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Die Schneefee

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14.10.2001
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Die Schneefee

Die Schneefee

Ganz im äußersten Zipfel des Winterlandes lag Schneedorf. Früher trug dieser Ort seinen Namen zu Recht, denn es lag fast das ganze Jahr über alles unter einer dicken Schneedecke.
Nun aber hatte die Schneefee es schon seit Jahren nicht mehr dort schneien lassen. Die meisten Kinder kannten Schnee nur vom Hörensagen, und die Erwachsenen konnten nicht mehr genau sagen, wann es zuletzt richtigen Schnee gegeben hatte. Inzwischen waren alle Bewohner des Dorfes schon ganz zermürbt von der grauen Trostlosigkeit des schneelosen Himmels, der tagein, tagaus über ihnen hing. Die kalte, trockene Luft war so spannungsgeladen, dass sie förmlich knisterte. So herrschte in Schneedorf eine Eiszeit zwischen den Menschen.
Die Schneefee war sehr zornig über die Bewohner des Dorfes. In allen Straßen und Häusern herrschte Unfriede. Verwandte hatten den Kontakt abgebrochen, gute alte Bekannte grüßten sich nicht mehr, Nachbarn stritten sich ständig, und Arbeitskollegen versuchten, sich gegenseitig zu schaden. Das Glück anderer löste Neid und Missgunst und ihr Unglück Schadenfreude aus.
Fast aus dem Gedächtnis geschwunden waren die ausgelassenen Schneefeste, die Familien, Nachbarn, Freunde und Kollegen miteinander gefeiert hatten. Schneemänner und Schneeburgen hatten sie gemeinsam gebaut oder Schneeballschlachten geschlagen.
Vergangen waren die Zeiten, in denen die Bewohner von Schneedorf an den Wochenenden zu gemeinsamen Ausflügen in die ruhige Winterlandschaft aufgebrochen und stundenlang durch den knirschenden Schnee gestapft waren. Die Schneefee hatten sie aber nie bemerkt, die verborgen im Schnee oft bei ihnen war.
Endgültig vorbei waren auch die gemütlichen Winterabende in der Dorfkneipe, wo die Dorfbewohner in großer Runde Punsch oder Grog getrunken und so viel miteinander gelacht hatten. Auch das hatte der Schneefee sehr gefallen. Sie saß immer irgendwo versteckt, strich sich ihre langen weißen Haare aus dem weißen Gesicht und lachte leise mit.
Vergessen war, wie die Dorfbewohner morgens vor der Arbeit auf den Bürgersteigen vor ihren Häusern Schnee gefegt und sich gegenseitig geholfen hatten, ihre Wagen vom Schnee zu befreien. Vergessen war, wie die Kinder gemeinsam zur Schule gegangen waren und nachmittags zusammen im Schnee gespielt hatten. Und immer war die Schneefee heimlich mitten unter ihnen gewesen.
In der letzten Zeit musste sie besorgt feststellen, dass die Stimmung unter den Dorfbewohnern noch schlechter geworden war. In dem kleinen Dorf gab es nämlich nur zwei kleine Betriebe, in denen alle Bewohner ihr Geld verdienten. Die Besitzer waren Brüder, die so miteinander verfeindet waren, dass sie seit Jahren kein Wort mehr miteinander gesprochen hatten.
Das Unternehmen rechts des Schneebaches stellte Skiausrüstungen für die Dorfbewohner her, und die Firma auf dem linken Ufer baute Schlitten. Da es aber seit Jahren nicht mehr geschneit hatte und niemand im Dorf mehr Skiausrüstungen oder Schlitten kaufen wollte, waren beide Unternehmen in Schwierigkeiten geraten.
In Schneedorf wurde deshalb viel gemunkelt. Es hieß, Angestellte müssten entlassen werden. Wann? Wer? Wie viele? Immer neue Gerüchte machten die Runde. Die Feindseligkeit in den Fabrikhallen und Büros wurde schier unerträglich. Die Schneefee konnte es kaum noch mit ansehen und mit anhören. Es wurde gelogen und betrogen, beleidigt und verleumdet, und jeder war des anderen ärgster Widersacher.
Und so kam es, dass die Schneefee, deren Wolkenschiff seit Anbeginn der Zeiten den Himmelsozean über dem Winterland befuhr, oft lautlos über Schneedorf hinweg segelte. Sie verspürte nicht mehr die geringste Lust, hier Anker zu werfen und von Bord zu gehen. Geschickt kreuzte sie im grauschäumenden Himmelsgewässer, so dass sich die Segel im Wind blähten und ihr Schiff schnell über Schneedorf hinwegglitt.
Eines Tages näherte sich ihr Wolkenschiff wieder einmal dem Dorf. Es war sehr kalt, aber obwohl der Himmel bleigrau über dem Örtchen hing, wollte es einfach nicht schneien. Die Luft hatte sich so stark mit elektrischer Spannung aufgeladen, dass sie zu summen schien.
Die Schneefee saß in ihrer kleinen Kajüte und warf einen Blick durch das Bullauge auf das trostlose kleine Dorf. Und was sie dort zu sehen bekam, machte sie so traurig, dass dicke Tränen aus ihren schwarzen Stecknadelkopfaugen kullerten und ihre porzellanweißen Wangen hinunterrollten.
Wohin sie auch blickte, waren die Menschen unglücklich: die vielen Kinder, die keine Freunde mehr hatten, die Verwandten, die nicht mehr miteinander sprachen, und die Bekannten, die aneinander vorbei blickten, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Die Schneefee sah Nachbarn, die sich über Gartenzäune hinweg böse Worte zuriefen, und Angestellte, die in den Fabriken stumm und verbittert nebeneinander her arbeiteten.
Da warf sie mit einem Mal entschlossen den Anker. Viele Stunden lang hing das mächtige Wolkenschiff bewegungslos über dem Dörfchen. Die Bewohner blickten hin und wieder sehnsüchtig nach oben. Ach wenn es doch endlich, endlich wieder schneien wollte!
Die Schneefee saß in ihrer Kajüte und dachte lange nach. Wie konnte es nur dazu kommen, dass die trockene Luft über Schneedorf so sehr von Hass und Zwietracht erfüllt war? Und gab es keine Möglichkeit, den Dorfbewohnern zu helfen?
Schließlich stand sie seufzend auf und stieg langsam in den großen Laderaum ihres Segelschiffes hinunter. Sie hatte Millionen und Abermillionen funkelnder Schneekristalle geladen. Zögernd öffnete sie die Ladeluke einen ganz kleinen Spalt. Die ersten spärlichen, zarten Schneeflocken taumelten lautlos aus dem großen Himmelsschiff auf das kleine Dorf hinunter.
Zunächst bemerkte es niemand. Es war früher Abend, und die Leute hatten sich schon in ihre Häuser zurückgezogen. Alle Fensterläden waren dicht geschlossen, so dass kein Lichtstrahl nach außen drang.
Aber plötzlich horchten die Menschen auf. Ein Jubelschrei war zu hören. "Es schneit! Es schneit!", rief jemand auf der Straße.
Eine Tür nach der anderen wurde aufgerissen, und immer mehr Männer, Frauen und Kinder strömten nach draußen. Lachen und freudige Stimmen klangen durch die wohltuend feuchte Luft. Eine dünne Schneeschicht bedeckte bereits die kahlen Zweige der Bäume, und die Grasflächen und Wege in den Gärten waren weiß gefleckt.
Alle Dorfbewohner redeten aufgeregt durcheinander. Sie standen in Gruppen beisammen und sahen zu, wie der Marktplatz nach und nach unter einer weißen Decke verschwand.
Als die Schneefee dies bemerkte, öffnete sie ihre Ladeluke ganz weit. Dann sandte sie Funksprüche in alle Himmelsrichtungen. Schon bald segelten immer mehr große und kleine Wolkenschiffe herbei, die alle reich beladen waren mit Schneeflocken. Und es schneite und schneite, so wie es seit langen Jahren nicht mehr geschneit hatte. Flocken stürzten in Massen vom Himmel. Sie tanzten und drehten sich im Wind, bis sie auf Dächern, Zweigen, Wiesen und Wegen zur Ruhe kamen. Und mit ihnen tanzten die Bewohner von Schneedorf.
Mitten unter den Schneeflocken wirbelte unerkannt die Schneefee. Sie setzte sich in die Gesichter der Leute und kitzelte sie an der Nase, so dass sie niesen und lachen mussten. Sie setzte sich auch in ihre Augenwinkel, so dass den Menschen Tränen in die Augen traten.
Die ganze Nacht ließ die Schneefee es kräftig schneien. Durch die geöffneten Fensterläden der Häuser fielen Lichtstrahlen und ließen den Schnee aufblitzen. Die dicken weichen Kissen deckten alles zu. Richtig friedlich sah Schneedorf jetzt aus. Der Schnee machte alles rein. Er dämpfte die Geräusche und erhellte die Dunkelheit.


 

´n Abend Jakobe !
Deine Idee einer Schneefee, die mit einem Schiff durch den Himmel fährt und mal hier, mal da Anker wirft, finde ich sehr originell. Folgendes ist mit aufgefallen:

Ganz im äußersten Zipfel des Winterlandes lag Schneedorf. Der Ort trug seinen Namen zu Recht, denn dort lag fast das ganze Jahr über alles unter einer dicken Schneedecke.
Nun aber hatte die Schneefee es schon seit Jahren nicht mehr dort schneien lassen.

Das ist ein Bruch. Du solltest den zweiten Satz anders formulieren, vielleicht unter Verwendung von "normalerweise" oder "sonst" oder etwas ähnlichem.

Du benutzt für (allgemeinere) Beschreibungen viele Hauptsätze, was aneinandergereiht etwas steif klingt. Im Laufe deines Textes werden die Sätze zwar länger, aber meiner Meinung nach könntest du einiges besser formulieren, indem du mehr Nebensätze und "gewagtere" Konstruktionen verwendest.
Trotzdem eine nette Geschichte, die sich diesen Winter hoffentlich bewahrheitet :xmas:.

 

Vielen Dank für deine Kritik.
Du hast Recht: der Anfang der Geschichte klingt widersprüchlich.
Was die einfachen Formulierungen betrifft, frage ich mich, ob sie nicht dem Stil eines Märchens entsprechen?
Ich hoffe übrigens auch, dass es in diesem Winter endlich auch mal im Rheinland richtig schneien wird! (Die Schneefee hat sich hier seit 1984 nicht mehr blicken lassen!)
Viele Grüße!
Jakobe

 

Ok, da hast du bestimmt Recht, die volkstümlichen Märchen sind nicht sehr komplex, da heb ich mich wohl von meiner Phantasie treiben lassen :)

 

Hallo Jakobe!

Ein schönes Märchen hast du da geschrieben, dass auch nachdenklich macht. Den Schreibstil finde ich dem Inhalt angemessen, gut zu lesen ohne zu einfach zu sein.
Kleiner Kritikpunkt:
Für die verschiedenen Gefühle wie Freundschaft und später den Hass im Dorf hättest du ganz konkrete Beispiele in Form von kleinen Episoden zwischen einzelnen Dorfbewohnern in die Story einbauen können. So wirkt alles zu allgemein.

Viele Grüße von Sturek :)

 

Lieber Sturek!
Deine Idee finde ich gut. In der ursprünglichen Fassung dieser Geschichte kam eine Familie vor, die als Beispiel diente. Ich habe diese Passagen weggestrichen, weil das Märchen dadurch zu lang wurde. Aber jetzt kommt mir eine andere Idee: vielleicht sollte ich das Allgemeine weglassen und statt dessen lieber die Auswirkungen der "Schneelosigkeit" nur an Hand dieser Familie zeigen?
Viele Grüße von
Jakobe

 

Hallo Jakobe,

ja, so würde ich es machen. Wenn Du dir alte Märchen ansiehst, ist es ja immer so, dass ein paar Held(inn)en ein Schicksal quasi exemplarisch durch"leiden". Du könntest eine intensivere Beziehung zwischen deinen "Helden" und der Fee aufbauen, auch ohne, dass die Fee sich zu erkennen gibt.

Es von der Idee her eine schöne Geschichte..
Irgendwie hätte ich am Ende fast erwartet, dass es so viel schneit, dass es schon wieder lebensbedrohlich ist... aber es ist gut, dass nicht jeder eine so negative Phantasie hat ;)

::lucutus::

 

Nochmals vielen Dank für eure Ratschläge. Ich lasse die Geschichte jetzt wieder eine Zeitlang ruhen, und dann werdet ihr demnächst wahrscheinlich eine weitere Version bei Kg.de lesen können.
Gruß!
Jakobe

 

servus Jakobe !

deine geschichte hat mir gut gefallen, aber mir sind dabei ein paar inhaltliche ungereimtheiten aufgefallen, so wie das beispiel das Enki schon gebracht hat...

-> du schreibt, es hatte "seit Jahren" nicht mehr geschneit und dann, dass die erwachsenen sich kaum noch daran erinnern können. da würde ich eher schreiben "seit vielen Jahren" oder gar eine genauere angabe, denn das klingt schon nach einem etwas längeren zeitraum.

-> die schneefee scheint die bewohner viel zu beobachten, andererseits aber weiß sie nicht mehr, ob sie es nun war die aufgehört hat, es schneien zu lassen, oder ob es die menschen waren, die ihr die stimmung daran verdorben haben. ich finde das solltest du an dieser stelle: "Wie konnte das alles nur geschehen? ..." mehr betonen, denn an der stelle scheint es, als hätte sie garnichts mit der schneelosigkeit zu tun.

-> die geschichte der beiden firmen ist unrealistisch. schon klar, die geschichte zielt nicht darauf ab realistisch zu sein, aber, dass wegen einem einzelnen dorf ohne schnee firmen geschlossen werden könnten hat mich beim lesen stutzig gemacht. wenn du andererseits die welt in deiner geschichte auf dieses dorf reduzierst, dann müssten die firmen schon längst in konkurs gegangen sein... (was ja eigentlich ganz gut in deine geschichte passen würde)

so, ich hoffe das war hilfreich ;o)
grüße
féile filíochta

 

Liebe Féile!
Grundsätzlich finde ich auch, dass in jeder Geschichte alle Details aufeinander abgestimmt sein sollten. Bei einem Märchen kann man vielleicht in dieser Hinsicht etwas großzügiger sein.
Ich hatte mir z. B. vorgestellt, dass es seit ca. 10 - 15 Jahren nicht mehr geschneit hat, weil die Kinder Schnee nur vom Hörensagen kennen.
Wegen dieses langen Zeitraums kann sich die Schneefee auch nicht mehr genau daran erinnern, wie das alles angefangen hat.
Dass zwei Fabriken wegen eines Dorfes in Konkurs gehen, ist natürlich unrealistisch. Aber ich wollte dieses Dorf sozusagen als in sich geschlossenen "Mikrokosmos" darstellen, der stellvertretend für größere Zusammenhänge steht.
Trotzdem glaube ich, dass man die Geschichte verbessern könnte, wenn man deine Kritikpunkte im Hinterkopf behält. Vielen Dank!
Gruß
Jakobe

 

Bei mir in Oldenburg schneits seit Stunden, ich muss mich bei Jakobe für diese die Schneefee anscheinend sehr stimulierende Geschichte bedanken! :D

 

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