Die schreckliche Ewigkeit
Die Uhr tickte unaufhörlich und mein Atem klang in meinen Ohren wie das donnernde Krachen und das polternde Rumpeln eines in sich zusammenfallenden Gebäudes. So leise war dieser eine Augenblick der vollkommenen Ruhe und der dröhnenden Stille.
Die Decke war weiß wie der Neuschnee auf den Jahrtausende alten Gletschern des Hymallajas und ein Ventilator routierte in endlosen Kreisen über meinem Kopf wie der Mond, der in ewigen Bahnen immer wieder die Erde umrundet.
Der alte, von den bereits gelebten Jahren gezeichnete, Mann mit der karierten Hose, dem gekräuselten Schnauzer und der die Jahre überdauernden Hornbrille auf der Nase saß mir mit über einander gelegten Beinen und einem Schreibblock mit Stift in den Händen, bereit alles zu notieren, was ich sagte, gegenüber.
Er starrte mich an, mit diesen tiefen Augen und dieser Ungeduld im Blick, die nur ein geübtes Auge zu erkennen mag und die nur ein baldiger Greis zum Ausdruck bringen kann, weil nur er die Angst hat alt zu werden und somit dieses Laben bald verlassen zu müssen. Greise haben sich damit abgefunden und junge Leute interessiert das nicht, also sind sie die einzigen, die diese Furcht verspüren und zeigen können.
Diesen Blick auf mir zu sehen und zu spüren war beinahe unerträglich, dieser Blick, der sich in meinen Kopf zu bohren versuchte und der mir sagte, dass mein Gegenüber das Ende fürchtete und dass dieser mich anflehte doch endlich meine Sorgen und Gedanken in Worte zu fassen, sodass ich nicht weiter die wertvolle und endliche Zeit verschwendete, die dieser Mann auf Erden hatte.
Natürlich wusste er nicht, was mir seine Augen erzählten und seiner ständigen Angst vor dem, was danach kam, war er sich auch noch nicht bewusst gewesen, dennoch verspürte sein Unterbewusstsein bereits den Schmerz des Vergehens und versuchte so, durch die Augen und den Ausdruck darin, sich jemand anderem mitzuteilen.
All das schoss mir in einem einzigen Moment durch den Kopf und dieser Moment, dieser Augenblick schien ewig zu weilen und hier an diesem Ort Rast zu machen, sodass er langsamer verging und die Sekunden fast zum Stillstand zwang. Die Unendlichkeit hatte ich schon lange hinter mir gelassen, aber sie in nur einem Augenblick zu finden, war mir noch nicht untergekommen.
„Reden Sie. Sie sind doch hergekommen, weil Sie Albträume haben und wir haben nicht unendlich viel Zeit, also bitte sagen Sie mir, was in ihnen vorgeht“, sagte der mir gegenüber sitzende Psychiater.
Ich schnaubte, ja lachte beinahe über seine Unwissenheit, für die er nichts konnte und über die Lüge, die daraus hervorging, denn ich hatte im Gegensatz zu ihm unendlich viel Zeit, weil sie für mich keine Rolle spielte. Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre, Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte und Jahrtausende waren unwichtig, denn sie schoben sich an mir vorbei ohne Spuren zu hinterlassen, keine Falten verrieten mein Alter, keine Narben zeichneten meinen Körper, egal wie oft ich mich verletzte, ich mich eine Klippe oder eine Brücke hinunterstürzte oder mein Herz vor Schmerz blutete aufgrund des Verlusts derjenigen, die ich liebte, die, die mir die Zeit nahm und die mich auf ihrer Reise ins Jenseits, gebunden an das Leben, zurückließen, allein, einsam, von dem Wunsch erfüllt gewesen meinen Lieben zu folgen, an einen Ort, den ich niemals in meinem endlosen Leben zu Gesicht bekommen werde, weil ich mit dem Segen beschenkt und von dem Fluch verspottet einfach der Fähigkeit mich vom Diesseits zu verabschieden, beraubt worden bin, also was erlaubte sich dieser, von der Gesellschaft als erfahren bezeichneter, Mann mir zu sagen ich hätte keine Zeit, er log, aber das wusste er nicht.
Trotzdem hatte er Recht, ich war hergekommen, um zu reden und nun schwieg ich.
„Nun kommen Sie schon. Ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie mit mir reden“.
Er setzte mich unter Druck, drängte mich zu sprechen, um seine Zeit nicht zu vergeuden. Seine Angst zu sterben, Zeit zu verlieren, lauerte in seinem Unterbewusstsein und versuchte sich an der Geduld und der Bereitschaft mir zu helfen vorbei zu kämpfen und an die Oberfläche zu kommen, um sich mitzuteilen.
Plötzlich bekam ich keine Luft mehr, ich war eingeengt und wollte nur noch weg, weg von diesem Blick, weg von diesem Mann, der die Hölle auf Erden nicht kannte, mich deshalb nie verstehen würde und mir daher auch nicht helfen konnte. Niemand konnte mir helfen, dem einzigen Unsterblichen, der die ewige Verdammnis, das Nirvana, die Strafe der Unendlichkeit nur zu gut kannte, denn ich durchlebte all das seit so vielen Ewigkeiten, einfach, weil es so viele Ewigkeiten waren, eine hätte gereicht, die ich gelebt und geliebt hätte, statt vieler, die ich hasste und die mich quälten.
Ich sprang von dem roten Sessel auf, auf dem ich gesessen hatte. Der Psychiater vor mir erschreckte sich und zuckte zusammen, aber das war mir egal. Ich suchte mir hastig meinen Weg zwischen Stehpflanzen, Couchtischen, Liegen und Sesseln hindurch, die dem Raum eine heimische Atmosphäre verleihen sollten und stürmte zur Tür hinaus, durchs Wartezimmer, an der neurotischen Empfangsdame vorbei, hinaus vor die Tür, unter den von Wolken bedeckten Himmel der Stadt.
Die Leute, die mich sahen, durch die Straßen stürmend, mussten mich für verrückt halten und vielleicht stimmte das sogar, denn die Träume, die mich Nacht für Nacht heimsuchten, hatten nur Verrückte. Meine Träume sprangen von einem Ereignis zum nächsten ohne Sinn mit unendlichen Qualen, wurde ich immer wieder gezwungen meine schlimmsten Erinnerungen, die eigentlich verschüttet, unter Trauer und Schmerz, tief in meinem Innern begraben sein sollten, von denen ich mir wünschte, sie würden für immer verschwinden, neu zu durchleben, immer und immer wieder.
Ich habe in meinen Träumen meine Eltern, Geschwister und Freunde dahinwelken sehen unter dem Druck der Zeit bis der Tod sie geholt hat, mich aber aus irgendwelchen Gründen zurückgelassen hat.
Ich habe gesehen wie ein Sturm den anderen gejagt hat im Laufe meines Lebens und wie die verheerenden Erdbeben, die die Welt immer wieder erschüttert haben, Städte zerstört haben, sie in sich zusammenfallen gelassen haben und ihre Einwohner unter sich begraben haben.
Ich habe gesehen wie Kriege über das Land gefegt sind und die Soldaten, Generäle und Feldherren wie sie Tod und Elend hinter sich hergezogen haben.
Ich habe gesehen wie Friedensverträge in den schlimmsten Schlachten, die die Welt gesehen hat, ausarbeitet und unterschrieben wurden, nur damit sie nach ein paar Jahren des Friedens wegen Lappalien und Nichtigkeiten gebrochen werden konnten, um wieder einmal den Krieg herrschen zu lassen.
Ich hatte schon so viel Leid gesehen und mit erlebt, dass, wenn ich träumte, nur das erschien. Die schönen und guten Erinnerungen und Erlebnisse sind in meinem schon viel zu alten Geist und in meiner Seele von den schlechten und traurigen verschüttet gewesen, unfähig wieder ans Tageslicht zu kommen, aber die schlimmste Erinnerung und der schrecklichste Traum erschienen so oft, dass ich es nicht mehr zählen konnte.
Darin habe ich mich auf einer Brücke über einem reißenden Fluss befunden, dessen donnernde Fluten zu meinen Füßen alles mit sich genommen haben, was es gewagt hat darin einzutauchen, sie haben alles verschluckt und es erst wieder gehen lassen, wenn es sich den Wellen ergeben hat und unter Wasser mit der Strömung, die an ihm gezogen und gezerrt hat, mithalten konnte.
Mit den Bildern meiner Geliebten im Kopf habe ich auf der Brücke gestanden und ins Leere gestarrt, habe mich an das erinnert, was passiert ist, habe gesehen wie sie den letzten Atemzug unter den Qualen des schwarzen Todes genommen hat bis eben dieser sie zu sich geholt hat. Mich hat die Pest verschont, so wie es jede andere Krankheit auch tat, aber gelitten habe ich trotzdem, denn noch nie in meinem langen Leben habe ich mir den Tod, das Ende, den letzten Schlag meines müden Herzens so sehr herbeigesehnt wie in diesem unsagbar schmerzvollen Moment, also bin ich gesprungen. Herunter von der Brücke, auf der ich gestanden habe, in das tiefe, ungewisse der dunklen Fluten, auf dem ich hart aufgeschlagen bin, die mich empfangen haben, mich eingeschlossen haben und mir kalt und entsetzlich den Körper erschauern lassen haben, mich in sich herumgewirbelt haben, auf meinen hilflosen Körper eingeschlagen haben und mich wieder und wieder ertrinken lassen haben, bis ich endlich, vom Schmerz gepeinigt, den Weg zurück an die Oberfläche gefunden habe, wo mich der genauso harte Schmerz der Realität begrüßt hat und ich wieder ertrinken wollte, aber ich habe gewusst, ich konnte es nicht.
Die Schmerzen haben mich übermannt, als ich ans Ufer gelangt bin, ich bin zwar nicht tot gewesen, habe aber jeden Schmerz gespürt.
Es war bei Weitem nicht mein erster Selbstmordversuch gewesen, aber an diesem Tag hatte ich mir wirklich nichts sehnlicher gewünscht als das Ende
Jedes mal wenn ich an diese grausamen Augenblicke dachte, überrollte mich die Erinnerung, versetzte mich wieder in die Vergangenheit und brachte Bilder, Geräusche und Gefühle zurück, sodass all der Schmerz von damals wieder hochkam und meine damaligen Gedanken und Wünsche zurückkehrten, bis ich es nicht mehr aushielt und zur nächsten Brücke lief.
Ich nahm den direkten Weg ohne Abkürzung, denn ich wollte nichts herauszögern. Ich erreichte die Brücke, kletterte auf das Geländer und sah auf die Fluten hinab.
Tiefe Trauer überkam mich, endloser Schmerz schnürte mir die Kehle zu und mein Magen zog sich zusammen. Tränen sammelten sich in meinen Augen und mein Blick verschwamm. Ich zögerte keine Sekunde länger und sprang in die Tiefe, wohl wissend, dass ich einige Minuten später mit schmerzverzerrten Gesicht und kalten, steifen Gliedern wieder ans Ufer schwimmen würde. Dennoch würde ich es so lange weiter probieren, bis es irgendwann funktioniert.