die Schizophrenie des Besitzens
Die Wohnung ist klein, aber gut gelegen. Sie ist teuer, aber dafür eben gut gelegen. Anton hatte keine große Auswahl. Er hatte keine Wahl. Die Wohnung gefällt ihm, sie muss ihm gefallen. Eigentlich muss sie ihm auch nicht gefallen, weil er nicht lange hier wohnen bleiben wird. Hier wohnen nämlich schon zwei andere, außer ihm. Die zwei anderen wohnen nicht mit ihm zusammen. Die drei wohnen alle sozusagen nacheinander oder voreinander. Anton ist ein Unter- Untermieter für einen begrenzten Zeitraum.
Jetzt sitzt Anton auf seinem kleinen Balkon. Eigentlich ist es nicht sein Balkon. Der gehört jemand anderem. Aber wem der gehört, das weiß Anton nicht und das wusste auch sein Vermieter, der Untermieter nicht. Anton kennt nur ihn und der Untermieter wiederum hat nur den eigentlichen Mieter kennen gelernt. - kennen gelernt ist vielleicht der falsche Ausdruck. Der Untermieter hat die Hand des Hauptmieters geschüttelt und einen selbst verfassten, handschriftlichen- wenige Zeilen Vertrag unterschrieben. Bei Anton war es dann nur mehr ein Satz. Unterschrift darunter und die Sache war erledigt. Hätte sich die Sachlage jemand juristischer Herkunft angesehen, dann hätte dieser Vertrag vermutlich einige Lücken oder würde gar nicht als Vertrag gelten. Aber das war Anton egal. Er brauchte nur eine Wohnung für den Übergang und das hatte er jetzt und niemanden würde die Sachlage hier in dieser Wohnung interessieren.
Anton blickt auf die Straße und saugt den Duft der Großstadt in sich ein. Es war befreiend und der schöne Ausblick auf die gegenüberliegenden Häuser, die viel größere Fenster und viel größere Balkone hatten und dessen Fassaden mit Stuck besetzt waren, gab schon was her. Er zahlte eben für den Blick auf schöne Häuser, während die Insassen der schönen Häuser für ihre großen Zimmer zahlten. Jedenfalls bestimmt nicht für den Blick auf seinen schäbigen Häuserblock.
Anton schaute weiter auf das Haus gegenüber und sah genau in die Fenster hinein. Er war sich sicher, dass diese Wohnungen keine Mietwohnungen waren. Diese Menschen da drüben waren keine Mieter, wie er. Diese Menschen waren Besitzer.
Ursprünglich wollte er in die Großstadt um frei zu sein. Er hatte gehört, dort muss man wenig besitzen. Da geht es um den Geist, also den freien Geist unter all den Freigeistern. Am Land oder in einem Dorf fällt und steht das Ansehen mit Besitz. Fast jeder hat dort ein eigenes Haus. Hier werden die Häuser geteilt. Die Besitzer bleiben unsichtbar und sind somit nicht da. Also nicht präsent in den Köpfen der Mieter. Und wenn ein Mieter lange genug in einer Wohnung wohnt, bekommt er die Illusion es wäre seine eigene. Und dann sieht der Illusionist den Unterschied zu denen nicht mehr, denen eine Wohnung wirklich gehört, denkt Anton auf seinem kleinen winzigen Balkon.
Anton schaut wieder in die kleine „auf – Zeit“- Wohnung hinein und stellt fest, dass ihm eigentlich fast gar nichts gehört. Alle Dinge, die hier drinnen stehen gehören jemand anderem. Aber das macht nichts, weil er trotzdem Besitzer ist. Er zündet sich eine Zigarette an und wendet seinen Blick dann auf die Straße direkt unter seinem Fenster. Denn da steht sein ganzer Stolz. Ein kleiner, alter weißer Lieferwagen, den er sich selbst geleistet hat.
Heute parken kaum Autos auf den Straßen und in den Wohnungen gegenüber regt sich wenig. „Scheinen alle ausgeflogen zu sein.“ denkt Anton. Er selbst würde auch gerne mal wieder weg fahren, aber der Tank seines kleinen weißen Lieferwagens ist fast leer und muss noch hungrig auf den nächsten Monat warten.
Auf der Straße parken noch vier andere alte Kisten und ein BMW, der mit seiner Anwesenheit, die anderen Autos zu verhöhnen scheint. Aber Anton ist Student und könnte sich nie einen solchen leisten und weil er das nicht kann, will er das auch gar nicht. Anton ist bescheiden und weiß, dass es Wichtigeres auf der Welt gibt, als teuren Besitz. In der Stadt machen sich alle vor zu teilen, sie machen sich vor offen zu sein und wenig besitzen zu müssen und dennoch besitzt jeder irgendwas. Und wer nicht besitzt, der wird blöd angeschaut und wer zu viel besitzt, den treffen die neidischen Blicke. Anton ist ja nur froh, dass jetzt so viele Menschen ohne Besitz in das Land gekommen sind. Er teilt seinen Wohnblock gerne mit anderen Besitzlosen. Anton schnippt seine Zigarette auf die Straße und bereut es im gleichen Zug. Jetzt muss jemand anderes seinen Dreck weg machen. „ Aber da liegen eh immer viele Zigaretten Stummel,“ beruhigt er sich wieder.
Er wendet dem Fenster den Rücken zu und setzt sich an seinen Laptop. Das ist sein Schlüssel zu Welt. Anton ist oft zu Hause. Er ist leidenschaftlicher Nachrichten- Leser. Er stöbert den ganzen Tag auf unterschiedlichen Seiten und weiß nach einem Tag immer über die ganze Welt bescheid. So fühlt sich das zumindest an. Bei Naturkatastrophen prüft er stündlich die Eilmeldungen und verflogt akribisch die steigenden Zahlen der Todesopfer. Irgendwie fiebert er da insgeheim mit, dass die Zahl noch ein bisschen weiter steigt. Nicht, weil er gerne Tote sieht, sondern weil er die Spannung mag. Deswegen schmeißt er sich dann immer voll Leidenschaft ins Weltgeschehen. Wobei sich eher sein Geist schmeißt, während sein Körper in Stillstand verharrt. Würde sein Körper sich bewegen, könnte er vielleicht nicht so viel aufnehmen. Gegen diese These sprechen dann zwar wieder die aristotelischen Wandelhallen, in denen während dem Herum gehen gelernt wurde, aber wer weiß. Thesen sind da, um widerlegt zu werden. Jedenfalls verliert sich Anton jetzt wieder in der großen Welt und merkt nicht, dass es in seiner Welt da draußen langsam dunkel wird.
Erst als die Straße draußen zu leuchten beginnt, kann er seine Augen vom Bildschirm lösen. Die Lichter sind zu hell für das Licht von Straßenlaternen. Anton blickt erneut aus dem Fenster und sieht die Straße brennen. Eigentlich sind es die Autos, die brennen. Es sind nicht viele, aber unter den zwei Autos da unten ist auch sein weißer Lieferwagen dabei. Anton kann die Augen nicht von dem Feuer lassen. Der Geruch erinnert ihn an das alljährliche Osterfeuer am Land. Die Kinder haben dort immer alle gespielt. Sind um das große Feuer herumgerannt und haben in den Flammen Gestalten gesehen, die tanzen. Anton sieht da jetzt keine Gestalten in den Flammen, höchstens Dämonen, aber da ist er sich nicht sicher. Jedenfalls sind die Gestalten, wenn da welche sind, nicht in den Flammen, sondern tanzen um das Feuer herum. Und bei diesem Anblick muss Anton unwillkürlich an Rumpelstilzchen denken. „ Ach wie gut, dass keiner weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.“
Der Anblick seines brennenden Lieferwagens, bringt ihn wieder in die Realität zurück. Anton steht wie angewurzelt vor seinem Fenster und blickt durch einen Rahmen auf das Geschehen da draußen. Der nächste Blick von Anton streift das Haus gegenüber. Kein Licht brennt dort in den großen Räumen. Das Haus aus Stuck steht verlassen, ruhig und erhaben da, während das Feuer neben ihm lodert. Ein Blick nach rechts und nach links macht Anton klar, dass in seinem Wohnblock jetzt fast alle Lichter angegangen sind. Er sieht seine Nachbarn, wie sie das Geschehen da unten filmen. Wie von selbst macht Anton es ihnen nach. Er filmt das Feuer und die schwarz gekleideten Gestalten, ohne zu wissen warum. Wieder einmal fühlt er sich wie von fremder Hand geführt. Er wird gelenkt von etwas oder jemandem. Es sind also doch Dämonen, die sich da im Feuer winden. Schon nach kurzer Zeit wird Anton wieder in die Realität gerufen. Da unten verbrennt gerade sein ganzer Besitz. Nicht nur sein Auto geht da unten in Flammen auf. Sondern auch Teile, die in dem Auto sind und die ebenfalls Anton gehören. Diese Teile bedeuten ihm fast noch mehr, als der weiße Lieferwagen. Er hat Monate dafür investiert sie sich zu beschaffen. Sie hat ihn Geld gekostet. Wenn er zurück blickt, dann war es ganz schön viel Geld, aber er wollte sie unbedingt besitzen.
Jetzt kann Anton sich nicht einfach wieder hinsetzen und sich in der großen weiten Welt vergraben. Er geht aufgeregt auf und ab. Ein paar Teile hat er der Stadt wieder geschenkt, nachdem er sie hatte, aber ein paar wollte er eben auch behalten. Nur so konnte er dieses Haus aus Stuck mit den großen Fensterrahmen und den großen Wohnungen ertragen. Die besitzen ihre Dinge und er besaß dann seine. Und die Sachen in dieser Wohnung interessierten ohnehin niemanden.
Plötzlich fiel Anton ein, dass er ein Teil vorausschauend im Keller gelagert hatte. Erleichterung kroch in ihm auf. Er hatte doch nicht alles verloren. Und jetzt konnte Anton umdenken. Vielleicht war es auch Glück, dass da unten alles von ihm verbrannte. Früher oder später hätten sie ihn gefunden. So war er ganz ohne Mühe seine Beweise losgeworden. Und ein kleines Andenken an seinen Besitz lag ja gut verborgen im Keller. Alles hatte sich aufgelöst, von selbst gelöst, wie die Knochen der Frau von den Gelenken irgendwann.
Eine Stadt kann viel schlucken. Sie konnte auch gut schlucken. Eine Stadt verschluckt alles. Sie kann Menschen verschlucken, aber sie auch wieder ausspucken.
Andere entschieden auch über andere Menschen.Menschen sind käuflich. Diese Frau war es auch und Anton hatte nur zugegriffen. Er hatte sie gekauft und war damit Besitzer. Sie hatte was von ihm geschluckt und er hatte sie verschluckt. Er hat die Frau in Teile zerkleinert und sie der Welt zum Fraß vorgeworfen. Anton fühlte sich nicht schuldig. Er hatte seinen Neid genauso kompensiert, wie andere auch, die andere verstoßen. Die waren getrieben von Angst, dass ihnen etwas weggenommen wird. Anton war das Gegenteil. Er war mutig. Er hatte sich einfach genommen. Schon die Römer besaßen Menschen und mit Menschen wurden Städte gebaut. Nur nicht aus Menschen, das hatte Anton wohl falsch verstanden.
Anton setze sich erneut auf seinen kleinen Balkon und zündete sich eine weitere Zigarette an. Er konnte jetzt ruhig den tanzenden Dämonen zuschauen. Ihre Zungen streckten sich nach oben und flüsterten. Anton verstand sie nicht, aber wusste trotzdem was sie sagen wollten. Sie waren Freunde, denn schließlich halfen sie gerade dabei, in seinem Lieferwagen die Leichenteile zu verbrennen.
Nach einer langen Zeit auf dem Balkon drückt Anton seine glühende Zigarette aus. Er sieht dem Rauch hinterher. „Diese Vorfälle gehören doch nicht zusammen.“ lässt er seine Gedanken schweifen.
Die Zeit in der Stadt vergeht anders. Die Uhr tickt im Sekundentakt und überholt die Minute. Jeden Tag passiert hier etwas Neues. Jeden Tag kommen hier neue Menschen an. Das Gestern interessiert dann nicht mehr.