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Die Schattenkrieger

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16.08.2001
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Die Schattenkrieger

„Es war einmal ein wunderschönes großes Land, dessen Weiten sich in ihrem Aussehen so schnell abwechseln, wie die bunten Blätter eines herbstlichen Baumes: präriegesprenkelt, dann wieder wüstenhaft, einmal mit goldgelben Weizenfeldern überzogen, ein anderes Mal von einer mächtigen Bergkette durchzogen. Der Name dieses Landes klang vielen Menschen wie Musik in den Ohren, assoziiert mit Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten, reich geworden durch neue Technologien und Fortschritt, man nannte es „Amerika“. Seine Städte bestehen aus in den Himmel strebenden Palästen, die von einem schmalen, aber starken Skelett aus Stahl und Beton gestützt werden. Viele Menschen arbeiten darin, und um ihnen einen wunderschönen Ausblick auf ihr Land zu ermöglichen, waren all diese Häuser außen mit Glas verkleidet, das in der aufgehenden Morgensonne wie Perlmutt schimmerte, in der Abendsonne aber den matten Glanz eines tief roten Rubins annahm. Eine dieser Städte war ein ganz besonderer Ort, von jeher das Eden für Menschen aus aller Welt, die hier ihr Glücken machen und ein neues Leben aufbauen wollten. Wenn ihr weiter Weg über den großen wilden Ozean an der flachen Küste endete und die Reisenden aufgeregt von Bord gingen, geschah immer wieder dasselbe: gebannt und staunend hielten sie ganz plötzlich inne, hielten für kurze Zeit ihren Atem an und flüsterten ergriffen „New York“. Das war der Name dieser herrlichen Stadt, die Bürger und Gäste gleichermaßen mit einer in Metall gegossenen Statue begrüßte. Es war die Freiheit, die weithin sichtbar ihre Fackel erhob, um all den Hoffenden und Bangenden Tag und Nacht ein leitendes Licht zu sein, sie war die Verheißung, dass alles Leid und Labsal hier ein Ende haben werde, das Versprechen eines besseren Lebens. Diese Statue blickte über das Meer, flankiert von den zwei größten Glaspalästen dieser Stadt. Unruhig aber glücklich verlief das Leben in New York, seine Bürger befanden sich stets in Eile, aber für ein freundliches Lächeln war immer Zeit.
Doch eines Tages beschlossen böse und finstere Wesen diesem Glück ein Ende zu setzen. Wie aus dem Nichts tauchten sie auf, geleitet von blindem Haß und „Seinen“ Anweisungen, die Armee der Schattenkrieger...“

Ein Blick hinaus auf die Welt, die sich ruhig vor dem Bürofenster ausbreitet. Gleich an das Gebäude grenzend frischgepflügte braune Äcker mit Steinen durchsetzt, die dem Bauern bei seiner nächsten Feldarbeit sicher Kopfzerbrechen bereiten werden. Schmale Wiesenstreifen, die trotz des fortgeschrittenen Herbstes immer noch in sattem Grün stehen. Bäume, die sich weigern, ihre Blätter zu verlieren und mit ihren ausladenden Ästen den Wind abhalten, der im Moment noch sanft über das Land streicht. Doch eigentlich müßte es ein Sturm sein, nein, ein tosender Orkan, der alles mit sich reißt. Denn in den Menschen selbst tobt schon lange ein Taifun mit noch nie dagewesener Gewalt, entwurzelt alle aus ihrem normalen Leben, wirft sie wie ein Spielball aus ihrem gewohnten Trab und hinterläßt neben all den Trümmern eine Frage: wie ist so etwas möglich?

Wie ein Betrunkener taumle ich durch eine Welt, die ich nicht mehr erkenne. Orientierungslos, ohne Halt und auf der Suche nach einem neuen Fixpunkt. So mag es auch den vielen Hinterbliebenen in New York gehen. Einst erhob sich stolz die Freiheitsstatue vor der Skyline einer schillernden Metropole. Heute ragt ihre Fackel verzweifelt aus grauen Rauch- und Staubwolken eines gestürzten Giganten. Mit ihm fiel nicht nur eines der berühmtesten Gebäude der Welt, sondern der Aufenthaltsort und Arbeitsplatz tausender Menschen. Der Fixpunkt der Skyline ist nicht mehr, verschwunden in Schutt und Asche. Auf seinem rasenden Weg nach unten begrub er unzählige Menschen unter sich, riß in das Leben der Hinterbliebenen ein großes Loch. Ein größeres als jenes, das die beiden Maschinen nach ihrem frontalen Flug direkt in die beiden Wolkenkratzer hinterließen.

Fassungslos, unfähig zu weinen und völlig verständnislos saß ich drei Tage lang vor dem Fernseher. Noch immer nicht im Stande einen klaren Gedanken zu fassen, schreibe ich Briefe und Mails an Freunde und Bekannte aus aller Welt, als Inhalt ein simples Wort mit einem Fragezeichen. „Warum?“ Der Staub wird dem Eis weichen, denn gefroren werden unsere Gefühle sein, erfroren in der Brutalität der Wirklichkeit, die dem Märchen das Fürchten lehrt. Gut und Böse – eine klare Unterscheidung und immer wieder das klassische Ende, der Sieg des Lichts über die Dunkelheit, der Triumph des Guten über das Böse. Actionfilme, so brutal und erschreckend ihre Bilder auch sind, erweckten durch ihre Nachricht über die ewige Glorie des Wahren über das Schlechte die Hoffnung im Menschen, dies gehöre auch zu den Naturgesetzen, denen zu unterwerfen uns bestimmt ist. Den Beweis dafür trat nie ein Wissenschaftler oder Gelehrter an. Warum sollte bewiesen werden, was ganz einfach so ist?
Wo sind sie nun, die Helden des Lichts, die das Böse ungespitzt in den Boden stampfen? Wo die Fanfare, die von ihrem Kommen kündet?

Vor drei Tagen schrieb die Menschheit das erste Märchen mit einem schlimmen Ende: „...und das Gute wurde in den Staub getreten. Die Menschen vertrauten einander nicht mehr, denn hinter jedem Lächeln konnte sich ein Schattenkrieger verbergen. Diese finsteren Wesen konnte man auf den ersten Blick nicht erkennen. Sie lebten das Leben eines völlig normalen Bürgers, studierten an einer der vielen Universitäten, arbeiteten in großen Firmen und Konzernen. Sie waren Familienväter, die täglich ihre Kinder in die Schule brachten, freundliche Nachbarn, die morgens über den Gartenzaun winkten oder Passanten, die sich der endlosen Ruhelosigkeit der City übergaben. Äußerlich unterschied sie nichts von einem menschlichen Wesen aus Fleisch und Blut. Doch ihr Herz war aus Stein, keine Empfindung konnte sie rühren, als würden all ihre Gefühle schlafen. Nur ein einziges Ereignis rüttelte die vereisten Emotionen auf: der Anruf von „Ihm“. Ein Losungswort wurde genannt, und die Armee der Schattenkrieger setzte sich in Bewegung. Wo sie ihre Waffen gebrauchten, war nichts mehr, nur Verwüstung und Leere. Sie löschten das Leben aus, nahmen den Menschen ihre letzte Würde. Die Schattenkrieger traten den Frieden mit Füssen, sie waren zu mächtig, als dass ihnen das Gute Einhalt hätte gebieten können. Die guten Menschen sind gestorben, sie leben heute nicht mehr.“

 

Hm. Deine Art zu schreiben, gefällt mir, und doch... ich weiß nicht, ob es überhaupt möglich ist, das Geschehene zu verarbeiten. Ich freue mich für jeden, der es literarisch schafft, mir gelingt es nicht.
Ich hoffe jedoch, daß es nicht nur noch "Schattenkrieger" gibt, sondern auch noch den einen oder anderen "Lichtkämpfer" oder so.
Aber: Amerika war schon lange nicht mehr das gelobte Land.
Versteh mich nicht falsch: Was da geschehen ist, ist unverzeihlich, aber nicht, weil es sich gegen eine Nation gewandt hat, sondern, weil dabei Menschen ihr Leben verloren haben.
Gruß von einer dieses Thema betreffend immer noch recht sprachlosen

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Versteh mich nicht falsch, Andrea, die Geschichte ist gut geschrieben und berührend, aber war´s früher wirklich so viel besser???

Gerade die USA sind ein auf Blut und Unrecht erbautes Land! Insofern erscheint mir dein "Märchen" etwas merkwürdig, denn einen paradiesischen Urzustand gab es dort nie.

Wo sind sie nun, die Helden des Lichts, die das Böse ungespitzt in den Boden stampfen?

Hast du denn George Bushs Reden versäumt??? :D

 

Nur damit Ihr mich nicht falsch versteht:
ich denke nicht, dass Amerika wirklich das Paradies auf Erden ist,...sonst wäre ich schon längst dort :D Aber ich wollte das Märchen absichtlich überzeichnet schreiben, denn das ist es ja, was Märchen normalerweise ausmacht: sie schwelgen in Schönheit, Reinheit, Gold und Silber.
Keine Sorge, mir ist schon bewußt, dass in Amerika bei weitem nicht alles Gold ist, was glänzt.

Liebe Grüße an alle!
Andrea

 

Keine Sorge, mir ist schon bewußt, dass in Amerika bei weitem nicht alles Gold ist, was glänzt.

Nicht nur in Amerika... :(

Ich bin in diesen Belangen sensibler geworden: Früher war ich geradezu Amerika-fanatisch.
Bei den Western habe ich immer mit den Cowboys oder der Kavallerie mitgezittert, wenn diese "wilden Amerikaner" oder die hinterhältigen Mexikaner ihnen ans Leder wollten.

Und selbstverständlich waren die Russen die Bösen und die Amis die Bewahrer der Freiheit, etc.

Na ja, man wird älter und ein wenig einsichtiger! Trotzdem weht in meinem Zimmer immer noch eine am. Flagge. :D

 

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