast auf ihr lag. Er krallte seine Hand in ihre Haare, riss ihren Kopf hoch und stieß ihr Gesicht mit aller Kraft ins Gras. Der weiche Boden ließ Brina nicht bewusstlos werden, sie war nur für einen Moment benommen. Zeit genug für Torben, sich über Brina zu knien und seinen Schwanz herauszuholen. Nelli starrte fassungslos auf das, was gerade geschah. Gerrit sagte zu Benny: „Los, halt sie gut fest.“ Von diesem Moment an bekam Nelli nicht mehr allzu viel davon mit, was mit ihrer Freundin geschah. Sie spürte Brinas Entsetzen und ihre Entschlossenheit, sich gegen alles zu wehren, was Torben mit ihr vorhatte, aber Bennys festem Griff konnte Nelli nichts entgegensetzen, sie konnte Brina nicht helfen, und so ließ sie es geschehen, selbst panisch, als Gerrit ihr Jeanshose und Slip unsanft herunterriss. Anschließend spürte sie seine Wurstfinger unter ihrem T-Shirt, und da sie keinen BH trug, weil sie keinen brauchte, kurz darauf auch an ihren Brustwarzen. „Da ist ja fast gar nichts“, keuchte er, fingerte aber weiter. Dann drückte Benny sie zu Boden zu Boden und hielt sie weiter fest, während Gerrit ihr die Schuhe von den Füßen riss und dann an ihrer Jeans zerrte, bis er sie ihr ganz ausgezogen hatte. Nelli sah Brina auf dem Rücken liegen. Sie schrie nicht mehr, weil Torben ihre Schreie mit einer würgenden Hand erstickte, während er sie vergewaltigte. Das war fast das Schlimmste. Brina zappelte und ihre Abwehrversuche beschränkten sich nur noch darauf, die Hand von ihrem Hals zu lösen. Mehr bekam Nelli nicht mit, da Gerrit sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf sie fallen ließ. Sein Schwanz war nichts als ein weiterer Wurstfinger, klein und dicklich und eklig. Nelli ließ Schweißgeruch und Alkoholatem über sich ergehen; sie verfiel in eine Art Totenstarre, und dann lag Benny auf ihr. Nachdem auch er sich grunzend in ihr ergossen hatte, rollte er von ihr herunter. Danach herrschte Stille. Nelli blieb eine Weile einfach reglos liegen und starrte – leer im Geiste - in den Himmel. Die Jungs zogen ihre Hosen wieder hoch, selbst fassungslos und sprachlos darüber, was sie getan hatten. Sie sammelten sich. Nach einem Moment fragte Gerrit hysterisch: „Scheiße, Mann, wie ist das passiert?“ Nellie setzte sich auf und sah die Jungs um Brina herumstehen.
„Sie ist draufgegangen, das ist passiert.“ Torben hörte sich fast trotzig an. „Wenn sie nicht so rumgeschrien hätte ...“
„Wenn, wenn, wenn! Das hilft uns jetzt auch nicht weiter.“ Benny.
„Du hast sie erwürgt, Mann! Wir sind im Arsch.“ Gerrit heulte fast. „Verrückte Scheiße! Du hast die Scheißschlampe kalt gemacht und deswegen sind wir jetzt alle im Arsch! Scheißkram!“ Er kickte mit dem Fuß auf den Boden, als wollte er beweisen, dass es tatsächlich Scheißkram war. Nelli zog sich – unbemerkt von den Jungs, sie war wieder Luft –, ihre Jeans an und stand auf. Brina lag mit glasigem Blick im Gras. Für sie konnte sie nichts mehr tun, auch wenn Nelli ihren Tod nicht akzeptieren wollte - es kann nicht sein, was nicht sein darf –, aber sie musste sich selbst in Sicherheit bringen.
„Nicht unbedingt“. Benny sah blass aus. „Nicht, wenn sie keiner findet.“ Die Blicke der Jungs richteten sich auf Nelli. Sie setzte zum Spurt an, versuchte Haken zu schlagen, musste an ihnen vorbei, um auf den Weg zu kommen. Fast wäre ihr das auch gelungen. Torben erwischte sie jedoch am Handgelenk, noch bevor sie zum Sprung über die Mauer ansetzen konnte. Ihr Schwung brachte sie beide zu Fall. Ehe Nelli sich aufrappeln konnte, drehte Torben ihr den Arm auf den Rücken und riss ihn hoch. Sie schrie auf. „Beide runter in den Keller!“, rief er. „Ihr nehmt die da!“ Er deutete mit dem Kopf auf Brina.
„Torb, wir sind keine ...“
... Mörder. Das Wort blieb Gerrit im Hals stecken.
„Macht schon, oder wollt ihr in den Knast?“ In Torbens Stimme schwang keine Mordlust mit, eher Bedauern. Er zog Nelli hoch und trieb sie vor sich her, ihren Arm auf dem Rücken, und er drückte ihn immer weiter hoch. Sie gingen auf die Kapelle zu. Torben zwang Nelli ins Kirchenschiff, und am Rand der Falltüren gab er ihr einen Stoß. Anstatt die Treppenstufen vielleicht noch kontrolliert hinunterzustolpern, geriet sie ins Fallen. Sie tat das Einzige, was ihr einfiel: Kopf auf die Brust, die Arme über dem Kopf verschränkt und die Beine angezogen rollte sie die Stufen eher hinunter. Trotzdem schlug sie sich schmerzhaft ihr rechtes Knie und die ganze rechte Seite an, sah zwar keine Sterne, war aber nicht weit davon entfernt, das Bewusstsein zu verlieren. Anschließend befand sie sich weitgehend in ihrer Traumwelt. Sie bekam kaum mit, wie Brinas Leiche auf sie plumpste, sie nahm nur unbewusst wahr, wie die Jungs die Falltüren schlossen und das Scharren von Stein auf Stein, als sie die schwere Platte wieder auf ihren Platz legten, hörte sie schon fast nicht mehr.
Dunkelheit. Eine allumfassende Schwärze umgab sie, Feuchtigkeit und der erdige Geruch des Bodens, auf dem sie lag. Nur das und ihr schmerzendes Knie riefen ihr ins Bewusstsein, wahrhaftig an diesem Ort zu sein, nicht mehr in ihrer Traumwelt, sondern in der Realität. Ihr Knie hatte es schlimm erwischt. Sie konnte das Gelenk kaum bewegen. Brinas Leiche lag auf ihr. Die Dunkelheit raubte ihr jedes Zeitgefühl. Wie lange war sie weg gewesen? Eine Stunde? Zwei? War es bereits Nacht? Es spielte ohnehin keine Rolle, da sie zur Untätigkeit verdammt war. Das hier war ein Grab, ihr Grab, und auch wenn sie noch nicht tot war, bald wäre sie es. Sie sah Torben, Benny und Gerrit vor sich, die die schwere Steinplatte über der Falltür zu dritt hochstemmen mussten. Nelli versank wieder in der Finsternis, in einen Zustand, der fast einer Bewusstlosigkeit gleichkam.
Als sie das nächste Mal zu sich kam, wurden ihr mehrere Dinge bewusst: Sie spürte die Feuchtigkeit des Bodens an Rücken und Hintern, sie spürte Brinas Gewicht auf sich und es herrschte keine vollkommene Dunkelheit mehr. Sie war nicht allein. Nelli spürte die Anwesenheit einer anderen Person so deutlich, als stünde sie ihr gegenüber. Balda. Sie kannte diesen Namen nicht, trotzdem beherrschte er jetzt ihre Gedanken und überlagerte sie wie Hintergrundrauschen. Und noch etwas war Gewissheit: Sie kommen wieder. Ein Gedanke wie von außen eingeflüstert. Sie mussten zurückkommen. Torben und die Jungs konnten es sich gar nicht leisten, sie am Leben zu lassen. Nur Torbens Skrupel hatten ihn davon abgehalten, sie gleich im Vorhof der Kapelle umzubringen. Brinas Tod war gewissermaßen ein Unfall gewesen – aus Torbens Sicht -, aber es war etwas völlig anderes, jemanden vorsätzlich zu ermorden. Trotzdem zweifelte Nelli nicht daran. Sie kommen wieder. Immerhin könnte sie lebend gefunden werden. Dieses Risiko ging Torben nicht ein. Die Kiddies am See. Sie hatten sie gesehen. Wer weiß, wer sonst noch? Bestimmt einige Leute aus dem Dorf. Vielleicht suchte man bereits nach ihr und Brina. Ihre Chance, gefunden zu werden, stand gar nicht so schlecht.
Du musst es selbst tun. Die Stimme musste aus ihrem Inneren kommen, sie konnte nicht von außerhalb kommen, und das war die Wahrheit. Du musst es selbst tun. Wie ein Echo hallte die Stimme in ihrem Kopf wider. Nelli kam sich vor wie in einem Stephen King Roman, in dem die Figuren mit sich selbst redeten. Da war dieses Licht, wo immer es auch herkam. Ein Luftschacht? Ein weiterer Aufgang? Eine Möglichkeit, sich zu befreien? Demnach musste es noch – oder schon wieder – Tag sein. Sie konnte schemenhaft die unteren Stufen der Treppe erkennen, die in ein dunkles Nichts hinaufführten. Links von ihr befand sich eine Mauer, die sich nach etwa eineinhalb Metern in der Schwärze verlor. Das schwache Licht kam von rechts, aus der Krypta, nur blieb ihr die Sicht in diese Richtung versperrt, weil Brina auf ihr lag. Du musst dich beeilen. Wieder diese Stimme. Wenn dies ein Traum war, dann ein ziemlich realer. Ihr Knie schmerzte so stark; sie glaubte nicht, ihr Bein belasten zu können. Dennoch: Sie konnte hier liegen bleiben und auf den Tod warten oder sie konnte irgendetwas tun. Brina lebte nicht mehr; sie nahm ihr keine Entscheidung mehr ab. Gott hilft denen, die sich selbst helfen. Nichts weiter als eine Phrase, weil es keinen Gott gab. Soweit es Nelli betraf, war dieser ganze Kirchenquatsch Unfug, der Spruch nichts weiter als eine Metapher. Ich kann dir helfen, wenn du dir selbst hilfst. Ich kann es nicht alleine tun. Die Stimme in ihrem Kopf hallte nach, und Nelli begann, sie zu akzeptieren. Es ergab keinen Sinn, weil es keinen Gott gab, und wenn es keinen Gott gab, dann konnte es auch keine Geister geben. Dieser ganze Mist stammte aus der Bibel, die mit den Dämonen und Geistern überhaupt erst angefangen hatte, aber trotzdem glaubte sie der Stimme ...
Der Glaube war in einer anderen Zeit entstanden, einer Zeit, in der die Menschen und die Technologien noch nicht so weit entwickelt gewesen waren, in der die Menschen noch geglaubt hatten, die Erde wäre eine Scheibe. Kurz gesagt, in einer Zeit, in der die Menschen bereit gewesen waren, alles zu glauben, was ihnen ein sogenannter Gelehrter erzählte. Oder ein Priester. Ich kann es nicht alleine tun. Du musst dich beeilen. Drängender. Balda. „Nein, Sir, mit mir nicht, Sir“, krächzte Nelli in die kalte Stille, und ihre Stimme hörte sich seltsam schwach an. Es war überhaupt kein Sir, sondern eine Lady, die mit ihr sprach (auch das traf es nicht ganz), Kopfstimme oder Stephen King Stimme hin oder her, was sie tat, war eine kindliche Verweigerungshaltung. Ich seh dich nicht, also siehst du mich auch nicht, wer oder was auch immer du bist. Dann zieh dich selbst aus der Scheiße. Diesmal keine Geisterstimme, ihre eigene Stimme, die Nelli an Nelli Version, ihre eigene Stephen King Variante, die zu ihr sprach. Zieh dich selbst aus der Scheiße. Das klang gewissermaßen vernünftig, auch wenn sie nicht wusste, wie sie das anstellen sollte.
Brinas Körper lag halb auf ihr. Nelli hatte nach dem Sturz Brinas Handgelenk gesucht und umklammerte es noch, aber einen Puls gab es nicht mehr. Sie war auf sich allein gestellt. Mit ihrem verletzten Knie konnte sie nicht laufen - höchstens humpeln. Die Treppe bot ohnehin keinen Ausweg. Die Steinplatte versperrte die Falltüren. Trotzdem musste sie sich zunächst einmal von Brinas Leichnam befreien, und sei es auch nur, um zu ergründen, wo dieses Licht herkam. Nelli glaubte nicht an einen zweiten Aufgang, unwahrscheinlich, zwei Treppen in so einer kleinen Kapelle, die in die Krypta führten, aber ein kleines bisschen Hoffnung war immerhin besser, als untätig liegen zu bleiben. Trotzdem blieb sie noch eine Weile regungslos; ihre Ängste und die Beklemmung, die sie hier unten verspürte, lähmten sie. Diese Scheißangst, die sie ihr ganzes bisheriges Leben begleitet und die aus ihr dieses in sich gekehrte, entschlusslose und stille Mäuschen ohne wirkliches Selbstwertgefühl gemacht hatte. Ihr Innerstes bestand aus tausend Ängsten: Angst vor dem Versagen, Angst vor Enttäuschungen, Angst vor Zurückweisungen, Angst davor, Entscheidungen zu treffen, Angst davor, dass etwas misslang. All diese Ängste führten immer nur zur Passivität. Ich würde vorziehen, es nicht zu tun. Wieder eine Stimme, aber auch diese kam nur von ihr selbst. Das Leben selbst führte zu ihrer Angst vor dem Leben. Ängste führten dazu, etwas nicht tun zu wollen. Und jetzt wollte sie ihre vielleicht einzige Chance, hier lebend herauszukommen vertun? Sie fand sie nicht einmal den Mut, diesen kleinen Schritt zu tun und Brina von sich herunterzurollen, um sich freie Sicht in das Innere der Krypta zu verschaffen und herauszufinden, woher dieses Licht kam? Weil sie Angst vor irgendetwas empfand, das mit ihr hier unten war? Lieber wollte sie sterben? Das war absurd; sie glaubte nicht an Gott und Geister, es musste eine Erklärung für dieses Licht geben. Aber was ist, wenn die Geister an mich glauben? Tränen der Verzweiflung stiegen Nelli in die Augen. Die Frage war so alt wie die Zeit: Was ist, wenn Gott an mich glaubt? Nelli wollte diesen ganzen Mist nicht hören. Brina hätte in dieser Situation nicht einen Augenblick gezögert. Jetzt musste sie, Nelli, nur ein einziges Mal wie Brina sein, zumindest ein bisschen, anstatt sich wie ein kleines Kind, das sich vor lauter Angst die Bettdecke über den Kopf zieht, hinter ihrer toten Freundin zu verstecken. Da gab es noch etwas, das Nelli spürte: Nicht nur die Anwesenheit von irgendjemanden, - Balda, die Lady, die keine Lady war, die ein verdammter Geist war, obwohl es gar keine Geister gab -, sondern Wut. Unbändige Wut. Was ist, wenn ich an dich glaube? Dieses Gefühl von Wut kam nicht aus ihr selbst, auch wenn sie selbst Wut und Trauer empfand, es war viel stärker und kam von außen. Ich kann ihn totmachen. Die Tat muss gesühnt werden. Der Gedanke traf Nelli wie ein Blitz. Sie musste sich nicht fragen, wer gemeint war. Wenn Torben besiegt war, stellten Benny und Gerrit keine Gefahr mehr dar. Weil sie nur Weicheier waren, Mitläufer. Weil sie einknicken würden. „Wie?“, fragte Nelli die Stille. Sie erhielt keine Antwort. Wenn es hier eine Balda gab, dann schwieg sie.
Nelli zögerte noch einen Augenblick und atmete tief durch. Sie wollte immer noch nicht; sie musste sich dazu zwingen. Was konnte schlimmstenfalls passieren? Enttäuschung? Verlöre sie den Verstand, wenn das Licht lediglich durch einen kleinen Luftschacht hereinfiel? Weil ihre letzte Hoffnung auf einen Ausweg dann zerschlagen wäre? Sie wäre im Grunde nicht schlechter dran als jetzt, mit dem einzigen Unterschied, als Wahnsinnige zu sterben. Außerdem hätte sie dann wenigstens alles versucht. Also nahm sie ihren ganzen Mut zusammen – das bisschen, das sie besaß – und ließ Brinas Handgelenk los. Sie schob ihr die Hände unter die Schultern. Das Problem bestand darin, Brina auf ihre linke Seite rollen zu müssen, was bedeutete, sie musste ihr rechtes Bein am Boden abstützen und damit das schmerzende Knie belasten. Nelli bereitete sich innerlich darauf vor und beugte es vorsichtig. Sie schrie auf. Es tat höllisch weh, obwohl sie das Knie nur beugte. Ihren Plan, sich zusammen mit Brina nach links herumzuwälzen, konnte sie getrost vergessen. Es musste mit den Armen gehen. Sie schaffte es, ihre Freundin ein wenig hochzustemmen und ihren Oberkörper nach links hinüber zu schieben. Da ihre Köpfe sich bei diesem Vorhaben gegenseitig im Weg waren, musste Nelli ihren nach links drehen und flach auf den Boden pressen. Sie machte eine Verschnaufpause. Sie musste Brina dieses Mal ein wenig höher stemmen, damit Brinas Kopf über ihren eigenen hinwegrutschte. Nelli machte einen neuen Anlauf. Ihr rechter Arm und ihre Schulter schmerzten, ließen sich jedoch bewegen, auch wenn sie nicht ganz so belastbar waren wie ihr linker Arm. Sie biss die Zähne zusammen und stemmte Brina mit aller Kraft nach oben und schob. Brinas Kopf stieß gegen ihren, drehte sich aber nicht wie erhofft zur Seite. Die Leichenstarre musste also zumindest schon zum Teil eingetreten sein. Trotzdem gelang es Nelli, Brina zu bewegen – ihr Kopf lag jetzt auf ihrem eigenem -,bis plötzlich ein heftiger Schmerz ihr rechtes Bein durchzuckte, als Brinas Bein dagegen stieß. Erschöpft und mit Tränen in den Augen – diesmal vor Schmerz – lockerte Nelli ihren Griff. Sie schob nicht nur Brinas Oberkörper von sich weg, sondern drehte ihren ganzen Körper. So ging es also nicht. Anstatt irgendetwas an Ihrer Lage zu verbessern, hatte sie alles nur schlimmer gemacht. Das Gewicht von Brinas Kopf lag jetzt auf ihrem und presste ihn zu Boden. Sie konnte nur noch an die Wand starren. Nelli dachte nach. Ihre Arme und Hände sowie ihr linkes Bein waren frei. Das rechte nutzlose Bein war ebenfalls frei. Wenn sie Brina nicht auf ihre linke Seite bringen konnte, dann blieb ihr nichts anderes übrig, als sich nach rechts zu rollen. Die Schmerzen wären sicher unerträglich, da ihre rechte Seite dabei von ihrem eigenen Körpergewicht belastet würde, aber eine andere Möglichkeit gab es nicht. Brinas Arme lagen an ihrem Körper an. Zunächst musste sie ihr rechtes Bein wieder ausstrecken, was sie in Zeitlupe tat. Auf diese Weise blieben die Schmerzen einigermaßen erträglich. Als das geschafft war, wappnete sie sich erneut. Nelli wollte eine volle seitliche Rolle machen, und zwar mit Schwung. Es musste schnell gehen. Lieber einmal kurz heftige Schmerzen als lang anhaltende Qualen beim Versuch, es behutsam anzugehen. Wenn es schief ging und sie schlimmstenfalls nur eine Vierteldrehung schaffte käme sie auf ihrer rechten Seite zu liegen mit einem eingeklemmten rechten Arm unter Brinas Körper. Sie könnte wieder bewusstlos werden. Das Risiko musste sie eingehen. Nelli winkelte ihr linkes Bein an und stützte den Fuß auf den Boden. Mit dem linken Arm machte sie es genauso. Der Boden unter ihrer Handfläche fühlte sich nicht nur feucht, sondern auch glitschig an. Lehm. Ein weiterer Faktor, warum ihr Versuch scheitern könnte. Trotzdem. Sie hatte keine andere Wahl. Nelli atmete ein paar Mal tief durch, dann stemmte sie sich mit aller Kraft ab. Ihre Hand rutschte tatsächlich etwas zur Seite, dennoch reichte der Schwung aus, sie rollte sich herum, lag eine Sekunde lang auf Brina, löste sich von ihrem Körper und kam auf der anderen Seite mit dem Rücken auf dem Boden zum Liegen. Die Schmerzen waren brutal. Nelli versank wieder in der Dunkelheit.
Zwischen Traum und Wirklichkeit besteht oft nur eine dünne Trennlinie. In Träumen verarbeiten wir, was wir im Wachzustand erlebt haben, der Verstand setzt das Erlebte in einer anderen und oft erschreckend wirren Reihenfolge wieder zusammen. Besonders erschreckend empfand Nelli diese – wie sie es nannte – Fast-wach-Träume, Träume, in denen einem bewusst ist zu träumen, in denen man den Sprung zum Wachsein aber nicht schafft. In solchen Träumen ist die Trennlinie nur hauchdünn, man kann kaum unterscheiden, was Traum und was Realität ist. Und man führt nie Regie. Niemals. Nelli befand sich in zwei Welten gleichzeitig. Ein Teil von ihr sah die Kapelle so, wie sie einst gewesen war, überhaupt nicht bedrohlich, sondern erhaben. Dieser Teil von ihr sah die Nonnen des Benediktinerordens, die im Kräutergarten arbeiteten und die Pferdekutschen der Bauern, die Milch und Lebensmittel anlieferten. Ein anderer Teil von Nelli lehnte mit dem Rücken an der Wand, neben der Treppe auf dem Boden sitzend – ha ha, wie könnte man mit einem so schlimmen Knie auch stehen? – und ihr Blick war in die Krypta gerichtet. Schmucklose Säulen trugen die Decke und am Ende des Raumes befand sich ein schlichter steinerner Altar. Die Quelle des Lichts kam aus der linken hinteren Ecke – es schien aus dem Nichts zu kommen – und davor, vollkommen schwarz und unbestimmt, da das Licht sie von hinten beleuchtete, stand eine Gestalt. Nelli erkannte das Nonnengewand, das diese Gestalt einhüllte, und obwohl sie nichts als ein schwarzer Umriss war, wusste Nelli, dass es Balda war. Nicht Balda, die Lady, sondern Balda, die Nonne. Balda, die hier seit dem 16.Jahrhundert in der Krypta gefangen war, eingemauert, weil man sie beschuldigt hatte, das Gelübde der Keuschheit gebrochen zu haben, was natürlich nicht stimmte. Nelli wusste nicht, woher sie das wusste, in dieser Art von Träumen weiß man Dinge einfach, und sie führte selbst nicht Regie. Balda war vergewaltigt worden, nur hatten zu jener Zeit Männer nie die Schuld. Wenn eine Frau vergewaltigt wurde, trug sie die Schuld, weil sie den Mann verführt hatte. Und wenn die Frau eine Nonne war, wurde sie lebendig in der Krypta eingemauert. Auch das wusste Nelli einfach, genauso, wie sie wusste, Balda – auch wenn Nelli ihre Wut spürte, sie war fast körperlich da – wollte ihr nichts tun, Geister können schließlich auch niemandem etwas tun, aber sie konnten sehr wohl jemanden dazu bringen, etwas zu tun.
Das Licht, das Balda umgab, schien aus ihr zu kommen, es waberte wie Nebel, und jetzt erstreckte es sich nicht mehr nur auf ihre Person, es breitete sich aus und hüllte auch den Altar ein. Ein Gegenstand befand sich darauf. Eine Figur. Nelli hätte schwören können, noch vor einer Minute war diese Figur nicht dort gewesen. Jetzt stand sie dort, und etwas in ihr sagte, sie brauchte diese Figur unbedingt. Etwas in ihr fragte sich, wie sie jemals ohne sie ausgekommen war. Ich würde vorziehen, das nicht zu tun. Das war natürlich Bartleby, der aus ihr sprach, eine Geschichte, die sie in der Schule behandelt hatten. Bartleby, der es vorzog, alle möglichen Dinge nicht zu tun. Nelli hatte die Geschichte nie ganz verstanden. Jetzt verstand Nelli, dass sie vorzog, es doch zu tun, und sei es, wenn sie ihre Seele dafür dem Teufel verkaufte. Bartleby konnte machen was er wollte. Er war nur eine Figur in einem Roman, auch nur ein Geist. Bartleby hatte vorgezogen, es nicht zu tun, er hatte sogar vorgezogen, den Tod zu wählen, anstatt irgendetwas zu tun, aber sie, Nelli, entschied sich anders.
Ihre einzige Möglichkeit war, sich rückwärts durch den Hauptgang an den Altar heranzurobben, und genauso machte sie es. Sie stützte sich mit den Händen ab, benutzte ihr gesundes Bein und zog das unbrauchbare rechte hinter sich her. Dazu musste sie Balda den Rücken zukehren, was ihr nicht behagte, da sie nicht nur Wut, sondern auch Ungeduld spürte. Die Wut galt nicht ihr, die Ungeduld galt ihr, und genau diese Ungeduld könnte sie wie eine Lanze treffen. Dir bleibt kaum noch Zeit. Wie zur Bestätigung hörte Nelli wieder das Scharren von Stein auf Stein, als die Jungs die Platte erneut hochstemmten. Nelli robbte sich bis zum Altar vor und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sie griff nach hinten. Das Einzige, was sie zu fassen bekam, war die Kante des Altars. Sie musste ihre Position so verändern, dass sie seitlich zum Altar saß, damit sie beide Hände benutzen konnte, um sich hochzuziehen. Sie tat es und verlor dabei wertvolle Zeit. Nelli hatte sich fast hochgestemmt, als der Strahl einer starken Taschenlampe hin und her schwang wie der Schwanz einer Katze. Jemand stieg die Stufen herunter. Jetzt sah Nelli die Figur, schwarz und glänzend, etwa dreißig Zentimeter hoch und, wie es aussah, aus Porzellan. Sie stellte eine Madonna dar, Balda nicht unähnlich, und das Leuchten ging auf Nelli über, als sie die Figur ergriff. Die Schmerzen in ihrem Bein hörten fast schlagartig auf. Nelli war nicht nur gesund, sie war nicht nur fit, jetzt war sie der Geist. Draußen fing die Glocke an zu läuten. Eine Geisterglocke, da die echte auf dem Grund des Sees lag. Nelli kam sich mehr denn je wie in einem Traum vor: Torben stand in der Krypta, der Strahl seiner Taschenlampe blendete sie, aber wer außer Torben sollte es sonst sein, auch das wusste sie, und sie stürmte auf ihn zu, sie rannte, die Schmerzen in ihrem Knie spürte sie nicht mehr, und als sie mit der Figur in der Hand zum Schlag ausholte, kam es ihr so vor, als führte jemand anderes ihre Hand. Sie traf Torben hart an der Schläfe. Er sackte zusammen, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben. Ich kann ihn totmachen. Nelli rannte davon. Dieser Teil war nicht mehr traumähnlich, er kam ihr in ihrer Erinnerung real vor. Sie hielt die Figur umklammert und hastete die Treppenstufen hinauf, während die Glocke immer noch dröhnend schlug. Von Benny und Gerrit war nichts mehr zu sehen. Sie hatten sich wahrscheinlich aus dem Staub gemacht, als dieser ganze Spuk angefangen hatte. Es war Vollmond – was sollte es in so einer Nacht auch sonst sein? – und das Kirchenschiff wirkte wie eine hell erleuchtete Theaterbühne. Nur war Nellis Auftritt hier beendet, es gab nichts mehr, was sie tun musste. Sie rannte über den Vorhof der Kapelle, auf den Weg, und sie machte ihre erste Verschnaufpause, als sie am See angekommen war. Der Mond schien immer noch hell und sie konnte das Läuten der Glocke hören, aber die Kraft, die durch Balda auf die Madonnenfigur übertragen worden war, existierte nicht mehr. Es war jetzt nur noch eine Porzellanfigur, eine unzerbrechliche, wie sich herausgestellt hatte, aber nur noch eine Figur. Trotzdem entschied sich Nelli, sie zu behalten. Sie ging weiter und begegnete keinem Menschen, bis sie im Dorf und bei ihrem Elternhaus angekommen war. Die schwarze Madonna versteckte sie hinter einem Schuppen im Garten, dort, wo die Holzscheite für den Kamin lagen, und ging ins Haus. Im Wohnzimmer brannten noch die Lichter und ihre Eltern waren außer sich vor Sorge, als sie Nelli sahen, verdreckt und zerschunden, aber am Leben.
Das Gute daran, wenn die Polizei einem glaubte, dass man unter Schock gestanden hatte, war, man konnte einfach behaupten, man könne sich nicht genau erinnern. Torben war tot. Was das betraf, Nelli hatte ihn mit einem harten Gegenstand geschlagen, den sie in der Krypta gefunden hatte. Was das genau für ein Gegenstand gewesen war, wusste sie nicht mehr, es war ja dunkel gewesen, und sie hatte das Ding irgendwo auf ihrer Flucht durch den Wald verloren. Gerrit hatte sich noch in derselben Nacht im Heizungskeller seines Elternhauses erhängt. Von Benny fehlte jede Spur. Die Polizei ermittelte, aber solche Ermittlungen dauern.
Inzwischen war es Dezember, Nelli saß an ihrem Schreibtisch und blickte auf die Schneeflocken, die draußen vor dem Fenster tanzten. Der Cursor im Word Programm auf dem Bildschirm blinkte hinter ihren geschriebenen Zeilen. Fast hätte sie es wie Bartleby gehalten und vorgezogen, die Geschichte nicht aufzuschreiben, nur waren die Zeiten, etwas nicht zu tun, vorbei. Sie hatte es getan, nur für sich und Brina. Derzeit zog sie vor, einige Dinge doch zu tun. Wegen der schwarzen Madonna hätte sie sich keine Gedanken machen müssen. Nelli hatte die Figur ins Haus geholt, nachdem sich die Aufregung gelegt hatte. So wie es aussah, bemerkte sie niemand. Sie stand jetzt neben dem Monitor auf dem Schreibtisch. Es war, als könnten andere sie gar nicht sehen, aber manchmal, im Dunkeln, umgab sie wieder dieses Leuchten aus jener Nacht.