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Die Schneekugel
Ich zog den Stecker vom Staubsauger erst, als auch die letzte Tannennadel knisternd verschwunden war. Mit schweren Armen rollte ich das Kabel auf. Draußen verabschiedete sich der Januartag als grauer Streifen am Horizont. Ich packte den Staubsauger und wuchtete ihn in den Schrank zurück. Dann lehnte ich mich einen Moment lang gegen die Tür und schloss die Augen. Meine Hände bedurften nach einem halben Tag im Putzwasser dringend der Pflege. Mein Rücken tat weh. Mit den Daumen massierte ich über die Verspannung. Lumbago. Früher hatte ich das für einen Handelsboykott oder lateinamerikanischen Paartanz gehalten. Während ich dastand und zwischen meinen Lendenwirbeln herumdrückte, hörte ich die Kinder nach Hause kommen. Sie verschwanden ohne Gruß in ihren Zimmern. Beide waren verschlossen in letzter Zeit. Beim Versuch, sie darauf anzusprechen, stieß ich auf Mauern des Schweigens. Pubertät. Ganz normal. Sagten meine Freundinnen. Egal – es war nicht der Zeitpunkt, darüber zu nachzudenken. Stattdessen beschloss ich in die Küche zu gehen und Abendessen zu kochen.
Mein Blick fiel auf die letzte unaufgeräumte Schachtel im Wohnzimmer. Sie enthielt Weihnachtsschmuck und gehörte in den Keller. Seufzend hob ich sie auf.
Unten im Abstellraum herrschte Chaos. Die Regale quollen über von Büchern, alten Spielsachen und ausrangierten Skiern. Wie kann man so viel Krempel anhäufen, fragte ich mich und begann aufzuräumen.
Die kleine Box fiel mir wie von selbst in die Hände. Sie stand im hintersten Winkel zwischen dem von meiner Großtante geerbten Teeservice und einer Kiste Schallplatten und war, der fingerdicken Staubschicht nach zu Urteilen, seit Jahren nicht angerührt worden. Ich bließ die Staubkörner in die Luft und erlitt sofort einen heftigen Niesanfall. Als ich wieder normal atmen konnte, wandte ich mich meinem Fund zu. Er ließ sich partout nicht einordnen. Mit spitzen Fingern öffnete ich die Schachtel.
Darin lag zwischen Watte eine Schneekugel, billiges Andenken einer Italienreise. Sie zeigte das Kolosseum in Miniatur. Meine Hände zitterten plötzlich, als ich sie aus der Schachtel nahm, als handle es sich ein Kleinod von unschätzbarem Wert. Ich schüttelte sie vorsichtig. Weiße Plastikpartikel wirbelten durch die schon leicht eingetrübte Flüssigkeit. Ich starrte in das Schneegestöber, in meinem Kopf drehte sich alles. Vor meinem geistigen Auge spulten sich in klaren Bildern Szenen eines längst vergangenen Sommers ab.
Wir laufen durch die verwinkelten Straßen der Ewigen Stadt, halten Händchen, lachen und scherzen. Ich trage mein Sommerkleid. Er trägt sein Hemd oben aufgeknöpft. Darunter schimmert seine Haut golden und wenn er mich an sich zieht, berauscht ihr warmer Duft meine Sinne.
Um uns herum herrscht Touristentrubel. Der Lärm hupender Motorroller mischt sich mit den Melodien der Straßenmusikanten, Reisegruppen aus aller Herren Ländern trotten über den glühenden Asphalt und lauschen dem Vortrag ihrer Guides, die kundig über Päpste und römische Kaiser referieren, deren Gebeine vor Jahrhunderten in dunklen Grüften verscharrt wurden und über deren Regentschaft nur noch die Ruinen von prachtvollen Palästen Zeugnis ablegen.
An einem Stand kaufen wir Pistazieneis. Wir setzen uns an den Rand des Trevibrunnens und Marco besteht darauf, Münzen in das glitzernde Wasser zu werfen. Nun müssen wir einmal im Leben nach Rom zurückkehren, erklärt er mir. Ich schmiege mich an ihn und schaue zu, wie Tauben in den sommerblauen Nachmittagshimmel aufsteigen.
Marco macht Bilder mit seiner Spiegelreflex. Währenddessen schaue ich mir die Auslagen der Souvenirhändler an. Sie verkaufen überall das gleiche. Postkarten mit Motiven der Hauptsehenswürdigkeiten, gerahmte Bilder verschiedener Päpste, kleine Statuen aus Plastik, bunte Regenschirme und -
Ich erschrecke leicht, als Marco unvermittelt neben mir aufgetaucht. Ich stelle die Schneekugel zurück und mache eine wegwerfende Handbewegung.
Er zieht spöttisch eine Augenbraue hoch.
Ich beharre auf meiner Meinung.
Sein Lächeln ist halb belustigt, halb liebevoll.
Ich erröte grinsend. In der Tat stand ich schon eine ganze Weile vor den Schneekugeln.
Versonnen fahre ich mit den Fingern über die gläsernen Kugeln.
-Ich kauf Dir eine.
Er bezahlt, ich strahle. Als wir uns vom Stand entfernen, kann er sich eine weitere Bemerkung nicht verkneifen:
Ich rolle die Augen, gehe auf seinen Scherz ein.
Er lacht.
Ich nicke.
Er legt seine Hand auf meine Schulter.
Ich fahre herum.
Simone -?
Er nimmt die Hand weg.
Alles klar bei Dir? Was machst du hier unten?
Ich gebe keine Antwort.
Ich hab mehrmals nach dir gerufen.
Er schaut mich fragend an.
Hallo? Simone -!
Ich bin zurück im kalten Keller unserer Doppelhaushälfte.
-„Hab dich nicht gehört. Tut mir leid.“
Ich lasse die Schneekugel rasch in der Schachtel verschwinden und verstaue die Schachtel irgendwo zwischen den Regalbrettern.
-„Was zum Teufel machst du hier unten?“
-"Nichts. Aufräumen.“
Ich wische mir unauffällig die Augenwinkel.
-„Hast du Abendessen gemacht?“, fragt er, „Ich sterbe vor Hunger.“
-„Bin nicht dazugekommen, sorry.“
-„Macht nichts.“
Er klingt verstimmt.
-„Dann bestellen wir halt Pizza.“
Wir steigen die Kellertreppe hinauf. Ich gehe hinter ihm.
Er geht in die Küche und holt ein Bier aus dem Kühlschrank. Nimmt zwei Schlucke. Lockert seine Krawatte. Ich schweige.
-„Wirklich alles okay bei Dir?“
-„..Klar.“
Er begnügt sich mit der Antwort.
-„Bestell mir 'ne große Speziale, ja?“
Damit verschwindet er im Badezimmer.
Spät in der Nacht. Wir liegen nebeneinander im Bett. Sein gleichmäßiger Atem sagt mir, dass er tief schläft. „Christian?“, frage ich zur Sicherheit. Er reagiert nicht. Ich schlage die Bettdecke zurück. Meine Füße berühren den kalten Fußboden. Auf der Nachtkommode liegt mein Smartphone. Ich gehe damit ins Wohnzimmer. Nebenbei öffne ich die Kontaktliste, scrolle zum Buchstaben „M“. Vielleicht hat er inzwischen eine neue Nummer. Vielleicht auch nicht. Das Display beleuchtet mein Gesicht. Es spiegelt sich wie ein blasses Gespenst in der Fensterfront wider. Ich bin unschlüssig, lasse ein wenig den Arm sinken. Die Gardinen riechen frisch nach Waschmittel. Ich schiebe sie ein Stück beiseite und spähe hinaus. Draußen fällt leise Schnee in den Garten.
Mein Daumen drückt jetzt auf SMS schreiben. Ein Strich taucht auf, blinkt. Ich tippe. Die Zeile ist schnell verfasst:
Hey- wie geht es Dir? Lg, Simone
Mein Finger schwebt eine Sekunde lang über dem Button rechts unten.
Nachricht senden steht da. Ich zögere.