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Die Scherben im Sand
Betont vorsichtig schritt ich durch die von Fäkalien und Essensresten verschmutzte Straße. Niemand, der zufällig einen Blick in die Gasse warf, würde mich sehen. Im Schutze meines zerrissenen Wildledermantels wagte ich einen weiteren Schritt, welcher mich ob der Dunkelheit fast das Gleichgewicht kostete.
Ich war nah, verdammt nah. Trotz des bestialischen Gestanks war der Geruch deutlich wahrnehmbar. Niemand sonst schien den verborgenen Duft zu bemerken, dessen orientalische Note unter den Ausdünstungen Londons lächerlich deplatziert wirkte. Kurkuma mit einem Hauch von Safran - und Koriander. Getrieben von sehnsüchtigen Gedanken tat ich einen weiteren Schritt, voller Hoffnung auf ein neues Leben fernab der grausigen Erinnerung.
Ich stand nun genau vor dem Eingang, der würzige Duft drang durch die undichte Holztür und wies jenen, die verzweifelt nach Antworten suchten, den Weg in besseres Leben.
Mit dem verräterischem Poltern fallender Bretter öffnete ich die Tür. Der kleine Lagerraum war finster und eingestaubt, die abgestandene Luft brachte mir Übelkeit. Nichts deutete darauf hin, dass sich hier mehr verbarg als rostiges Handwerkszeug und morsche Holzdielen. Was, wenn es nicht hier war? Was, wenn ich die letzten Tage, die quälend und entbehrungsreich hinter mir lagen, einer Einbildung gefolgt war? War dieser Ort die Endstation meines von Wahnsinn und Täuschung geprägten Weges?
Ich bekam Angst, mein Körper begann zu beben. Von Panik getrieben entleerte ich meinen Beutel - ich musste mich beruhigen. Mit zitternden Händen entfaltete ich das weiße Leinentuch und griff nach dem Arm, der mittlerweile die Konsistenz von altem Wachs angenommen hatte. Trotz des inzwischen sehr aufdringlichen Geruchs fühlte ich mich besser, als ich mit den schleimigen Finger durch meine Haare strich. Tante Elisabeth, Was ist nur geschehen?! Wie sehr vermisste ich unsere gemeinsamen Abende vor dem Kamin, in denen du mir vorlast und sanft meinen Kopf streicheltest. Nichts war geblieben, gar nichts! Nichts, außer deinem Arm und dem Wunsch nach Geborgenheit. Nach Minuten der sehnsüchtigen Erinnerung brach schließlich ein einziges Wort die Stille: RAZLESHTAZHAR!
Oh nein. Er war hier. Hektisch verpackte ich das modernde Körperteil und sah mich um. Irgendwo musste es sein, nur wenige Meter von mir entfernt. Die Stimme wurde lauter, leiste gemurmelte Worte in einer unbekannten Sprache. Die Worte waren mir fremd, doch der Wahnsinn, der ihnen innewohnte, offenbarte sich mir in seinem ganzen, grotesken Ausmaß. “Lass mich in Frieden!”, schrie ich und stolperte über einen rostigen Eimer, der unter meinen Füßen zerbröselte. Ein Knall. Dann Scheppern. Mit letzter Kraft kroch ich unter dem Regal hervor, dessen Inhalt sich nun auf dem Boden verteilte. Da! Ich traute meinen Augen nicht, ich hatte es gefunden! Gierig stürzte ich mich auf das braune Buch, dass in einem unscheinbaren, braunen Lederumschlag zwischen den Trümmern lag.
“Ich habe es! Hörst du mich?!?”. Meine Hände zitterten, meine Konzentration lies nach. Die leisten Stimmen schwollen zu einem Chor fremdartiger Gesänge, berichtend von Gräul vergangener Zeit. Ich hustete, begann zu würgen. Das Buch! Ich musste es lesen. “Bitte! Tu mir nichts!” Zitternd blätterte ich durch die leeren Seiten, verzweifelt um Vergebung bettelnd.
Mein Herz blieb stehen, die Luft in meiner Lunge brannte wie Feuer. Voller Entsetzen blickte ich auf Seite 354, auf der das grauenvolle Urteil geschrieben stand: Nahrir a afantu. Du bist mein.
Der leblose Körper sackte zusammen, ein dumpfer Knall durchbrach die Stille. Von draußen waren Stimmen zu hören, primitives Gebrabbel betrunkener Arbeiter. Im Dunkeln, von Staub und Fleisch geschützt, befand sich ein Buch. Der Umschlag wirkte gepflegt und die einst verblassten Lettern strahlten in neuem Glanz. Auf dem Einband, der noch vor Minuten unlesbar gewesen war, funkelte in verschnörkelten Letter der Titel: “Die Scherben im Sand”.