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Die schlaue Tanne
Die schlaue Tanne
Vor langer Zeit wuchsen in einem großen Wald vier kleine Bäume. Zwei mit Nadeln, zwei mit Blättern. Eine kleine Tanne, eine Eiche, eine Linde und eine Fichte. Ihre winzigen Zweige ragten gerade über die Gräser und Farne in der Mitte der Lichtung. Ringsum standen viele mächtige Bäume, durch deren Zweige nur ab und zu ein Sonnenstrahl zu den kleinen Bäumchen drang, und dann wie ein kleiner Kobold von einem zum anderen hüpfte. Alle vier bemühten sich, so viel Sonnenstrahlen wie möglich mit ihren Blättern und Nadeln einzufangen, denn davon wurden sie satt.
"So groß wie diese alte Eiche möchte ich einmal werden", sagte Fichte und streckte ihren obersten Trieb mit den schönen dunklen Nadeln noch etwas weiter der Sonne entgegen.
Plötzlich erschütterte ein Donnern den Wald.
"Hilfe", piepste die kleine Tanne, und duckte sich hinter einem großen Farnwedel. Die Blätter von Eiche und Linde zitterten.
"Oje, oje, etwas Riesiges kommt direkt auf uns zu", jammerte die kleine Tanne.
Tatsächlich wurde das Donnern lauter. Linde sah es als erste:
Ein Pferd, dessen schreckliche Hufe im Galopp auf die Erde aufprallten und dort Gras, Blumen und kleine Bäumchen zertrampelten. Auf dem Pferd saß ein Reiter mit einer roten Uniform. Er sah schmutzig aus und erschöpft. Panisch wackelten die Laubbäume mit ihren Blättern, und versuchten vergeblich wegzulaufen, während sich die kleine Tanne noch kleiner machte und zur Tarnung ein großes Ahornblatt auf ihren obersten Trieb legte.
Schon sahen sich die vier Bäume von den gewaltigen Hufen des Pferdes zertreten, als der Reiter einfach über sie hinwegsprang.
Lindes herzförmige Blätter zitterten in einem fort.
"Da kommt ja noch einer!", rief sie. Das Stampfen von Pferdehufen wurde lauter, doch dieses Mal ritt der Reiter neben den kleinen Bäumen vorbei. Dort wo das Pferd auftrat, wurden Pflanzen und Bäumchen zertrampelt.
"Das ist unser Ende. Wir sind doch noch so jung", jammerte Linde. Fünf Mal hörten sie das Donnern der Pferdehufe auf sich zukommen, und jedes Mal meinten sie, ihr Ende wäre gekommen. Doch jedes Mal ritten die Reiter neben ihnen vorbei. Den ganzen Sommer horchten die Bäumchen ängstlich nach einem neuen Donnern, doch ab nun blieb es ruhig. Das hieß, abgesehen von dem nächtlichen Rufen der Eule und dem lauten Krächzen der Krähen, die sich auf einem der großen Bäume niederließen.
Als der Herbst kam, bewarfen Eiche und Linde die beiden Nadelbäume mit ihren Blättern.
"Huch ist das dunkel", sagte Tanne und schüttelte die Eichen- und Lindenblätter ab.
"Wartet nur, bis nächsten Sommer, dann bin ich auch einen Meter groß."
"Ich werde dann zwei Meter groß sein", erwiderte Linde.
"Und ich drei", rief Fichte. Eiche schwieg dazu. Sie war ja kaum größer als die Tanne. Heimlich nahm sie sich aber vor, zumindest größer als Linde zu werden.
Die Laubbäume warfen ihre letzten Blätter ab und begannen den Winterschlaf.
"Sind sie nicht verweichlicht? Ein bisschen Kälte und schon lassen sie alles fallen", sagte die Fichte im November zur Tanne.
"Ehrlich gesagt würde ich auch gerne meine Nadeln abwerfen und Winterschlaf halten. Sicher werden meine Nadelspitzen erfrieren und dann absterben", piepste Tanne.
"Laubbäume und Tannen. Ihr seid alle von der gleichen Sorte", antwortete die Fichte und streckte trotzig ihre grünen Nadeln in den kalten Novemberwind.
Aus dem kalten November wurde ein noch kälterer Dezember und dann tanzten Schneeflocken vom Himmel.
"Geht weg, setzt euch woanders hin", murrte die Fichte.
"Bitte, hier daneben auf den Farnen, habt ihr alle Platz. Meine Nadeln sind auch ganz unbequem", fügte Tanne hinzu.
Immer mehr Schneeflocken kamen und bald waren Fichte und Tanne über und über bedeckt. Wütend versuchte sie Fichte abzuschütteln. Doch, wo eine Schneeflocke herunterfiel, kamen drei neue nach.
"Weg mit euch hässlichen weißen Dingern!" Sie knirschte mit ihren Nadeln, doch es nutzte alles nicht und bald waren sie eingeschneit.
Der Jänner ging ins Land.
"Fichte?", fragte Tanne.
"Keine Angst, ich bin nicht weggelaufen", gab die Fichte missgelaunt zurück.
"Mir ist kalt."
"Mir auch."
"Mich drückt der Schnee so."
"Widerwärtiges Zeug. Und so unhöflich", gab die Fichte zurück.
"Nächstes Jahr werfe ich auch meine Nadeln ab."
Fichte antwortete nicht.
Nach einiger Zeit wisperte Tanne:
"Fichte?"
"Ja, ich steh noch immer neben dir."
"Ich glaube mein Wipfel ist abgefroren."
"Meiner ist auch schon völlig starr, aber ich halte das aus", antwortete Fichte.
Der Februar kam und der Schnee taute.
"Ich kann die Sonne sehen", jubelte Fichte. "Jeden Tag steigt sie ein bisschen höher. Bald haben wir es geschafft."
"Fichte? Ich sehe noch nichts."
Fichte wischte mit ihrem großen Ast über den Schnee, bis sie Tannes obersten Trieb sah.
"Ist das nicht herrlich? Wie schön die Sonne scheint", jubelte Tanne, die gierig Sonnenlicht trank.
"Sie könnte sich etwas beeilen. Ich möchte endlich wieder richtig strahlendes Licht haben, damit ich nicht mehr so hungrig bin."
"Ich bin bescheiden. Mir genügt schon ein kleiner Sonnenstrahl", meinte Tanne.
"Ein kleiner Sonnenstrahl?", schnaubte Fichte. "So wird aus dir nie ein richtiger Baum. Du musst dich strecken und alles Licht nehmen, das du kriegen kannst."
"Aber die anderen wollen doch auch etwas", erwiderte Tanne schüchtern.
"Die anderen? Dir gibt doch auch keiner etwas ab."
Darauf wusste Tanne eine Weile nichts zu antworten.
"Ich bin halt genügsam. Ich brauche nicht soviel", sagte sie schließlich. "Und alle sagen, dass ich die netteste Tanne bin, die sie kennen."
"Weil du zu freizügig bist und deine Wurzeln nicht in die Erde der anderen steckst und beim Sturm aufpasst, dass du niemandem die Blätter abreißt."
Endlich zog der März ins Land. Der Schnee schmolz und ringsum begannen die Frühlingsblumen zu blühen.
Jetzt wachten auch Linde und Eiche auf. Sie reckten und streckten sich, und begannen kleine Blätter aus den Knospen zu treiben.
"Dieses Mal überhole ich dich", meinte Linde zu Fichte. Daraufhin begann sich Fichte noch mehr zu strecken.
Kurze Zeit später strich ein kalter Wind zwischen den Bäumen hindurch und brachte erneut Schneeflocken mit sich. Linde und Eiche schüttelten sich, während Fichte und Tanne einander zuzwinkerten. Sie hatten weitaus mehr Schnee und viel kältere Nächte erlebt als die beiden Laubbäume.
Plötzlich schrie Linde auf.
"Ah, was machst du da? Du beißt mir ja die Knospen ab!"
Entsetzt sahen die anderen Bäume, dass ein braunes Tier mit Geweih bei Linde stand. Scharfe Zähne schnappten nach Knospen und Blättern und fraßen sie.
"Das ist ein Reh!", rief Fichte entsetzt.
"Lecker, lecker, diese jungen Blätter", sagte das Reh, und ignorierte die Protestschreie der Linde.
"Geh weg du widerliches Ding", herrschte Fichte das Reh an. Das Reh sah einmal böse zur Fichte und fraß dann weiter, bis die Linde kaum noch Blätter hatte. Dann trollte es sich seelenruhig davon.
"Au, tut das weh! Dieses böse Reh hat mir alles weggefressen", jammerte die Linde, die nur noch an ihrem kleinsten Ast Blätter trug.
"Beeil dich. Vielleicht kannst du noch ein paar neue Blätter treiben. Bis zum Sommer ist noch genug Zeit", versuchte sie Tanne zu trösten.
Jetzt fing Linde bitterlich zu weinen an.
"Ich werde schwach bleiben und klein und was ist, wenn dieses böse Reh wieder kommt und mir die letzten Triebe abfrisst? Ich kann doch nicht wachsen, wenn es mir immer meine Blätter wegnimmt."
"Ich werde dich beschützen", sagte Tanne.
"Du?", fragte Fichte. "Wie willst du Linde beschützen? Du kannst ja nicht mal einen Ast auf das Reh werfen, klein, wie du bist. Wartet nur bis morgen. Dem Reh werde ich es zeigen."
Am nächsten Tag erschien das Reh wieder. Dieses Mal bei der Fichte.
"Hm", sagte es. "Frische, saftige Fichtennadeln. Das wird mir schmecken."
"Weg mit dir, du Monster!" Fichte stellte ihre Nadeln auf und schlug nach dem Reh, doch dieses schnappte einfach nach Fichtes großem Ast und biss ihn ab.
"Auweh, auweh", jammerte Fichte und blickte weinend auf ihren großen Ast, den das Reh achtlos ins Gras geworfen hatte. Starr vor Schreck sahen die anderen Bäume, wie das Reh der Fichte alle Triebe bis auf einen abfraß.
"Morgen werde ich mir wieder leckere Blätter holen", verabschiedete sich das Reh und lachte höhnisch.
"Ich muss weg von hier", sagte Eiche und rückte ihre Wurzeln hin und her, während Fichte und Linde ihre angebissenen Spitzen verbanden. Tanne schwieg nur und dachte angestrengt nach.
Als das Reh am nächsten Tag kam, um bei Eiche zu fressen, rief Tanne:
"Hierher, liebes Reh. Ich habe ganz leckere Spitzen. Ach iss doch meine leckeren Spitzen."
"Bist du übergeschnappt?", zischte Fichte. "Versteck dich lieber."
"Du kommst schon noch dran, törichter kleiner Baum, obwohl bei dir ja nicht viel dran ist", antwortete das Reh und biss einige Knospen von der Eiche ab.
"Warum will denn niemand meine Triebe abknabbern. Sie sind doch so gut. Der Wolf gestern hat sie auch nicht gefressen."
"Wer?", fragte das Reh und sprang zur Tanne.
"Der Wolf, der gestern da war. Ich wollte ihm auch meine Triebe anbieten, doch er hat gemeint, er würde bald etwas Besseres hier zu Mittag bekommen. Dabei gibt es doch nichts Besseres, als meine Triebe."
"Wo ist der Wolf hingelaufen?", fragte das Reh in strengem Befehlston.
"Weiß ich doch nicht", jammerte Tanne. "Er hat nur gesagt, dass er auch mittagessen wird, wenn du das nächste Mal hierher kommst."
"Was?", schrie das Reh und sah sich zitternd um.
"Ich weiß auch nicht, was er damit gemeint hat, dass er mit dir Mittagessen will. Oder hat er gesagt, dass er dich zu Mittag essen will. Er hat so undeutlich geknurrt", setzte Tanne fort. Doch die letzten Worte hörte das Reh nicht mehr, denn es sauste wie der Blitz davon und wurde nie wieder gesehen.
"Du hast mich gerettet." Eiche umarmte Tanne und schluchzte vor Rührung. "Du warst so tapfer."
"Das hätte ich wirklich nicht geglaubt", meinte auch Fichte.
"Entschuldige, dass ich dich so oft aufgezogen habe."
Ab nun rückten alle drei ihre Wurzeln zur Seite, damit sich die Tanne ausbreiten konnte. Wenn sie sahen, dass der kleine Baum im Schatten stand, dann bogen sie sich zur Seite und ließen der Tanne jede Menge Sonnenstrahlen.