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Die Schnecken
Man hatte mir gesagt, dass E. gestorben sei, aber keiner wusste, wie und warum.
Ich kannte E. aus der Schule, sie war immer sehr nett und zurückhaltend gewesen. Einmal haben wir Schnecken gesammelt und sie in einen Schuhkarton voller Gras gesetzt. Wir haben den Schnecken Namen gegeben und Wettrennen mit ihnen gemacht. In den Deckel des Schuhkartons haben wir Löcher gebohrt, und dann haben wir ihn auf dem Pausenhof versteckt. Am nächsten Morgen war der Karton umgekippt und alle Schnecken waren tot. Jemand hatte sie zertreten. Sie waren nur noch gelbe Splitter und grauer Schleim. Wenn man auf Schnecken tritt, macht es ein kleines, schönes Geräusch, als würde man auf einen Keks beißen.
Wir hatten einen Jungen in der Klasse, der anderen Kindern für die kleinen Heiligenbilder, die uns die alte Religionslehrerin gab, seinen Penis zeigte. Er war evangelisch, und die evangelische Religionslehrerin verschenkte keine Heiligenbilder. Die katholische Lehrerin war eine alte Nonne, die kaum noch laufen konnte. Sie hieß Schwester Gloria und hatte einen schwarzen Schleier, der weit über der Stirn ansetzte, so dass man ihre grauen Haare sehen konnte. Mit jedem Schuljahr wurden ihre Haare weniger und am Ende war sie fast kahl. Dafür bildeten sich lauter rote Krusten auf ihrem Kopf, und wenn sie sich kratzen musste, verrutschte ihr Schleier, und sie musste ihn abnehmen und neu aufsetzen. Früher war sie dafür vor die Tür gegangen, und die Schüler hatten die Zeit genutzt, um sich mit Papierkugeln zu bewerfen. Später war es ihr egal gewesen, dass wir sie ohne Haube sahen, und sie hatte sie vor der Klasse ab- und wieder aufgezogen. Die Heiligenbilder verteilte Schwester Gloria an besonders brave oder fleißige Schüler, weil sie am Ende aber nichts mehr sah und hörte und deswegen nicht mehr beurteilen konnte, wer brav und wer fleißig war, legte sie sie einfach auf den Tisch und jeder konnte sich nehmen wie viele er wollte. Wir haben gedacht, dass man in Klöstern mit Heiligenbildern bezahlt, und als wir Schwester Gloria einmal fragten, welche Heiligenbilder denn wie viel wert seien, wusste sie nicht, wovon wir reden, und dann verschluckte sie sich und musste husten und ihr Schleier verrutschte und alle lachten sie aus und die alte Schwester Gloria nahm ihren verrutschten Schleier ab und setzte ihn sich mit zittrigen Fingern wieder auf.
Die evangelischen Kinder waren sehr neidisch auf uns, denn sie hätten auch gerne solche schönen Heiligenbilder gehabt. Die Bilder waren sehr bunt, und auf der Rückseite standen merkwürdige Texte, die wie Zauberformeln klangen. Heiligenbildchen waren Macht: je mehr Heiligenbildchen man besaß, desto mehr Freunde hatte man. In unserer Klasse entstand also ein Tauschhandel, auf dem die evangelischen Kinder ihren ganzen Besitz hergaben, um unsere Heiligenbilder zu bekommen. Da es mehr evangelische als katholische Schüler gab, war die Nachfrage größer als das Angebot, und so konnten die katholischen Kinder beinahe alles von den evangelischen verlangen. Irgendwann wollte ein katholisches Mädchen wissen, wie ein Junge untenrum aussähe, und weil keiner es ihr zeigen wollte, kam sie auf die Idee, die evangelischen Jungen mit ihren Heiligenbildern zu bestechen. Einer ging schließlich mit ihr in ein Gebüsch und kam mit einer Hand voll Maria Magdalenas und heiliger Antons wieder heraus, und weil ihn diese leichte Methode, Heiligenbildchen zu verdienen, begeisterte, machte er schließlich ein Geschäft daraus. Bald standen alle bei ihm Schlange, erst nur die Mädchen, dann aber auch die Jungen, neugierig gemacht von den kleinen Schreien, die sie aus den Gebüschen hörten, und sogar die Evangelischen gaben ihre mühsam erworbenen Heiligenbildchen her, um einen Blick auf den Penis ihres Klassenkameraden werfen zu dürfen. E. und mir war der Penis irgendeines kleinen Jungen lange egal gewesen, aber schließlich ließen wir uns doch mitreißen und durften nach erfolgter Bezahlung in das besagte Gebüsch vordringen. In dem Moment, in dem der Junge seine Hose in die Kniekehle rutschen ließ, fand uns eine Lehrerin und schickte uns zum Direktor. Der Direktor war außer sich und schimpfte mit uns und war dabei ganz rot, und der Junge weinte wie verrückt und bat ihn, nichts seiner Mutter zu erzählen, und der Direktor sagte, dass könnte ihm so passen, und wir sollten froh sein, dass er uns nicht der Schule verweise, und dann mussten wir nachsitzen. Ich weiß nicht, was später aus dem Jungen wurde, aber irgendjemand sagte mir, er habe als Erwachsener Selbstmord begangen.
Später gingen E. und ich auf andere Schulen, aber wir blieben miteinander in Kontakt. E. war eine sehr gute Schülerin, sie gewann alle Preise ihres Gymnasiums und spielte Querflöte im Schulorchester. Ich war gut in Biologie und in sonst gar nichts. Einmal sollten wir Frösche sezieren, da musste ich mich übergeben und war danach auch den Respekt der Biologielehrerin los. Wir machten beide im selben Jahr Abitur und beschlossen dann, gemeinsam zu studieren, und wir bewarben uns beide an derselben Universität, und wir bekamen beide Plätze, und wir zogen zusammen in dasselbe Studentenwohnheim. E. studierte Psychologie, ich studierte Umwelttechnologie, weil ich dafür ein Stipendium bekam, aber es interessierte mich nicht. Nach zwei Semestern wechselte ich zu Theologie, weil meine Großmutter gestorben war und ich dachte, dass Gott mir hilft, mein Leben hinzukriegen, wenn ich mehr Zeit mit ihm verbringe. Meine Großmutter war eine sehr liebe alte Frau gewesen, sie war das einzig Liebe, an das ich mich in meiner Familie erinnern kann. Meine Mutter, ihre Tochter, war dürr und hässlich, meine Großmutter aber war dick und schön. Sie hatte sich nicht viel um meine Mutter gekümmert, als sie jung war, und deshalb war meine Mutter zu einer verbitterten Frau geworden, die sich noch vor meiner Geburt von meinem Vater scheiden ließ und ihm verbot, mich jemals zu sehen, und da ihm das alles egal war, willigte er ein. Außerdem hatte mein Großvater meine Mutter missbraucht, und dass hatte meine Großmutter nicht gestört, weil sie ihren Mann sehr liebte und dachte, dass er schon wisse, was er tue. Mit der Zeit wurde sie aber eifersüchtig auf meine Mutter, weil mein Opa viel lieber mit seiner Tochter schlief als mit ihr, und darum hatte sie meiner Mutter das Leben schwer gemacht. Schließlich war mein Großvater gestorben, meine Mutter wurde schwanger, meine Oma bekam ein schlechtes Gewissen und zog zu meiner Mutter. An mir holte sie alles nach, was sie bei ihrer Tochter versäumt hatte, sie beschenkte mich und küsste mich und bekochte mich von morgens bis abends, und deshalb wurde meine Mutter eifersüchtig auf mich und machte mir wiederrum das Leben schwer. So wiederholt sich die Geschichte, und ich bin froh, dass ich keine Tochter habe, sonst müsste ich auch auf sie eifersüchtig sein und ihr das Leben zur Hölle machen. Als meine Oma starb, schmiss meine Mutter ihre alten Sachen aus dem Fenster und lachte dabei, und als ich mit ihr sprechen wollte schlug sie mir ins Gesicht. Danach haben wir nie wieder über meine Oma gesprochen, als hätte sie nicht existiert. Ich denke, dass das der Grund ist, warum ich unbedingt Gott auf meiner Seite haben wollte, um jemanden zum Sprechen zu haben über meine Oma und um zu wissen, dass sich irgendjemand für mich interessiert. Das klingt sehr kitschig und sentimental, und bald musste ich auch feststellen, dass bei Gott nicht allzu viel zu holen war, also ging ich zu E., die ja immerhin Psychologie studierte, und erzählte ihr ein bisschen von meinen Sorgen, weil sie aber so höflich und zurückhaltend war, sagte sie mir nicht viel dazu und wechselte das Thema.
E. gelang ihr Studium sehr gut, wie ihr alles gelang, was sie sich vornahm, obwohl sie so zart war und eigentlich ein richtiger Niemand. Keiner von uns beiden war schön, aber ich viel wenigstens auf, weil ich so dick war. E. wurde von allen ignoriert, sie war unsichtbar, selbst ihre Professoren schienen sie nicht zu bemerken, wenn sie ihr ihre Preise und Urkunden überreichten. Sie war wie ein Phantom, das existieren muss, um die Durchschnittsnote der Klausuren in die Höhe zu treiben. Sie war die Quoten-Eins in den Akten des Unipersonals. Mehr war sie nicht.
Das Zimmer, das wir uns teilten, war klein, aber schön. Wir wohnten das erste Mal weit weg von Zuhause, und während ich jubilierte, war E. oft sehr traurig und hatte schreckliches Heimweh. E.s Eltern waren sehr nette und kultivierte Menschen, ihr Vater war Chemiker in einer kleinen Fabrik und ihre Mutter war Klavierlehrerin an der Musikschule unserer Heimatstadt. Eigentlich hatte ihre Mutter Archäologie studiert, und sie hatte als junge Frau lange im Orient gearbeitet, und deshalb war das Haus voller Reproduktionen sumerischer Altertümer und Fotografien orientalischer Landschaften. Ein guter Freund von E.s Vater war auch Archäologe gewesen, und er hatte ihn einmal mitgenommen zu seinen Forschungsreisen in den Irak, und dort hatte er dann seine zukünftige Frau kennen gelernt, und weil sie ihren Beruf nicht aufgeben wollte, hatten sie sich ein kleines Haus in der Nähe von Bagdad gebaut und arabisch gelernt, und dort lebten sie, und E.s Mutter arbeitete weiter in den Ausgrabungsstätten und E.s Vater unterrichtete Chemie an einer englischen Schule in Bagdad, und irgendwann wurde E.s Mutter dann schwanger, und das junge Ehepaar entschloss sich, nach Deutschland zurückzukehren, weil ein kleines Kind es dort leichter haben würde als in der arabischen Wüste. In Deutschland wollte E.s Mutter nach der Geburt an einer Universität arbeiten, aber weil sie genau so zart und zerbrechlich war, wie ihre Tochter es später sein sollte, war sie, nachdem sie E. auf die Welt gebracht hatte, sehr lange sehr krank gewesen, und entschied sich schließlich, Musikstunden zu geben. Oft hatten E.s Eltern große Sehnsucht nach dem Orient, und dann setzten sie sich an einen niedrigen arabischen Tisch und tranken arabischen Tee und aßen klebrige arabische Süßigkeiten und erzählten ihrer Tochter von ihren Abenteuern in der Wüste. Danach blickten sich alle liebevoll an und umarmten sich, und dann gingen E.s Eltern in ihr Schlafzimmer und lasen in dicken Büchern über wichtige Themen, und E. baute sich in ihrem Zimmer ein Zelt aus ihrer Bettdecke und stellte sich vor, wie der Wüstensand ihre Füße kitzelt.
Nach dem Studium arbeitete ich als Religionslehrerin, und ich musste dabei immer an Schwester Gloria und ihre Heiligenbilder denken, und ich hätte auch gerne welche verteilt, wusste aber nicht, wo ich so viele herbekommen sollte. Ich erzählte meinen Schülern Geschichten aus der Bibel, und sie hörten mir nicht zu, und ich schrieb ihnen schlechte Noten ins Heft, und so ging es jahrelang weiter.
E. schrieb lange an ihrer Doktorarbeit und kurz bevor sie sie fertigstellte lernte sie einen jungen Mann kennen, mit dem sie schlief und von dem sie schwanger wurde, und dann verließ er sie. E. kam zu mir und erzählte mir das alles und dass sie Angst hätte irgendetwas zu machen und nicht wüsste was und wie, und dann schickte ich sie zu einem Kollegen, der Biologielehrer war und eigentlich Medizin studiert hatte und der kostenlos Abtreibungen in seiner Wohnung vornahm. Er hatte mir davon erzählt, als ich ihn in meine Religionsklasse eingeladen hatte, um über die Evolution zu reden. Er dachte wahrscheinlich, dass wir jetzt Freunde wären, und als ich mit ihm danach ins Lehrerzimmer ging, hatte er mir sein ganzes langweiliges Leben erzählt, dass er sein Medizinstudium abgebrochen habe, dass seine Frau ihn verlassen habe, dass seine Mutter noch lebte und dass er sie hasste, und dass er Abtreibungen vornähme, umsonst, aus Güte. Er hatte mich auch gebeten, Werbung für ihn zu machen, und ich dachte mir, warum nicht, jeder braucht ein Hobby. E. bat mich mitzukommen, und ich wartete vor der Wohnungstür, als der alte, kleine, glatzköpfige und stinkende Biologielehrer mit E. in sein Badezimmer ging. Ich musste sehr lange warten, und als ich begann, mir Sorgen zu machen, öffnete sich die Tür und E. kam raus, ganz langsam und bleich und mit Tränenspuren auf den Wangen. Sie sprach kein Wort, und ich ging neben ihr her, bis sie auf einmal in Tränen ausbrach und sagte, dass der Biologielehrer ihr zwar das Kind weggemacht habe, aber erst, nachdem sie mit ihm geschlafen hatte. Jetzt wusste ich natürlich, warum der fette Biologielehrer so gerne kostenlose Abtreibungen machte, und ich dachte mit Bedauern an all die armen Frauen, die ich zu ihm geschickt hatte, vor allem Kolleginnen.
Ich sagte E., dass sie ihn anzeigen könnte, aber sie sagte nichts mehr. Am nächsten Tag brach sie ihre Doktorarbeit ab und zog in eine andere Stadt, zu einer Schwester ihrer Mutter. Ich habe sie nie wieder gesehen.
Jetzt, da ich wusste, dass sie tot ist, wollte ich die genaueren Umstände ihres Lebensendes erfahren, und ich fuhr zu ihrer alten Adresse, aber ihre Eltern lebten dort nicht mehr, und ich wusste natürlich nicht, wo ich sie suchen sollte. Also schlug ich im Telefonbuch nach, um die Telefonnummern irgendwelcher Verwandten zu finden, und tatsächlich fand ich eine Nummer, die ihren Eltern zu gehören schien, aber als ich anrief, waren es andere Leute. Ich rief also noch einmal die alte Studienkollegin an, die ich im Supermarkt getroffen hatte und die mir von E.s Tod erzählt hatte, und fragte sie, von wo sie denn wisse, dass E. tot sei. Da sagte sie mir, dass sie eine Totenanzeige in der Zeitung gesehen habe. Ich fragte sie, wann die Beerdigung sei, und sie sagte mir, die wäre vor zwei Tagen gewesen. Dann sagte sie mir noch, wo ich das Grab finden könnte, und ich legte auf.
Am nächsten Tag ging ich zum Friedhof und fragte den Friedhofswärter nach E.s Grab. Er zeichnete mir den Weg auf einer Mappe ein. Der Friedhof war sehr groß und voller alter, hoher Bäume, sodass er eher wie ein Wald wirkte, und ich verlief mich mehrere Male, bis ich E.s Grab fand. Es war noch frisch, und nur ein kleines Holzkreuz markierte es. Lauter Blumenkränze lagen auf der aufgeworfenen Erde. Die Blumenkränze waren schon am Verfaulen, denn es war in den letzten Tagen immer abwechselnd feucht und heiß gewesen. Es waren vor allem Lilien und Rosen. Die Lilien verbreiteten einen starken, süßen Geruch. Am Rand waren die weißen und rosa Lilienblüten schwarz angelaufen. Es sah aus, als hätte jemand Tinte über sie gekippt. Ich begann, die Inschriften auf den Schleifen zu lesen. Überall stand: „Ruhe in Frieden“, „In liebevollem Andenken“ oder „Ruhe sanft“. Keiner hatte sich für E. etwas einfallen lassen. Dann las ich die Namen der Spender. Ich kannte keinen einzigen. Die Namen ihrer Eltern waren nirgends zu finden. Sie mussten wohl schon gestorben sein. Ich war erstaunt, wie viele um E. trauerten. Sie muss viele Freunde gehabt haben. Ich fand es schön, dass sie sich in ihrer Heimat begraben lassen hatte.
Das Leben hatte sie wohl zertreten, wie eine unserer Schnecken.