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Die Schlange

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22.10.2010
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Die Schlange

Das erste Mal fiel es mir in der Badeanstalt auf. Ich hielt es erst noch für eine optische Täuschung, von wegen perlendes Wasser oder so. Aber es ließ mir keine Ruhe, so schaute ich genau hin. Ja, kein Zweifel, es bewegte sich! Ganz eindeutig!

Ich ging also zu dem Familienvater hin und sprach ihn an: „Entschuldigen Sie, Sie haben da was am Rücken.“

„Wie bitte?“ Er schaute mich erschrocken an. „Was ist es denn?“

„Das weiß ich nicht. Es ist unter der Haut und bewegt sich.“

Der Familienvater versuchte vergeblich, sich selbst auf den Rücken zu schauen, dann mit den Händen zu tasten. „Ich merke nichts davon!“ rief er panisch.

„Aber es bewegt sich, ich sehe es genau...“ Ich legte vorsichtig die Hand auf seine Rückenmitte und spürte, wie sich etwas Weichfestes bewegte, genau dort, wo sich eigentlich die Wirbelsäule befinden sollte. Mit den Fingerspitzen fuhr ich an dieser Struktur entlang. „Es fühlt sich an wie eine Schlange.“

Der Familienvater starrte mich entsetzt an. Seine Frau stieß mich von ihm weg. „Das reicht jetzt aber. Verschwinden Sie, oder ich rufe die Polizei! Wenn da etwas, was sich bewegt, wäre, hätte ich das schon längst gemerkt!“

„Vielleicht ist es ganz neu“, erwiderte ich. „Schauen Sie doch, jetzt bewegt es sich!“

Sie schaute widerwillig auf den Rücken ihres Mannes und schrie auf.

„Was ist denn?“ fragte er entsetzt.

„Er hat Recht! Es hat sich wirklich was bewegt! Bis in den Kopf hinein!“

„Wir müssen es rausschneiden“, sagte ich energisch. „Sofort!“

„Ich lasse einen Krankenwagen rufen!“ sagte die Frau und rannte los.

„Ich weiß nicht...ob die Zeit dafür reicht?“

„Wie meinen Sie das?“ fragte der Familienvater, nun in der Farbe mit dem strahlendsten Weiß eines OP-Saals wetteifernd.

„Vielleicht sind Sie tot, bis der Krankenwagen hier ist, wenn wir nichts unternehmen“, meinte ich besorgt. „Ich könnte versuchen, Ihnen das Ding rauszuschneiden. Es könnte sonst ja sein, daß es sich Ihnen ins Hirn frißt. Ich denke, das ist ein Parasit, den Sie sich hier eingefangen haben.“

„Ins Hirn frißt? Um Gottes willen, schneiden Sie es bitte sofort raus!“

Ich nickte und bugsierte ihn zum Restaurant, wo ich mir ein scharfes Messer geben ließ. Dann wies ich ihn an, sich bäuchlings auf einen Tisch zu legen und begann zu schneiden. Ich schob das Messer oberhalb des Beckens rein, ließ die Klinge an dem zuckenden Teil entlang nach oben wandern bis zum Nacken und zog dann Haut und Fettschicht zur Seite, so daß ich das blutige, sich windende Vieh packen konnte. Es sah aus wie ein riesiger Wurm, dessen Kopf im Kopf des armen Mannes steckte. Ich zog mit aller Kraft daran, bis ich es in der Hand hatte, dann schnitt ich dem Wurm den Kopf blitzschnell ab.

„So, es ist vollbracht“, sagte ich zu dem Mann. „Wie fühlen Sie sich?“

Er gab keine Antwort. Als ich seinen Kopf zu mir drehte, starrte ich in seine offenen, glasigen Augen. Er war tot. Schon lange.

Schreie rissen mich aus meiner Schreckstarre. Die Schreie seiner Frau.

„Er hat ihn umgebracht! Er hat ihn umgebracht!“

Der Schrei hallte mir lange nach, bis in die Todeszelle. Hier bekam ich Zeit und Gelegenheit, über den Wurm nachzudenken und nachzuforschen. Nach jahrelanger Arbeit reifte in mir immer stärker die Erkenntnis, daß die Menschen die Ausnahme sein mußten, die nicht von diesem Wurm befallen waren, deren Rückgrat nicht von so einem Wurm gebildet wurde. Doch wovon hing es ab?

Und vor allem: Gehörte ich zu den Ausnahmen?

Es sprach Vieles dafür. Vor allen Dingen die Tatsache, daß ich überhaupt in der Todeszelle saß. Daß ich den Wurm bei diesem unglücklichen Mann gesehen und entfernt habe. Wäre ich einer von denen, hätte ich das gewiß nicht getan. Das bedeutete, daß ich keinen Wurm in mir tragen konnte. Das bedeutete aber auch, daß mir der baldige Tod gewiß war, ohne Aussicht auf Begnadigung.

Ich konnte nur auf mich selbst hoffen. Immerhin bestand ja die Möglichkeit, daß ich der einzige Mensch ohne Wurmbefall war.

Wo die Würmer herkamen, konnte ich nicht herausfinden, auch nicht, wie lange es sie schon gab. Oder wie sie sich eigentlich fortpflanzten. Nur daß es sie gab und daß sie sich durch ihr unlogisches, widerwärtiges Tun verrieten.

Ich fragte mich allerdings, wieso ich sie nicht früher schon bemerkt hatte. Diesen Punkt mußte ich noch versuchen zu klären, denn er ließ mir keine Ruhe.

Der Tag meiner Hinrichtung nahte. Ich sollte geköpft werden.

Ich intensivierte meine Nachforschungen. Zu meinem Glück hatte ich freien Zugang zur Gefängnisbibliothek und beschränkten Zugang zum Internet. Aber es reichte für wertvolle Erkenntnisse. So wurde das Bild für mich immer klarer und meine Angst immer größer. Ich mußte erkennen, daß sie in der Tat schon die gesamte Menschheit befallen hatten. Alle, die sich resistent gegen sie zeigten, wurden beseitigt, so, daß niemand Verdacht schöpfen konnte.

Dann kam der Tag, der der Tag meines Todes sein sollte. Ich hatte es nicht geschafft, aus dem gutgesicherten Gefängnis zu entkommen, ich fand keine Lücke, durch die ich hätte schlüpfen können. So beschloß ich, diesen Bastarden wenigstens nicht die Genugtung zu geben, Schwäche zu zeigen.

Ich schritt erhobenen Hauptes in den Raum, in dem die Exekution stattfinden sollte. Erhobenen Hauptes ließ ich die letzte Leibesvisitation über mich ergehen, und ebenfalls erhobenen Hauptes ließ ich mich bäuchlings auf die Holzbank fesseln, die in Höhe meines Halses getrennt war, damit das Fallbeil ungehindert durchgehen konnte.

Mit geschlossenen Augen hörte ich zu, wie das Todesurteil und die Begründung verlesen wurden und wie alle bis auf den Henker den Raum verließen.

Dann hörte ich das Geräusch des runtergleitenden Fallbeils und wurde bewußtlos.

Mein erster Impuls war Überraschung. Ich hielt das Fallen in Bewußtlosigkeit für einen Akt der Gnade, der mich davor bewahren sollte, das Sterben mitzubekommen. Daß ich jetzt wieder mein Bewußtsein erlangte, konnte nur bedeuten, daß irgendwas bei der Hinrichtung schief gegangen war. An ein Leben nach dem Tod und so glaubte ich ja nicht, denn das war einfach nur Dummschwätz von Leuten, die den Tatsachen nicht ins Auge schauen wollten.

Fakt war jedenfalls, daß es wieder hell wurde und nicht für immer dunkel blieb. Ein sehr überraschender Fakt, wie ich zugeben mußte.

Vielleicht hatte sich das Beil im letzten Augenblick verhakt. Ich meine, ich wäre nicht der erste Mensch, bei dem eine Hinrichtung schiefläuft und dann sogar begnadigt wird. Wobei, letzteres dürfte in diesem Fall eher unwahrscheinlich sein.

Was mich irritierte, war der unscharfe Blick. Ich konnte sehen, ganz eindeutig, es war auch hell, aber ich konnte keine Konturen erkennen. Nur einige Schatten, die sich zu bewegen schienen.

„Hallo?“

Einer der Schatten näherte sich und ich hörte: „Ja?“

„Was ist passiert? Ich sollte doch hingerichtet werden!“

„Ja, das ist auch geschehen“, erwiderte die Stimme freundlich.

Ich schwieg.

„Das ist sicher etwas erschreckend für dich, denn du hast dich ja bis zuletzt geweigert, an diese Möglichkeit zu glauben“, fuhr die freundliche Stimme fort.

„Wieso kann ich nicht richtig sehen?“ fragte ich nachdenklich.

„Deine Augen müssen sich erst ans Sehen gewöhnen“, antwortete die freundliche Stimme.

„Aha...und wer bist du?“

„Mein Name ist Immes. Ich bin hier sowas wie ein Empfangskomitee, weil immer wieder welche bei uns ankommen, die damit nicht gerechnet haben. Damit der Schock nicht zu groß wird und sie direkt wieder in ihr altes Leben zurückkehren, bin ich da und helfe dabei, die Realität zu akzeptieren. So wie bei dir.“

„Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz...“

Die freundliche Stimme lachte. „Eben. Jetzt erhol dich mal, ich werde dir dabei behilflich sein, deine Augen nutzen zu lernen.“

Es dauerte lange, bis ich lernte, Konturen zu erkennen. Naja, im Vergleich zu meinem bisherigen Leben dann auch nicht so lange. Immes und und ihre Kollegen kümmerten sich vorbildlich um mich und meine Leidensgenossen. Gelegentlich bekamen wir mit, wie ein Neuankömmling sofort die Station verlassen konnte und sich vollkommen sicher bewegte.

Ich fragte Immes, wovon es abhing, wie man hier ankam.

„Das hängt davon ab, ob ein Mensch die Schlange akzeptiert.“

„Wie meinst du das? Ich hielt die Würmer für Teil einer Invasion.“

Ich erkannte undeutlich, daß Immes sanft lächelte. „Es gibt keine Invasion. Alles ist schon vom Beginn an da. Noch genauer, die Schlange ist ewig. Bei der Zeugung beginnt sich ein Körper um die Schlange herum aufzubauen, wenn das fertig ist, erfolgt die Geburt. Der Mann, dem du die Schlange rausgerissen hat, starb nicht, aber die Hülle war ohne die Schlange leblos.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Du wirst es verstehen, wenn du soweit bist“, erklärte Immes freundlich.

Es gab weder Tage noch Nächte, es gab überhaupt keine Zeit. Es war ein ganz seltsamer Zustand, der aber irgendwann zur Normalität wurde. Irgendwann? Ich begann, darüber nachzudenken, was das eigentlich bedeutete. Wenn es keine Zeit gab, wie lange war ich dann schon hier, und wie lange mußte ich noch hier bleiben? Welche Bedeutung hatten diese Fragen dann überhaupt?

Ich fragte wieder Immes.

Sie antwortete: „Du bist soweit, wenn du die richtigen Fragen stellst.“

„Warum beantwortest du nicht meine Fragen einfach?“ Ich spürte Ärger in mir hochsteigen, doch das beeindruckte Immes in keinster Weise.

„Du wirst es verstehen, wenn du soweit bist“, erwiderte sie freundlich.

„Und wann wird das soweit sein?“

Immes lächelte. „Du allein entscheidest das.“

Ich entscheide das? Was meinte sie damit? Ich verstand es nicht. Immes weigerte sich aber, mir auf meine diesbezüglichen Fragen eine Antwort zu geben. Der Satz bohrte sich aber in mein Bewußtsein und quälte mich fortan ohne Unterlaß. Was konnte es bedeuten? Meine Sehfähigkeit war eindeutig nicht hergestellt, auch wenn ich es noch so sehr wollte. Wie sollte ich also eine Entscheidung treffen? Welche genau überhaupt?

Es war unlogisch. Es hing nicht von mir ab, es war nicht meine Entscheidung, denn dann hätte ich schon längst sehen können. Ich wollte es ja, ich wollte nichts sehnlicher.

Dennoch...ich ging davon aus, daß Immes einen guten Grund hatte, diese Aussage zu treffen. Sie hatte eine bestimmte Bedeutung, die ich offensichtlich nicht verstand. Und deswegen kam ich auch hier nicht weg. Ich mußte eigentlich nur die Bedeutung hinter der Aussage, hinter den Worten erkennen, dann hätte ich den Schlüssel, der mich hier rausführte.

Ich ging zu Immes. „Immes, ich will hier raus.“

„Dann geh.“

Ich starrte sie an. „Ich kann gehen? Einfach so?“

„Natürlich.“ Immes lächelte freundlich. „Hast du etwa gedacht, du mußt hier bleiben?“

„Davon ging ich aus.“

„Warum?“

„Weil...weil...“ Ich forschte in meinem Gedächtnis und stellte fest, daß mir nicht gesagt worden war, daß ich hier bleiben muß. Weder von Immes noch von sonst jemandem.

„Es war deine Entscheidung, bei uns zu bleiben“, sagte Immes.

„Meine Entscheidung?“

„Ja. Oder hat dich jemand festgehalten?“

„Nein, das nicht, aber...“

„Siehst du“, sagte Immes. „Du hast dich so entschieden, aber weil du dir das offensichtlich nicht eingestehen konntest, mußtest du dir etwas drumherum basteln, etwas, was du kanntest und was du akzeptieren konntest. Also hast du dich selbst so entschieden. Und genauso kannst du dich entscheiden zu gehen.“

Ich war erschüttert. Auf einmal konnte ich sie sehen, klar und deutlich. Und das, was ich sah, hatte überhaupt nichts mit dem zu tun, was ich dachte, daß ich es sehen werde, wenn ich wieder sehen kann.

Es war völlig anders.

Ich kletterte aus meiner Box und begann über den Boden zu krabbeln.

 

Hallo suzso

Durchgehend spannend und flüssig geschrieben dünkt mich Deine erste Geschichte hier. Ab dem Schnitt dachte ich, es läuft auf eine Geisteserkrankung hinaus, nach dem Fallbeil dann eher auf Esoterikzeug, doch dann gab es eine Wendung wie zu Sartre hin. Es erklärte mir auch die Platzierung in der Rubrik Philosophisches. Nur der Schluss ist für mich irgendwie nicht rund, es ist zu viel offen, unbeantwortet.

Sehr gern gelesen.

Gruss

Anakreon

 

Hallo Anakreon,

danke für die Rückmeldung.

So gaaaanz zufrieden bin ich mit dem Ende auch nicht; andererseits käme mir jeder konkretere Abschluss "einengend" vor.

Wenn mir was einfällt, was meinen Bedenken Sorge trägt, ändere ich es noch ab. Im Moment enthält die Offenheit vom Ende ja auch eine Aussage. :-)

LG

suzso

 

Hallo suzso,

ich empfehle eine radikale Kuerzung, die die Geschichte m.E. doppelt so gut machen wuerde. Genauer gesagt, wuerde ich einfach alles nach diesem Satz loeschen:

Der Schrei hallte mir lange nach, bis in die Todeszelle.
Der Anfang ist mysterioes und eklig. Ist das echt ein Parasit? Steuert er den Mann vielleicht, wenn er da bis ins Hirn reicht oder ist der Typ verrueckt und hat ihm mal eben die Wirbelsaeule rausgerupft? Aber warum kann die Frau die Bewegung dann auch sehen? Da sind Bilder drin und alles. Was danach kommt ist bildlos und schwammig. Der sucht da so unspannend rum, ohne irgendwas Konkretes zu finden und was Immes ihm da als Erklaerung liefert ist langweiliger als das, was ich mir selber haette ausdenken koennen.

Deshalb nur Detailanmerkungen zum ersten Teil:

Ich hielt es erst noch für eine optische Täuschung, von wegen perlendes Wasser oder so.
wegen des perlenden Wassers - das sehr umgangssprachliche passt fuer mich nicht

„Ich weiß nicht...ob die Zeit dafür reicht?“
Puenktchen durch Komma ersetzen und Fragezeichen durch Punkt

„Wie meinen Sie das?“ fragte der Familienvater, nun in der Farbe mit dem strahlendsten Weiß eines OP-Saals wetteifernd.
Das OP Bild kommt mir sehr weit hergeholt vor und haut auch durch die umstaendliche Konstruktion nicht richtig rein. Wenn schon: fragte der Familienvater, der nun weiss wie ein OP-Saal war.

lg,
fiz

 

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