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Die Schlangengöttin
Ich hatte lange gebraucht, bis ich ihn gefunden hatte. Wie es zu erwarten gewesen war, hatte er mein Boot verkauft und Rügen den Rücken gekehrt. Aber hie und da hatte er auf seiner Reise Hinweise hinterlassen, hier ein Nachsendeantrag, dort eine angestrichene Zeitungsannonce, gemietete Autos und mit meiner Scheckkarte bezahlte Hotelrechnungen.
So war ich ihm während der letzten acht Jahre über den halben Kontinent gefolgt, von den stürmischen Ebenen Frieslands über die waldigen Hügel des Alpenvorlandes bis zu den felsigen Ufern der Ägäis.
Warum er nicht sofort nach Kreta zurückgekehrt war, konnte ich nicht verstehen. Vielleicht hatte er versucht, sie zu vergessen, diese Insel, auf der wir uns kennen gelernt hatten, wo alles noch Liebe und Leidenschaft gewesen war, das Glück so strahlend wie der Himmel über dem Palast von Knossos.
Kreta war nicht mehr meine Insel, sondern ihre, die Insel seiner Göttin. Ich hatte nie hierher zurückkehren wollen. Aber er konnte ihr nicht für immer fern bleiben.
Zum ersten Mal sah ich ihn in einer kleinen Bar am Hafen von Keratòkambos, wo die Touristen noch nicht hingefunden haben und die Fischer sich an den kleinen dunklen Tischen drängen und ihre Pfeifen rauchen.
Er stand an der Bar und hielt ein Glas mit einer milchigen Flüssigkeit in der Hand.
Ich lehnte mich an den verwitterten Pfosten der Eingangstür und beobachtete ihn. Er schien meinen Blick zu spüren, denn er blickte sich unruhig um. Er fühlte sich nach all den Jahren noch immer verfolgt. Gut so.
„Guten Abend,“ murmelte ich.
Sein Kopf fuhr unruhig suchend herum. Als er mich sah, fiel das Glas auf den Boden und zersprang klirrend. Er schüttelte ungläubig den Kopf und sein Blick wanderte über die Scherben, so als überlege er, ob er nicht doch schon zu viel getrunken hätte.
Ich langweilte mich und ließ ihn mit seinem verschütteten Ouzo allein.
Das nächste Mal erwartete ich ihn an der Straße nach Makritichos. Ich wusste, dass er eines Tages hier entlang gehen würde. Da er nach Kreta gekommen war, würde er auch zu dem kleinen antiken Tempel in den Hügeln von Makritichos gehen und sich an die blauen Kornblumen erinnern, die wir dort gepflückt und zu Kränzen für eine antike Göttin geflochten hatten, die mit bloßen Brüsten und mit Schlangen in den Händen zu tanzen schien.
„Sie ist die schönste Frau der Welt, findest du nicht,“ hatte er gefragt und mich dabei so Zustimmung heischend angesehen, dass ich automatisch genickt hatte. „Das Original steht im Museum in Iraklio, aber ich empfinde ihre Ausstrahlung hier draußen viel stärker.“ Nach einer kleinen Pause, in der er mich prüfend musterte, setzte er hinzu: „Du siehst ihr ähnlich.“ Er sprach leise, so als befürchte er, dass die Statue in hören könnte.
Er bekränzte mich mit den blauen Blumen und küsste zärtlich meinen Nacken.
„Meine Göttin,“ hauchte er und ich überlegte, ob er mich meinte oder die Tänzerin aus Stein.
„Wie schön sie ist,“ flüsterte ich. „Sie ist so anmutig und stark, dass ich sie beneiden könnte.“
„Aber leider kann kein Sterblicher sie besitzen.“
„Sonst hätte ich wohl eine ernsthafte Konkurrentin,“ versuchte ich zu scherzen, obwohl mir in diesem Moment nicht danach zumute war und er hatte mich lachend in die Arme gezogen und meine Verwirrung fortgeküsst.
Als er jetzt den steilen Weg zum Tempel emporkletterte, erinnerte nichts an den lachenden Mann von damals. Sein Rücken krümmte sich, als trüge er eine schwere Last. Mit schleppenden Schritten wanderte er in der glühenden Mittagssonne die Straße entlang. Die Ruinen glitzerten weiß in der Sonnenglut und schienen ein überirdisches Licht zu verstrahlen. Aber vielleicht konnte nur ich diesen Glorienschein der Vergangenheit sehen, vielleicht erschienen sie ihm kalt und grau und tot.
Ich lehnte mich an einen alten Olivenbaum, der mit seinen knorrigen Ästen einen schmalen Schattenstreifen über die glühenden Steine warf.
„Guten Tag, Gunter,“ sagte ich. Ich sagte es leise und ohne jede Betonung, aber er zuckte zusammen, als hätte ihn ein Peitschenhieb getroffen.
Seine glasigen Augen fanden mich, sie glitten an mir ab und suchten verzweifelt die Ferne. Das Meer warf seinen Blick zurück auf mich und ich fing ihn ein und hielt ihn fest. Wie mit einer unsichtbaren Fessel hielt ich ihn und er stand in der Hitze der Sonnenstrahlen und wagte nicht, den einen Schritt in den Schatten des Olivenbaumes zu tun.
„Du kannst nicht hier sein,“ flüsterte er und schüttelte den Kopf, als wollte er eine Halluzination verscheuchen.
Jetzt, da er mich wahrgenommen hatte, konnte ich stumm bleiben. Ich lehnte weiter am Stamm des Olivenbaumes und lauschte dem Konzert der Zikaden in den Zweigen. Vielleicht hatte ich mich von dem Zirpen ablenken lassen, denn er entkam der Fessel meines Blicks und rannte wie von Furien gejagt den Weg zurück, den er gekommen war.
Eine Zeit lang ließ ich ihn in Ruhe, beobachtete ihn nur von ferne. Es schien, als wolle er um keinen Preis der Welt Kreta wieder verlassen. Sonst wäre er nach unserer Begegnung bestimmt von der Insel geflohen.
Er ließ mehrere Wochen verstreichen, bis er sich wieder auf den Weg nach Makritichos wagte.
Diesmal erwartete ich ihn im Innern des Tempels. Die Statue der tanzenden Göttin stand vergessen in einer dunklen Nische. Ich setzte mich auf den steinernen Thron im Schatten der alten minoischen Säulen. An den Wänden um mich her pflügten blaue Delphine durch ein schaumgekröntes Meer.
Er trat durch die Tür und zu meiner Verwunderung hielt er einen Kranz blauer Kornblumen in den Händen.
„Du bringst mir Blumen?“ fragte ich leise.
Plötzlich kniete er vor dem Thron nieder und legte den Kranz zu meinen Füßen in den Staub. Konnte es sein, dass er mich nicht erkannt hatte?
„Ich bitte dich, vergib mir,“ bat er.
Ich blieb stumm.
„Immerzu sehe ich ihr Gesicht. Sogar in dir, Göttin, erscheint sie mir. Wir waren so glücklich, hier auf Kreta.“
„Warst du nicht überall glücklich mit ihr?“
„Sie war es nicht. In den vertrautesten Augenblicken hatte ich das Gefühl, dass sie an Dich dachte. Nicht so wie ich, sondern ärgerlich. Sie war eifersüchtig.“
„Das hat sie dir gesagt?“
„Sie sagte es nie, aber ich konnte es fühlen.“
„Und welches Gefühl hast du jetzt?“
Er hob ein von tiefen Furchen gezeichnetes Gesicht zu mir empor.
„Jetzt ist sie zufrieden, denn sie ist dort, wo sie schon immer so gerne war, im Meer.“
Ich erhob mich von dem verschatteten Thron und trat in einen Strahl Sonnenlicht.
„Warum fragst du mich nicht selbst, wie ich mich fühle?“
Er sprang auf und wich zurück, den Arm zur Abwehr erhoben, als hätte ich noch die Macht, ihn zu schlagen.
„Du machst es dir wirklich zu einfach, mein Lieber. Ich habe Kreta geliebt und Rügen und das Meer.“ Ich machte eine kleine Pause und setzte dann leise hinzu: „Und dich.“
Er schüttelte energisch den Kopf.
„Wer bist du? Du kannst nicht wissen, ob sie mich geliebt hat. Sarah kannst du nicht sein. Ich muss das wissen.“
Als ich lachte, fing er an zu schreien.
„Ich muss es wissen, hörst du. Ich muss es wissen!“ Er schrie so lange, bis er keuchend auf den Stufen des Throns zusammenbrach.
Ein hysterisches Gelächter schüttelte ihn.
Ich beugte mich über ihn. Er stank nach Angst, nach Todesangst.
„Warum weißt du so genau, dass ich nicht Sarah sein kann?“ flüsterte ich nahe an seinem Ohr.
„Weil Sarah tot ist,“ keuchte er. „Weil ich sie getötet habe, mit meinen eigenen Händen.“ Er schüttelte seine Fäuste in einer verzweifelten Geste. „Ich habe sie erwürgt, ich habe ihr Boot aufs Meer hinausgefahren. Ich habe ihr den Stein an die Füße gebunden und sie ins Wasser gestoßen, in ihr geliebtes Wasser. Ich habe sie umgebracht und deshalb weiß ich, dass du nicht Sarah sein kannst. Ich habe sie umgebracht!“ Er schluchzte. „Ich habe Dich umgebracht.“
Aus dem Schatten kroch eine kleine Schlange lautlos über den staubigen Mosaikboden. Auch er hatte sie entdeckt und beobachtete sie, als warte er darauf, sie zu begrüßen.
„Erinnerst du dich an die tanzende Göttin mit den Schlangen?“ frage er unvermittelt. Eben noch hatte er mich für diese Göttin gehalten.
Ich nickte und folgte der Schlange mit den Augen. Sie schien nur ein Ziel zu haben, Gunter.
Auch er ließ keinen Blick von dem Reptil mit der glänzenden Haut.
Ohne zu überlegen griff ich nach der Schlange. Erstaunt bemerkte ich, dass ich sie halten konnte. Ich fasste sie um die Mitte und hob meinen Arm mit ihr dem Licht entgegen, so wie die steinerne Tänzerin mit den bloßen Brüsten es tat.
Ich tanzte und wiegte mich und Gunter lag auf den Stufen und starrte mich an.
„Ich liebe dich,“ flüsterte er und ich ließ meinen Arm sinken und die Schlange glitt aus meiner Hand auf Gunters Brust.
Ich hörte ihn aufstöhnen und sah zwei dünne Blutfäden seine Schulter hinabrinnen, dort, wo die Schlange ihre Zähne in sein Fleisch gegraben hatte.
„Nun sind wir beide dort, wo wir gerne sind,“ murmelte ich, während ich verblasste und zurücksank in mein nasses Grab, in das er mich gestoßen hatte, „du bei der Schlangengöttin und ich im Meer.“