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Die Schreibmaschine
Die Morgensonne blendete Marc, als er sich auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle Viadukt machte. Kastanien säumten den kurvigen Abstieg. Er konzentrierte sich darauf, nicht auf den nassen Blättern unter seinen Füßen auszurutschen. Als er die Brücke erreichte, schob sich eine Wolke vor die herbstliche Sonne und seine Gedanken schlugen einen dunklen Pfad ein, hin zu jenem Ort, an dem er arbeitete und zu dem er gerade unterwegs war.
Plötzlich hielt Marc inne. Sein Blick fiel auf eine Szene des Grauens.
Eine Gruppe von vier Männern attackierte einen anderen jungen Mann. Marc wusste, dass er noch nicht zu sehen war, da ihn die Bäume verdeckten. Die Angreifer hatten Messer in den Händen und stachen auf ihr Opfer ein. Er löste sich aus seiner Erstarrung, lief. Dann sah er die Gestalt auf der Plattform liegen. Blut sickerte aus den Stichwunden.
Die Männer rannten die Treppe hinauf. Einer von ihnen drehte jedoch den Kopf und blieb stehen, als er sah, dass sich ihr Opfer trotz der schweren Verletzungen aufgerichtet und über eine Bank gebeugt hatte. Es schien, als könne der Angreifer nicht fassen, wieso der junge Mann nach einer so heftigen Attacke aufstehen konnte. Für einen Moment erfüllte Bedauern, gemischt mit Bewunderung für die Stärke des jungen Mannes, seine Miene. Dann wendete er sich ab, um mit den anderen zu fliehen.
Der Himmel war inzwischen dunkel geworden. Marc versteckte sich im Unterholz und wartete, bis die Männer außer Sichtweite waren. Er kletterte zurück und lief zu dem Verletzten. Der Mann lag nun auf dem Bahnsteig. Marc kniete sich neben ihn und als seine Hand zum Hals wanderte, um den Puls zu suchen, fühlte es sich an, als würde er eine unsichtbare Barriere überschreiten. Marcs Finger zitterten, als sie die Haut berührten. Kein Puls. Die ersten Regentropfen fielen, peitschten herab und wo sie auf die Wunden trafen, spritzte das Blut auf Marcs Kleidung und den Bahnsteig. Es kam ihm vor, als würde eine verrückte Schreibmaschine seine Geschichte mit blutroter Tinte auf den nassen Beton hämmern.
Auf der angrenzenden Straße rasten die Autos vorbei. Die Fahrer nahmen ihn und den Mann gar nicht wahr. Alle mussten zur Arbeit. Marc kramte in der Jackentasche nach dem Handy und als er den Notdienst anrief, hämmerte sein Herz laut. Er beschrieb, was er gesehen hatte, dann blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten. Er wusste, er würde zu spät zur Arbeit kommen, aber das war ihm egal. Allerdings fühlte es sich seltsam an, neben einem Leichnam im Regen zu stehen, dessen Augen weit aufgerissen ins Leere starrten.
Marc war bereits total durchnässt, als das Martinshorn des Streifenwagens erklang. Dann sah er das Blaulicht. Das Polizeiauto hielt, ein Polizist sprang auf der Beifahrerseite heraus und hielt die Winkerkelle hoch. Erst als der Verkehr zum Stillstand gekommen war, stieg der Fahrer aus, rannte über die Straße und machte einen Satz über das Geländer. Er fragte, was passiert sei, und Marc zeigte in Richtung der Leiche. Der Polizist schaute verwirrt. Und als Marc nach unten sah, war da niemand. Nicht einmal Blut! Der Beamte fragte, was um Himmels willen hier los sei? Marc blieb keine Wahl, als zu berichten, was er gesehen hatte. Dann bat der Polizist um eine Beschreibung des Opfers. Marc beschrieb den Mann, so gut er konnte, während er die Hände in den Taschen vergrub. Die Weichheit des Sandwiches, das er hineingestopft hatte, bevor er das Haus verließ, beruhigte ihn. Daraufhin wollte der Polizist wissen, wie die Täter aussahen, aber Marc erinnerte sich nur an einen. Der Polizist hörte sich alles geduldig an und legte die Stirn in Falten.
Dann wies er daraufhin, dass Marc keinen anderen als sich selbst beschreiben würde. Marc war kreidebleich und zitterte. Der Beamte ließ sich den Ausweis zeigen und nahm die Personalien auf. Er schien Mitleid zu haben, beließ es bei einer Verwarnung und riet Marc, so schnell wie möglich einen Arzt aufzusuchen. Im nächsten Augenblick war er verschwunden, und der Winkerkelle-Mann knallte die Tür des Polizeiautos mit großer Wucht zu. Der Streifenwagen raste in den Morgenverkehr, die Straßenbahn kam und Marc stieg mechanisch ein.
Als Marc an seinem Arbeitsplatz ankam, hängte er die durchnässte Jacke an die Rückenlehne seines Stuhls, streifte das Headset über die triefnassen Haare und meldete sich im System an. Er konzentrierte sich auf seine Arbeit, um die Ziele für den Jahresbonus zu erreichen. Die Direktionsassistentin trat an den Schreibtisch. Sie trug einen Hut, der wie ein Korb geformt war und in dem sich Obst befand. Er starrte die Frau an und dachte sofort an die Geschichte vom Mädchenturm am Bosporus (1), und versuchte, zwischen den Früchten eine Schlange zu entdecken.
„Sie sind zu spät“, sagte sie ärgerlich. Mit einem roten Filzstift trug sie seine Initialen in eine Tabelle ein. Danach verschwand sie.
Kurz vor der Mittagspause erschien der Abteilungsleiter und bat Marc in sein Büro. Sein Chef trug einen Feuerwehrhelm. Marc kam in den Sinn, dass das Motto des Tages wohl war: Trage einen lustigen Hut!, aber auf solche Albernheiten hatte er keinen Bock. Marc betrat den kargen Raum. In einer Ecke stand eine kümmerliche Grünpflanze, die offensichtlich nach draußen wachsen wollte. Dann kündigte sein Chef an, dass die Direktionsassistentin ein Protokoll des Gespräches anfertigen würde. Sofort begann die Frau mit der Schlange auf dem Kopf zu tippen. Der Abteilungsleiter blätterte in Marks Akte, als würde er sie zum ersten Mal sehen, anschließend warf er sie auf den Tisch. Er sagte: „Du hast die Ziele nicht erreicht, also hast du auch keinen Anspruch auf den Bonus.“
Es war schlimm, keinen Bonus zu bekommen, aber noch schlimmer war, das aus dem Munde eines Mannes zu hören, der eine lächerliche Kopfbedeckung trug. Die Schreibmaschine in Marcs Rücken hörte sich wie Peitschenhiebe an. Normalerweise hätte Marc sich gewehrt, aber da er sich von der morgendlichen Begegnung wie betäubt fühlte, nahm er die Entscheidung passiv hin. Er versprach, seine Leistungen zu verbessern. Die Worte schienen aus dem Innern der Seele zu kommen, denn sie waren klar und folgten einer sanften Melodie, die im Gegensatz zu dem Hämmern der Schreibmaschine stand. Das nahm dem Manager den Wind aus den Segeln, der offensichtlich auf eine verbale Auseinandersetzung gefasst war. Das Tippen kam abrupt zum Stillstand. Marc stand auf. Als er die Türklinke ergriff, warf er noch einen Blick auf den Abteilungsleiter, der ihn nun mit Ehrfurcht ansah. Er spiegelte den Angreifer wider, den Marc an diesem Morgen beobachtet hatte, als er sich umdrehte, um sein Opfer aufstehen zu sehen.
Marc machte sich auf den Weg in die Küche, um sich ein heißes Getränk zu holen und das durchnässte Sandwich zu essen.
(1)
Der türkische Name “Kız Kulesi” bedeutet “Mädchenturm” und erinnert an eine traurige Sage. Danach hatte ein Seher vorausgesagt, das die Lieblingstochter des Sultans vor ihrem 18. Geburtstag von einer Schlange gebissen und sterben werde. Um dies zu verhindern, liess der Sultan die Prinzessin in dem Turm unterbringen. Niemand ausser ihrem Vater durfte sie besuchen. Als der Sultan ihr an ihrem 18. Geburtstag einen Korb mit exotischen Früchten brachte, kroch eine Schlange heraus und tötete die Prinzessin.
- Quellenangaben
- http://anatolienmagazin.de/kiz-kulesi/
Das Text wurde nachgearbeitet