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Die Schlüsselbuche
Dieser Tag würde kein guter Tag werden.
Das wusste Sophia Schneider schon, als sie vom Telefon geweckt wurde. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, jedenfalls war es noch dunkel, was aber kurz vor der Wintersonnwende nicht allzu viel zu sagen hatte...
Sie angelte müde nach ihrer Brille und eilte zum Telefon.
"Oh, Entschuldigung, falsch verbunden."
Sie hatte ja gewusst, es würde kein guter Tag werden.
Der Blick auf die Uhr teilte ihr mit, dass sie eigentlich noch fast fünfzig Minuten hätte schlafen können. Die Aussicht, noch einmal in das warme Bett zu kriechen, reizte sie sehr. Schließlich gab sie aber seufzend diese Vorstellung auf. Sie wusste, sie wäre müder als jetzt, wenn sie sich noch einmal hinlegen würde. Da sie sowieso noch schläfrig genug war, wollte sie das nicht riskieren.
Also stellte sie müde die Kaffeemaschine an und verschwand in das viel zu kalte Bad, um sich frischzumachen.
Als sie sich schließlich eine halbe Stunde später - eigentlich viel zu früh - auf den Weg zur Arbeit machte, fühlte sie sich immer noch nicht viel besser.
Sie hatte die Wahl zwischen einem völlig überfüllten Bus oder einem Spaziergang zur Arbeit. Da sie sowieso zu früh dran war und sie außerdem ein schlechtes Gewissen plagte wegen der Tafel Schokolade vom Vortag, entschied sie sich für die zweite Möglichkeit, was sie allerdings recht schnell wieder bereute.
Es war immer noch nicht richtig hell und würde es wohl heute auch nicht werden. Dazu war es zu diesig. Ein kalter Nieselregen verdarb ihr endgültig die Stimmung.
Ihr Weg führte sie durch ein kleines Wäldchen. Eigentlich mehr eine Baumgruppe. Gedankenverloren schaute sie die Bäume an, wie schon so oft. Immerhin wohnte sie seit ihrer Kindheit in dieser Gegend und meinte, sie wie ihre Westentasche zu kennen. Heute allerdings sah sie etwas, das ihr bisher nie aufgefallen war. An einem Baum - einer Buche - hing ein Schlüssel an einem Zweig. Ein alter, verrosteter, schon richtig eingewachsener Schlüssel. Wahrscheinlich hatte den vor ein paar Jahren einmal jemand im Wald verloren und jemand anders hatte ihn an diesen Zweig gehängt. Oder warum sollte jemand einen Schlüssel an einen Baum hängen?
Sie starrte wie gebannt auf den Schlüssel, dessen Existenz einerseits so klar war und andererseits so unwirklich erschien. Vorsichtig berührte sie ihn, ließ aber sehr schnell wieder los, als sie ein Geräusch hörte. Was war das gewesen? Es klang ein bisschen wie Musik... Als das Geräusch sich nicht wiederholte, berührte sie den Schlüssel ein weiteres mal, diesmal darauf gefasst, etwas zu hören. Und so war es auch. Als würde der Baum oder der Schlüssel summen... Probehalber ließ sie noch mehrmals los und fasste wieder zu. Jedesmal das gleiche Geräusch...
Sie schaute sich misstrauisch um. Erlaubte sich jemand einen Scherz mit ihr? Gleichzeitig wollte sie aber auch sichergehen, dass sie niemand beobachtete. Ein bisschen lächerlich machte sie sich hier ja schon, in Tuchfühlung mit einem Baum...
Niemand zu sehen.
Nun gut, dann sollte sie wohl etwas mutiger werden. Sie fasste ein weiteres Mal den Schlüssel an und hielt ihn diesmal fest. Tatsächlich, leise Musik. Der Baum summte. Und nicht nur das: Nach einer Weile begann sie auch Worte zu verstehen. Die Buche erzählte... erzählte von Herbststürmen und dem Schmerz, wenn sie ihre schönen Blätter verlor... von Eichhörnchen, die sich zur Zeit der Bucheckern bei ihr versammelten und von Mardern, die hin und wieder die Eichhörnchen jagten... von Paaren, die sich heimlich bei ihr getroffen hatten, um eine Nachricht, einen verstohlenen Kuss oder mehr auszutauschen... von der Frühlingssonne, die die Knospen zum Aufspringen brachte... von dem angenehm kühlen Gefühl, wenn die Wurzeln nach langer Trockenzeit den ersten Regen aufsaugten...
Sie erzählte noch lange weiter, von den Dingen, die eine Buche beschäftigen, und das waren viel mehr, als Sophia sich je hätte träumen lassen.
Fast war es ihr, als könnte sie diese Gefühle selbst spüren. Wie es war, wenn der Wind durch die Blätter fuhr oder der Schnee schwer auf den Zweigen lastete... Von dem schlechten Anfang des Tages war jedenfalls nichts mehr zu spüren, sie fühlte sich wunderbar leicht und erfüllt von den Erzählungen und Gesängen der Buche. Sie war nur noch von dem Wunsch erfüllt, bei ihr zu bleiben und auf ewig ihren Geschichten zu lauschen.
Sie wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, bis sie wieder richtig zu sich kam. Sie schüttelte sich die letzten Fetzen dieser Erfahrung ab, die ihr wie ein Traum vorkam, und wollte sich auf den Weg zur Arbeit machen, zu der sie mit Sicherheit schon zu spät kommen würde.
Als sie an sich herabsah, um den korrekten Sitz ihrer Kleidung zu überprüfen, sah sie allerdings etwas, das sie normalerweise sehr verwundert hätte. Das Interessante daran war, dass sie eigentlich mit nichts anderem gerechnet hatte... Sie war grün. Grün und schlank. Groteskerweise verwunderte sie letzteres sogar mehr als die ungewöhnliche Farbe. Sie fuhr sich durch die Haare und ahnte schon, dass sie Blätter spüren würde. Nun wusste sie, was mit ihr passiert war, wenn sie sich auch nicht genau erklären konnte, wie das geschehen war. Eigentlich war das aber auch nicht wichtig, sie war glücklich.
Sie konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Sie war eine Dryade, ein Waldgeist, eine Baumnymphe.
Sie nahm ihre Brille ab, die sie nicht mehr brauchen würde. So klar hatte sie noch nie sehen können.
Dann kletterte sie behände auf ihre Buche und lauschte ihren Gesängen.
Was immer geschehen würde, mit der Einschätzung des Tages hatte sie sich jedenfalls geirrt.