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Die Schneekönigin
Laura stand auf der Terrasse, ließ ihren Kopf und die schmalen Schultern hängen. Sie wirkte verloren in der weißen Bluse, die ihrem Gesicht alle Farbe entzog und dem formlosen, dunkelgrünen Rock. Genauso verloren wie das Schneeglöckchen. Seit Tagen versuchte es, sich zwischen neu erblühenden Narzissen und Krokussen zu behaupten und dem Einzug des Frühlings trotzig Widerstand zu leisten. Auch Laura trotzte. Hartnäckig verbarg sie ihre Schönheit und die Beharrlichkeit, mit der sie dies tat, mit der sie sich weigerte, der Welt zu zeigen, wer sie war und was sie war, rührte und erregte ihn zugleich. Bei ihrem Anblick standen seine Gedanken einen Augenblick lang still. Seine Sinne sammelten sich und eine Weile atmete er tief und ruhig, ohne den Blick von der Frau zu wenden, die er schon lange Zeit grenzenlos bewunderte.
Er hangelte sich aus dem Bett, ging barfuß und nur mit dem Schlafanzug bekleidet, über den blank gescheuerten Dielenboden zu ihr. Sie hob den Kopf, blies mit vorgeschobener Unterlippe eine widerspenstige Locke aus der Stirn und schob sie hinter das Ohr. Mondsteinfarben war ihr Haar und nichts hatte es in all den Jahren an Glanz eingebüßt. Er trat hinter sie und unterdrückte den Impuls sie sofort an sich zu ziehen.
Statt dessen fuhr er mit dem Zeigefinger die geschwungene Linie ihres Halses entlang, hielt am tiefsten Punkt inne und strich dann mit den Fingerkuppen über das Leinen ihrer Bluse, bevor er seine Hand auf ihrer Schulter ruhen ließ. Ihr noch immer mädchenhafter Körper straffte sich und während sie sich aufrichtete, heftete sie ihren Blick auf den Punkt in der Ferne, an dem die Welt gläsern und zerbrechlich zu werden schien. Nach einer kurzen Pause setzte seine Hand die Reise fort, wanderte ihren Arm hinab, bis er ihre Hand fand, sie in die seine nahm und ihrer beider Finger sich verschränkten. Seine andere Hand ruhte auf dem Bund ihres Rockes, nur sein Daumen zeichnete sanfte Halbkreise auf dem grob gewebten Stoff.
Eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach. Seine streiften die benachbarten Hinterhöfe entlang, machten vor verhangenen Fensterscheiben Halt, hinter denen er größtenteils unerfüllte Leben, die tagtäglich ihren Sehnsüchten entflohen, vermutete. Laura bedachte ein zänkisches Vogelpaar mit ihrer Aufmerksamkeit. Es flatterte davon und eine Feder sank langsam zu Boden.
Er beugte den Kopf und hauchte kleine Küsse in die Sichel ihres Halses. Dann drehte er sie in einem Schwung zu sich herum und sah sie an. Ihre Augen glitzerten, wie Kiesel nach einem satten Regenguss. Und während ihr warmer Atem seine Wange streifte, schlang sie ihre Arme fest um seinen Hals.
"Du könntest mein Sohn sein."
"Du hast bereits Söhne."
"Auch eine Tochter."
Sie lachte. Er zupfte ihre Bluse aus dem Rockbund, erst rechts, dann links, schob seine Hände darunter und begann sie zu streicheln. Kein Gleichklang der Herzen, nichts dergleichen nahm er wahr, verlor nur, umgarnt von Wärme und Weichheit, jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Weder stand ihm der Sinn danach taktvoll zu sein, sollten die Nachbarn doch denken, was sie wollten, noch hatte er länger Lust sich zu beherrschen. Zögernd gab sie nach.
Er suchte ihren Mund, fand ihn nicht gleich, ließ sich nicht aufhalten. Nasenflügel, Haut, Wimpern, der Mundwinkel. Dann erst erhielt er seinen Lohn. Ihr Kuss war zurückhaltend. Ihre Hand in seinem Haar zerzauste Gedanken.
Er hob sie hoch, trug sie ins Haus, legte sie auf das Bett, nestelte hastig an den Knöpfen ihrer Bluse herum, ohne den Kuss zu unterbrechen. Ihre Liebkosungen wurden verschwenderischer, sie verschenkte, was sie besaß. Und als sie schließlich unverhüllt unter ihm lag, helle Haut und dunkle Höfe, glich sie einer Schneekönigin. Beinahe bekam er Angst. Sie könnte vor seinen Augen dahin schmelzen, wenn er sie weiter hielt, aber nichts dergleichen geschah und als sie sich aufeinander zu bewegten, war alles im Fluss. Er fand ihre Mitte und vergaß sich noch einmal.
Vollständig bekleidet stand Laura auf der Terrasse und ließ den Kopf und die schmalen Schultern hängen. Nun glich sie dem Schneeglöckchen, das seinen Kopf tief in Richtung Boden neigte, sich verbeugte und von einem langen, einsamen Winter Abschied nahm.