Die Schuhe sind an allem Schuld
Die Schuhe sind an allem Schuld
"Die Welt wird untergehen, weil du dir nicht die Schuhe zubinden wolltest?"
Sealiah lachte. Aber als sie merkte, wie irritiert alle sie anblickten, wurde sie wieder ernst.
"Also, es ist schon noch ein wenig komplizierter.", sagte sie, innerlich noch immer schmunzelnd.
"Gut, ja, aber im Grunde genommen läuft es darauf hinaus, oder?" Evan blickte Sealiah fragend an. "Du bist so eine Art Engel oder so was, aber dir wurde das da oben im Himmel zu doof, weil deine Mutter ständig gemeckert hat. Dann bist du abgehauen, sie hat dich verbannt und jetzt steht die Welt kurz vor dem Untergang."
Evan sah beifallheischend in die Runde. "Sagt mal, bin ich der Einzige hier, dem das total bescheuert vor-kommt?"
"Evan!" Der Ausruf kam von Thomas. Er sah Evan wütend an. "Meinst du nicht, dass wir weitaus Wichtigeres zu tun haben, als darüber zu diskutieren, ob Seli etwas falsch gemacht hat oder nicht?" sagte er in scharfem Ton.
Als Evan sich anschickte, darauf ebenso scharf zu antworten, griff Nicole ein.
"Wie wär's, wenn wir einfach noch mal durchgehen, was wir zu tun haben und uns dann hinlegen? Wir alle sind erschöpft und morgen wird ein langer Tag." sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
"Oh ja, wir retten die Welt!" Evans sarkastischer Einwurf brachte ihm ein Stirnrunzeln von Nicole und genervte Blicke von den anderen ein.
"Schon gut, schon gut", lenkte er ein, "Ich wollte ja nur das Ganze ein wenig auflockern. Ich meine, irgendwie ist es doch wirklich ironisch oder nicht? Die Welt geht unter wegen ein Paar Schuhen!"
Diesmal antwortete ihm nur noch ein kollektives Stöhnen.
Irgendwie hatten sie es geschafft, tatsächlich den ganzen Plan noch einmal zu besprechen und dabei sogar Evans ätzende Kommentare zu überleben. Jetzt lagen sie alle schon lange in ihren Betten und schliefen, oder zumindest versuchten sie es.
Sealiah fragte sich, wie überhaupt jemand von ihnen schlafen konnte. Doch die anderen hatten ja keine Ahnung, was wirklich auf dem Spiel stand. Der Untergang der Welt, für diese halben Kinder war das Ganze nur ein großes, aufregendes Abenteuer, etwas, dass sie sich nicht einmal annähernd vorstellen konnten.
Wieder machte sie sich Vorwürfe, weil ihr keine andere Wahl geblieben war, als Menschen um Hilfe zu bitten.
Wenn sie morgen sterben würden, wäre es ihre Schuld. Schon wieder ihre Schuld.
Leise drehte sie sich um, sie wollte Thomas nicht aufwecken. Im fahlen Mondlicht betrachtete sie sein schönes Gesicht. Sie liebte ihn mehr als alles andere, doch sie wusste, dass ihre Liebe keine Zukunft hatte.
Und alles nur, weil sie mit Zwölf einen Fehler gemacht und ihre Familie verlassen hatte, um hierher zu kommen, zu den Menschen.
Sie hatte damals nicht über die Konsequenzen nachgedacht, hatte nichts verstanden vom Gleichgewicht der Kräfte und davon, dass ihre Familie seit Jahrtausenden für die Einhaltung dieses Gleichgewichtes sorgte. Sie war geblendet gewesen von dem angeblich so freien Leben, das die Menschen führten.
Und so war sie einfach fortgelaufen.
Damit hatte sie ihrer Mutter das Herz gebrochen und sie dazu gebracht, ihre eigene Tochter aus der Familie auszuschließen und mit der schlimmsten Strafe zu belegen, die Ihrereins sich vorstellen konnte: Der Verbannung aus ihrer Dimension.
Sealiah war sicher, dass ihre Mutter niemals vorgehabt hatte, an dieser Verbannung festzuhalten, doch jetzt war es zu spät. Das Schlimmste, das, woran keiner tatsächlich zu denken gewagt hatte, war eingetreten.
Zehn Jahre lang hatten Mutter und Tochter den Hass in ihrem Herzen getragen, waren zu stolz gewesen, einander zu vergeben und hatten nicht bemerkt, wie die Dunklen immer stärker wurden, sich formierten und schließlich zum Schlag ausholten.
Ihr erstes Opfer war Laoviah gewesen. Vor einer Woche war sie ermordet worden. Sealiah hatte ihrer Mutter nicht einmal mehr sagen können, wie sehr sie sie trotz allem liebte.
Und nun war die Linie der Hüterinnen durchbrochen. Sealiah besaß zwar jetzt die Mächte der Hüterin, doch durch ihre Verbannung konnte sie diese nicht einsetzen und so ihr Schicksal nicht erfüllen.
Bereits jetzt begann das Gleichgewicht der Kräfte zu schwanken, die Dunklen gewannen von Tag zu Tag an Macht. Bald würde die Welt im Chaos versinken.
Das durfte nicht geschehen.
Sealiah hatte die Menschen, denen sie am meisten vertraute, um sich versammelt, um einen Durchgang in ihre Dimension zu schaffen. Sie selber konnte nicht wieder zurück, doch sie würde ihre Schwester herüberholen können. Dann würde sie ihre Mächte an Avianah weitergeben – und sterben.
Das war die einzige Möglichkeit, das Gleichgewicht wiederherzustellen und die Welt zu retten.
Sealiah fürchtete den Tod nicht, doch sie war traurig, dass sie Thomas verlassen musste. Sie hatte weder ihm noch den anderen davon erzählt, dass sie sterben musste, weil sie fürchtete, von ihnen aufgehalten zu werden. Sie würden es nicht verstehen, doch Sealiah wusste, es gab keinen anderen Weg.
Plötzlich fiel ihr Evans Kommentar wieder ein und fast hätte sie gelacht. Irgendwie hatte er ja sogar recht: Sie hatte sich damals als Kind nicht die Schuhe zubinden wollen, und jetzt würde sie deswegen sterben.
Offenbar besaß das Universum Sinn für Ironie.