Die Schläferin
Die Schläferin
Sie saß in der Straßenbahn und hielt die Tasche auf ihrem Schoß. Es war schon Nacht. Normalerweise wäre sie niemals Nachts alleine mit der Straßenbahn gefahren, denn sie hatte Angst überfallen zu werden, von einem dieser Typen, die plötzlich ein Klappmesser in der Hand hatten und einem an den Hals hielten.
Normalerweise war sie um diese Zeit zu Hause, brachte die Kinder ins Bett und gönnte sich eine kurze Zeit der Entspannung in der sie Fernsah oder Romane laß. Sie liebte es in die völlig andere Welt der Erzählung einzutauchen und für einige Minuten von einem anderen Leben zu träumen.
Sie hatte es nicht einfach. Es war nun schon 3 Jahre her, dass er sie verlassen hatte. Sie war nun eine allein erziehende Mutter mit 35 und war realistisch genug um zu wissen, dass es nicht einfach war, zwei Kinder ohne einen Vater zu erziehen. Gerade jetzt merkte sie es, wo der Junge doch gerade ins Teenageralter kam. Er hatte eine starke Hand so nötig und ein gutes Vorbild. Und das Mädchen, sie war erst acht, konnte sich kaum noch an den Vater erinnern und sehnte sich doch danach.
„Nächster Halt - Burgstraße” klang es verzerrt aus den Lautsprechern während sich draußen die gelben Lichter der Straßenlampen an den Fenstern vorbei bewegten. Sie blickte auf die Tasche auf ihrem Schoß und dachte: „Nein, das ist nicht die richtige Zeit um von einem Mann zu träumen. Nicht jetzt, vielleicht später, auf dem Rückweg, aber nicht jetzt.
Er war damals einfach gegangen. An einem Morgen vor drei Jahren war er einfach nicht mehr neben ihr im Bett gelegen. Er hatte keine Nachricht hinterlassen, sich nie wieder gemeldet, war nie wieder gesehen worden. Zuerst war eine Welt für sie zusammengebrochen, aber dann hatte sie begonnen ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Sie hatte sich einen Job gesucht und eine Tagesmutter angestellt, die die Kinder nach der Schule betreute, bis sie von der Arbeit nach Hause kam.
Das Leben war weitergegangen, auch ohne ihn. Sie hatte es zwar erst nicht glauben können, aber so war es. Sie hatte überlebt, ohne ihn, einsam und verlassen als Mutter zweier Kinder. und das Leben, das Leben ging weiter.
„Nächster Halt - Nationalmuseum” krähte die verzerrte Lautsprecherstimme. Sie stand auf und drückte den Halteknopf. Auf der Leuchtanzeige erschien in roten Buchstaben: „Wagen hält”. Mit der einen Hand hielt sie sich an der Lehne eines Sitzes fest, als die Straßenbahn um eine scharfe Kurve fuhr. Mit der anderer umklammerte sie noch immer die Tasche. „Was mache ich hier nur?” dachte sie für einen Moment als sich die Türen öffneten und schob den Gedanken sofort wieder bei Seite. Nur nicht darüber nachdenken, einfach weitergehen, an die Kinder denken, an den Mann, an schöne Zeiten in der Vergangenheit, nur nicht an das was vor ihr lag.
Für einen Moment blieb sie an der Haltestelle stehen und atmete tief durch. Die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos blendeten sie. Sie musste sich erst an die Dunkelheit gewöhnen ehe sie sich mit einigen schnellen Blicken orientieren konnte.
Dann ging sie hinüber zur Fußgängerampel und überquerte als es grün war die große, vierspurige Straße. Drüben auf der anderen Seite lag das „Nationalmuseum”, ein großer, moderner Bau inmitten einer kleinen Parkanlage. Bunt beleuchtete Springbrunnen säumten den Weg, der über einige Stufen hinweg geradewegs zum Eingang führte. Menschen in eleganten Abendkleidern standen davor, hielten Champagnergläser in den Händen und sprachen lachend miteinander.
Sie zwängte sich zwischen ihnen hindurch zu der großen Glastüre, die offen stand. Ein Pförtner musterte sie und fragte dann nach ihrer Einladungskarte. Sie kramte in ihrer Tasche. tatsächlich sah sie nicht gerade so aus, als würde sie in diese Gesellschaft passen. Sie trug zwar die schönsten Kleider, die sie besaß, entsprach aber damit nicht im geringsten dem Kleidungsstil der Menschen um sie herum.
„Hier ist sie!” sagte sie und reichte dem Mann eine beige Karte auf deren Vorderseiten mit geschwungenen Buchstaben das Wort „Einladung” stand. „Treten sie ein, gnädige Frau!” sagte der Pförtner und wies ihr mit einer eleganten Handbewegung den Weg ins Innere des Gebäudes. „Die Herrschaften freuen sich sehr darüber, dass sie sich die Zeit nehmen konnten heute Abend hier zu sein!”
Sie trat ein, gab ihren Mantel an der Garderobe ab und nahm sich von einem Tablett ein Glas Champagner, dass ihr gereicht wurde. Sonst trank sie so gut wie nie etwas. Sie kam einfach zu selten dazu. Als allein erziehende Mutter hatte man eben wenig Gelegenheiten auf Partys oder in Kneipen zu gehen.
Nur zu ganz besonderen Anlässen ließ sie die Kinder mal einen Abend alleine. Normalerweise war sie zumindest Abends immer für sie da. Aber heute war so ein besonderer Anlass. Der Präsident selbst hatte sich zur Eröffnung der neuen Ausstellung über die Kunst der Antike angemeldet und mit ihm viele andere Wichtige Persönlichkeiten der Regierung.
Sie drängte sich durch die Massen der Menschen im Foyer hindurch zu der schweren Eichentür - sie war früher mal die Tür zum Kaisersaal der Burg gewesen - hinter der die Ausstellungsräume lagen. Dort war auch das Podest auf dem die Museumsdirektorin, der Bürgermeister und vor allem natürlich der Präsident nachher ihre Reden halten würden. Sie nahm eine Kamera aus der Tasche und bat den Bediensteten an der Tür, sie doch bitte jetzt schon dort hinein gehen zu lassen. Sie gab an, sie wolle einige Photos von den Skulpturen machen, ehe sich dort die Menschen Massen drängen und ihr die Sicht verdecken würden.
„Ich bin persönlich geladener Gast der Direktorin!” sagte sie ihm und hielt ihm ihre Einladungskarte vor die Nase. „Sie wäre mit Sicherheit nicht erfreut zu hören, dass einem ihrer wichtigsten Gäste ein solcher Wunsch nicht gestattet worden wäre!”
Der Bedienstete öffnete die Tür einen Spalt breit so dass sie gerade hindurch schlüpfen konnte. „Ausnahmsweise,” sagte er und ließ sie passieren, „Aber sagen sie es ja niemandem weiter, sonst wollen sie alle hier rein!” „Geht in Ordnung!”, sagte sie, drückte ihm einen Geldschein in die Hand und huschte an ihm vorbei in den hohen leeren Saal.
In der Mitte des Saals stand eine Statue. Sie war aus Bronze und stellte den römischen Gott Neptun dar. Sie nahm die Kamera, stellte das Bild scharf und knipste ihn! Dieses Bild würde für sie eine schöne Erinnerung an diesen Abend sein. Ihr Mann, der hätte das sentimental genannt und von Kunst wollte der eh nichts wissen. Aber ihr gefiel der muskulöse nackte Oberkörper der Bronzefiguren echt gut und sie liebte seinen energischen Gesichtsausdruck, mit dem er den Dreizack schwang! Sie schlenderte den noch eine Weile zwischen den Skulpturen hindurch, machte hier und da ein Foto und las hier und da eine Beschreibung zu einer der Figuren. Sie genoss die Stille und die Zeit sich all das so in Ruhe anschauen zu können!
Am anderen Ende war das Podest auf dem später die Reden gehalten werden sollten. Daneben führte eine zweiten Eichentür, fast so groß und mächtig wie die, durch die sie gekommen war, in einem Raum, in dem gerade ein riesiges kaltes Büffet aufgebaut wurde.
Sie schoss noch schnell ein Bild der Göttin Venus, schob dann unbemerkt ihre Tasche unter das Podest und schlüpfte durch diese zweite Tür aus dem Raum.
Gerade in diesem Moment öffnete sich am anderen ende die Tür und die Massen von Menschen in Abendkleidern strömten herein, angeführt von der Direktorin, dem Bürgermeister und dem Präsidenten, die mit zügigen Schritten auf das Podest zugingen. Sie tuschelten miteinander, sprachen wohl noch einmal kurz das Programm für die Eröffnungszeremonie ab und stiegen dann gemeinsam die drei Stufen hinauf zu ihren Stühlen.
Niemand bemerkte die Tasche unter dem Podest, bis die Bombe darin explodierte. und dann war es zu spät. Sie saß in der Straßenbahn auf dem Weg nach Hause zu ihren Kindern und aß Häppchen mit Lachsfleisch und Kaviar, die sie vom kalten Büffet hatte mitgehen lassen. In ihren Taschen hatte sie frische Trauben, leckere Äpfel und Orangen für ihre Kinder.
Im Radio wurdet gemeldet: „Durch ein Bombenattentat wurden heute Abend der Präsident und der Bürgermeister bei der Eröffnung der Ausstellung ‘Kunst aus der Antike’ getötet. Mit ihnen wurden etwa 100 Besucher der Gala, darunter viele Prominente und Politiker, in den Tod gerissen!”
DL 2001