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Die Schlange
Die Schlange wuchs immer mehr. Maria hatte das Gefühl, bald wäre sie so lang, dass sie mit dem Schwanz die Kohlköpfe in der Gemüseabteilung umwerfen könnte. Sie war müde, und das ständige Piepen bereitete ihr einen stechenden Schmerz, links in ihrem Hinterkopf. Der jetzige Kopf der Schlange war ein alter Mann, der ihr sagte, er hätte es passend. Ihr kam es vor wie eine Ewigkeit, bis er die 10,20€ endlich in Münzform auf den Tresen legte. Sie nahm das Geld entgegen, wünschte ihm einen schönen Tag und begrüßte den nächsten Kopf.
Sie sehnte sich nach ihrem kleinen Sofa in ihrer winzigen Wohnung am Rande der Stadt. Und nach ihrem Hund, der nun auch schon seit Stunden alleine war. Es tat ihr leid, dass sie so wenig Zeit für ihn hatte, doch sie brachte es nicht über’s Herz ihn wegzugeben. Dafür liebte sie den kleinen Dackel zu doll. Und sie fühlte sich doch ohnehin schon so alleine, seitdem ihr Horst nichtmehr vom „nur kurz Zigaretten holen“ zurückkam.
Piep. Sie zog eine Salatgurke über das Kassenband und gleich danach eine Packung Eiscreme. „Tropical Fruits“ stand drauf und sie fragte sich, ob der jetzige Kopf der Schlange, sich damit ein wenig Urlaubsfeeling nachhause holen wollte.
„20,35€, bitte“, sagte sie und strecke der Frau mit den Wasserstoffblonden Haaren ihre Handfläche entgegen. Die junge Frau legte ihr ihr einen zwanzig und einen fünf Euroschein hin und Maria kramte das Wechselgeld hervor.
Jeden Tag die gleiche Prozedur, das Einzige was sich änderte, war das Datum. 21 Oktober, 23 Oktober... Welches Datum war es heute? War es der 25 Oktober? Maria konnte sich nicht dran erinnern. Sie rieb sich über die brennenden Augen, ihr Hintern und ihre Arme schmerzten. Sie hasste diese Eintönigkeit. Außerdem konnte sie Schlangen nicht austehen und ganz besonders nicht die, die sie jeden Tag auf ihrer Arbeit heimsuchte.
„Hallo?“
Maria schreckte auf. Der Jugendliche vor ihr blickte sie halb wartend, halb spöttisch an. Für einen Moment wollte sie ihn fragen, ob sie ihm helfen könnte, doch dann fiel ihr ein, dass er nur darauf wartete, dass sie seine Waren über das Warenband zog.
„Entschuldigung“, murmelte sie und das Piepen setzte fort. Sie spürte die abschätzenden Blicke des Jugendlichen immer noch auf sich. „Wenn du deine Schule nicht ordentlich machst, wirst du am Ende noch Kassierer!“ hatten seine Eltern im bestimmt engetrichtert. Und nun stimmte er seinen Eltern in Gedanken zu, das spürte sie.
Ob du deinen Kindern das gleiche geraten hättest? Fragte sie sich selbst während sie eine Tüte Chips über das Band zog. Piep.
Vielleicht schon, aber Horst hatte nie Kinder gewollt.
Sie wünschte dem Jungedlichen einen schönen Tag und er ging, ohne etwas zu erwidern. Maria war das gewohnt, mittlerweile nahm sie sich das nicht mehr zu Herzen. Zumindest nicht immer. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, 19:30 Uhr. Sie bat die Schlange, sich an einer anderen Kasse zu positionieren. Die Schlange stöhnte auf und kroch dann langsam nach nebenan. Maria schloss ihre Kasse ab und legte ihren Kittel in ihren Spind.
Seufzend ließ sie die Schlange und das nervtötende Piepen hinter sich. Noch 14 Stunden. Dann sehen würde sich, das Gleiche wie jeden Tag, wiederholen.