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Die Schattenseite
Einst hatte ich einen Traum:
Ich stand in einem Raum, die Wände waren hoch und es war düster. Sonnenlicht schien nur durch den Spalt einer Tür, die sich hinter mir befand. Vor mir lag ein alter, roter Teppich, der zur Mitte des Raumes führte. Ich hatte Angst vor diesem seltsamen Ort. Er sah alt und verlassen aus. Ich hörte, wie Spinnen ihre Netze webten und Staub, der leise schnarchte. Es war unglaublich warm und die Luft stand an diesem Ort, mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen. Ein trauriger Anblick, denn sie sah sehr kraftlos und erschöpft aus.
Langsam bewegte ich mich vorwärts. Jeder meiner Schritte wühlte Staub auf, der sich auf dem roten Teppich ausgebreitet hatte. Am Ende des Teppichs, in der Mitte des Raumes, lag ein Buch. Ich kniete mich nieder, um es genauer betrachten zu können. Es war groß und sah nicht gerade neu aus. Fast so, als würde es täglich benutzt werden. Es war nicht mit Staub bedeckt, die Schrift darauf war gut lesbar: „Vergangene Gegenwart“.
Ich schlug das Buch auf. In diesem Moment trat ein heftiger Windstoß die Tür auf, weckte die Luft, die daraufhin den Staub aufwirbelte. Es bildete sich ein traumhaftes Schauspiel vor meinen Augen: Das Sonnenlicht breitete sich aus und der Staub tanzte mit der Luft.
„Hey, du.“, zischte es mir um die Ohren. Erschrocken zuckte ich zusammen. „Du brauchst keine Angst haben. Ich bin der Staub, der Ursprung und das Ende aller Leben.“ Er tanzte einfach weiter.
„Wo bin ich hier?“, fragte ich verzweifelt in den Raum, der nun mit Leben erfüllt war.
„ In der Vergangenheit, Kleines.“, zischte er zurück. „Vor dir liegt dein Buch, deine Vergangenheit. Jeden Moment haben wir darin festgehalten. Jede Nacht, jeden Tag, jedes Gefühl, jede Emotion. Überlege dir gut, was du jetzt tust!“
„Wieso?“, fragte ich wieder und starrte auf die erste Seite des Buches, die mit meinem Namen versehen war.
„Weil es dir Schmerzen hinzufügen kann, Kleines. Die Vergangenheit wühlt Altes auf. Momente, die du längst vergessen haben solltest.“
Ich hörte nicht auf die Stimmen und blätterte schon in den ersten Seiten des Buches. Meine Geburt, die für meine Mutter schmerzhaft war. Meine ersten Tage, wie ich begeistert das Licht der Welt erblickte. Einige Seiten später sah ich meine Pflegeeltern, die ich genauso anlächelte wie meine Mutter. Tag für Tag, Jahr für Jahr waren darin dokumentiert. Jedes einzelne Gefühl. Meine unglaubliche Freude, die ich als junges Mädchen ausstrahlte, ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Klar, ich verletzte mich hin und wieder. Doch hatte ich immer die Kraft, wieder aufzustehen.
Manche Seiten waren mit Eselsohren versehen.
„Das, meine Kleine...“, säuselte der springende Staub. „..Das sind Momente, die dir sehr wichtig waren. Momente, die dein Leben verändert haben.“
Ich war überwältigt von dem, was ich sah, hangelte mich von Eselsohr zu Eselsohr. Mein erster Tag im Kindergarten, an dem ich sehr viel geweint hatte. Die schönen Reisen in den Ferien, mit meiner Pflegefamilie. Etliche Samstage, die ich mit meiner leiblichen Mutter verbracht hatte. Meine Einschulung, Grundschule, Realschule, Berufsschule. Mein erster Schwarm, mein erster Kuss, mein erster Versuch, erwachsen zu sein.
So viele Momente, die ich längst vergessen hatte. Nie hatte ich es für nötig gehalten, über diese Dinge nachzudenken. Der Lauf des Lebens hatte sich nun mal verändert. Irgendwann war ich nicht mehr das fröhliche, selbstbewusste Mädchen von früher. Ich wurde in der Schule bloßgestellt. Auf dem Heimweg von älteren Schülern gehänselt. Von meinen eigenen Freundinnen ausgelacht.
Immer einsamer lief ich meinen Weg. Die Menschen entfernten sich von mir, oder ich mich von ihnen. Umso mehr ich von der Welt wusste, desto trauriger und einsamer wurde ich. Ich sehnte mich nach Liebe, Anerkennung und Aufmerksamkeit, die ich bisher nur von meiner Familie kannte.
Ich war das komische, ruhige und unscheinbare Mädchen mit zwei Müttern.
Ich sackte innerlich in mich zusammen. Tränen stiegen mir in die Augen. Mein Leben rast an mir vorbei und ich fange nichts damit an. Diesmal war ich diejenige, die kraftlos und erschöpft den Kopf senkte.
„Ich habe dich gewarnt.“, flüsterte der Staub, der nun etwas ruhiger tanzte. „Das letzte Eselsohr solltest du entfernen. Du hältst dich zu oft darin auf. Deshalb bist du hier. Es wird Zeit, loszulassen.“ In diesem Augenblick wusste ich genau, welche Seite er meinte. Ich weinte. Das Sonnenlicht schien immer noch durch die Tür hinter mir, und streichelte beruhigend meinen Rücken. Dann schlug ich mit meiner zittrigen Hand die Seite mit dem letzen Eselsohr auf. Der 31. Dezember 2015:
Es war angenehm kühl, als ich mit einem Sektglas aus der Tür trat. Die Anderen standen schon draußen, lachten und unterhielten sich. Die Kinder wedelten fröhlich mit Wunderkerzen herum. Auch er stand schon draußen. Wenn ich ihn sah, bekam ich immer ein mulmiges Gefühl im Bauch. Ich war zwar schon etwas angetrunken, doch ich wusste, dass dieses Gefühl echt ist. Noch nie habe ich so etwas gefühlt. Er war mein Held. Er hat mein zertrümmertes Herz einfach aufgehoben und angefangen, es zu reparieren. Ohne Grund.
Sein blondes Haar und seine blauen Augen schimmerten im fahlen Licht der Straßenlaterne. Er war am Rauchen und lächelte mich schief an. Wenn ich ihn so sah, konnte ich nichts anderes, außer zurück lächeln. Ich ging zu ihnen auf die Straße. Es verblieben nur noch einige Sekunden, bis die Uhr auf Mitternacht sprang.
Und dann ging es los. Die Kirchenglocke läutete, Raketen erleuchteten den dunklen Nachthimmel und wir stießen einander an. Ich umarmte seine Verwandten und Bekannten, wünschte allen ein schönes, neues Jahr. Später stand ich vor ihm. Mein Herz hüpfte und ich dachte, 2016 wäre mein Jahr. Und dies sei das schönste Silvester aller Zeiten. Er beugte sich zu mir und küsste mich. Ich hatte mein eigenes Feuerwerk. Ein Feuerwerk, das mir in diesem Moment niemand nehmen konnte.
Und das war' s auch schon. Nach dieser Nacht sah ich ihn nie wieder mit diesen Augen.
Er kam ins Krankenhaus. Krebs. Meldete sich erst nicht. Dann stand er vor mir, mit meinem Herzen in der Hand. Während er so leer in meine Augen starrte, warf er es auf den Boden, trampelte darauf herum und verkündete mir kalt, dass er eine Freundin habe. So ließ er mich zurück. Blutend und verletzt. Ohne weitere Erklärungen.
Heulend saß ich vor dem hässlichen Buch. Gern würde ich die Seite rausreißen, zerstören oder verbrennen. Doch dann würde auch ein Teil von mir sterben. Ich bügelte mit meinen kalten Fingern den Knick an der Ecke der Seite glatt, schloss das Buch schnell, stand auf und schwankte Richtung Tür.
„Du wirst Liebe nicht dort finden, wo du sie verloren hast.“, rief mir der Staub hinterher. „Wenn die Vergangenheit mal wieder ruft, antworte nicht. Denn sie hat dir nichts Neues zu sagen.“