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Die Schranke
Ein beliebiger Tag im Jahr 1950. Ein fünfjähriger Junge stand am Bahnübergang und beobachtete, wie sich die Schranken langsam schlossen. Den Gesetzen der Erdschwere folgend, löste sich das Gitter vom rot-weißen Schrankenbaum, bis es senkrecht hängend den Raum bis zur Straßenoberfläche ausfüllte. Der Schrankenwärter trat von den Kurbeln zurück und verschwand im Inneren seines, einer großen Hundehütte ähnelnden, Häuschens. Es war ein breiter Bahnübergang, unmittelbar neben dem Bahnhof. Zwei viergleisige Fernstrecken und mehrere Rangiergleise kreuzten die Straße.Der Junge reckte den Hals, um auf dem Bahnsteig die Uhr zu erkennen. Noch eine Viertelstunde! Er griff, in die Hosentasche und überprüfte, ob ihm von seiner Barschaft auch nichts verlorengegangen war; 30 Pfennig für ein Fischbrötchen und 15 Pfennig für eine Fassbrause in der Bahnhofswirtschaft.
Die Schienen summten ihr Lied und kündigten einen Zug an. Der Junge lehnte an dem Gitter, das neben der Schrankenanlage die Absperrung fortsetzte. Zwei Meter vor ihm verlief das erste Gleis. Er sah, dass der Zug, über Weichen rat-ternd, auf dieses einschwenkte. Es war ein langer Güterzug, der da langsam heranschnaufte. Die Lokomotive stampfte schwer. Sie war für Steinkohle gebaut worden und quälte sich jetzt mit minderwertiger Braunkohle mühsam voran. Rußige Rauchwolken quollen aus dem Schornstein, vermischt mit weißen Auspuffdampf. Metall rieb sich auf Metall, an der gegenseitigen Zerstörung durch Schmierstoff gehindert. Die Lokomotive strömte mühsam zurückgehaltene Kraft aus. Der Junge glaubte plötzlich nicht mehr an die Bändigung dieser Kraft durch den Menschen. Er wich ängstlich zurück. Doch da war das Ungeheuer schon vorbei, ohne explodiert zu sein. Er nahm seinen Platz am Gitter wieder ein. Wagen auf Wagen rumpelte vorbei. Der Zug nahm und nahm kein Ende. Doch schließlich schlenkerte doch einmal der Schlusswagen über die Gleise. Beim Schrankenwärter hörte man das Streckentelefon klingeln. Noch ein Zug! Die Schranken blieben geschlossen. Ein Schnellzug durchbrauste den Bahnhof. Scheinbar mühelos flog die Lok dahin.
Der Junge blickte ernst; fast traurig, als ob er eine zwar verantwortungsvolle, aber unangenehme Aufgabe erfülle. Als sich der durch die geschlossenen Schranken angestaute Verkehr wieder beruhigt hatte, überquerte er die Straße, um in die Bahnhofswirtschaft zu gehen, seine Pause zu machen. Ernsthaft setzte er sich mit Fischbrötchen und Fassbrause in eine Ecke des Schankraumes und verzehrtes beides mit einer Andacht, als ob er ein Menü mit mehreren Gängen einnehme. Dann schlenderte er noch ein wenig durch die Bahnhofshalle, sah auch kurz auf die Bahnsteige hinaus, bevor er seinen Beobachtungsposten an der Schranke wieder einnahm. Dann war seine Zeit um. Er konnte wieder nach Hause gehen und berichten, dass er einen tollen und aufregenden Nachmittag verbracht hatte. Die Mutter freute sich über die Aktivitäten ihres guten Jungen und fragte nicht weiter nach.
Nach 50 Jahren steht der Junge am gleichen Platz. Anstelle der Schranke sperrt ein Zaun die Straße. Das Schrankenwärterhäuschen ist verschwunden. Von der Zufahrt hat wildes Grün Besitz ergriffen. In Abständen von wenigen Minuten rauschen, wie von Geisterhand getrieben, Züge vorbei, ohne zischende Dampfwolken und sich elegant bewegende Pleuelstangen, die die gewaltigen, vom Menschen in Bewegung gesetzten Kräfte, verdeutlichen. Sie wirken jetzt, verborgen vor der Welt, im Inneren der Maschinen.
Der Mann starrt auf den stillgelegten Bahnübergang. Die Schranke ist nicht verschwunden; die Schranke, die ihn vom wirklichen Leben trennt. Sie ist, unsichtbar wie die Antriebskräfte der Lokomotiven, ihn ihm, schon immer, schon in dem kleinen Jungen und niemand hat es bemerkt.
Martin Eberhard Kamprad, Leipzig
[ 23.06.2002, 15:53: Beitrag editiert von: Eberhard_Kamprad ]