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Die Schnecke, der Wolf und die Ziege
Der Wolf döste in der Hängematte unter der Eiche. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Nun ja, zumindest das Aufhängen der Hängematte war in Arbeit ausgeartet. Er hatte doch tatsächlich eines der Seile über die Astgabel legen müssen, die er vom Boden aus nicht erreichen konnte. Was für eine Plackerei! Aber das Klettern hatte sich gelohnt, die Hängematte schaukelte sanft im Schatten des Blätterdachs.
„Wolf!“
Der Wolf hob den Kopf und blickte sich um. Es war die Schnecke, die sich eilte, ihn zu erreichen.
Keuchend rief die Schnecke wieder: „Wolf! Nun hör doch! Die Ziege lässt dir ausrichten, das Abendessen wäre fertig.“
Ohne sich für die Nachricht zu bedanken, sprang der Wolf aus der Hängematte und machte sich auf in Richtung des Hauses.
Die Schnecke hörte ihn murmeln: „Dusslige Kuh! Ist bestimmt wieder alles verkocht, so lange, wie die Schnecke jetzt unterwegs war. Oder kalt geworden.“
Der Wolf riss die Tür zur Küche auf und blickte in das enttäuschte Gesicht der Ziege, die mit dem Kochlöffel in der Klaue vor dem Ofen stand.
„Ach, der Herr bequemt sich auch endlich zu Tisch? Das Essen ist ja erst seit einer halben Ewigkeit fertig!“
Dem Wolf klappte ob solcher Dreistigkeit die Kinnlade nach unten.
„Bitte? Wie bescheuert kann man eigentlich sein, die Schnecke loszuschicken, mich zum Essen zu holen? Ist doch klar, dass das dauert!“
Er hob die Pfote.
„Und eins sag ich dir. Das nächste Mal rufst du mich gefälligst höchstselbst, sonst erinnere ich mich vielleicht noch daran, dass ich Fleisch durchaus zu schätzen weiß. Dein Veggie-Kram hängt mir nämlich langsam zum Hals raus!“
„Der Herr Wolf droht mir?“
Die Ziege ging auf den Wolf zu und tippte mit dem Kochlöffel an seine Brust.
„Nein, mein Lieber. Ich habe die Schnauze voll! Ich gehe! Und die Schnecke nehme ich mit!“
Dem Wolf lief derweil schon das Wasser im Mund zusammen. Die Ziege würde also früher als geplant dran glauben müssen. Ihre Vorgängerinnen hatten es doch ein paar Tage länger geschafft.
Er biss der Ziege ins Genick und schüttelte sie, bis ein lautes Knacken ihr Ende verkündete. Dann warf er sie zu Boden und riss ein ansehnliches Stück aus ihrer Seite. Rubinrot quoll es aus der Wunde und versetzte den Wolf in einen Rausch. Wie von Sinnen biss er Fleischfetzen aus dem toten Leib, verschlang sie und leckte das noch warme Blut.
Nach einiger Zeit war nichts mehr übrig, bis auf eine Ansammlung geleckter Knochen in einer roten Lache.
Von der Haustür ertönte ein Schrei. Die Schnecke hatte das Blutbad entdeckt und sah den Wolf aus großen Augen an. So schnell sie konnte, schleimte sie davon, doch der Wolf hatte sie mit nur zwei Sätzen erreicht.
„Mal sehen, ob du wenigstens als Einlage etwas taugst“, knurrte er.
Im noch köchelnden Topf mit Gemüse ging die Schnecke unter.
Kurze Zeit später lag der Wolf mit gespanntem Bauch wieder in der Hängematte. Die kommenden Tage blieb die Hausarbeit wohl an ihm hängen. Er schüttelte sich.
Ein paar weiße Wölkchen zogen vorüber. Der Wolf blickte zu ihnen auf und sinnierte: „Das nächste Mal lache ich mir ein feistes Säulein an. Ziegen sind doch etwas streng im Geschmack.“
Er leckte genüsslich einen letzten roten Fleck von seiner Schnauze.