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Die Schatten Nan Madols
Der Motor unseres Bootes dröhnt, man müsste schreien, um miteinander sprechen zu können, aber ich will nicht reden. Meine Frau sitzt mir gegenüber und wirft mir missmutige Blicke zu, mein Sohn hat sich über die Reling gebeugt und hält nach Fischen Ausschau. Die Luft riecht nach Salz und Abgas. In der Ferne erblicke ich den Urwald von Temwen Island. Ich bin schon ganz unruhig. Endlich werde ich die Ruinenstadt Nan Madol sehen.
Ich arbeite als Geschichtsdozent in Hamburg und als mir ein Kollege von den Ruinen erzählte, war ich fasziniert. Er hatte eine Dokumentation über Nan Madol vor Temwen Island, einer Nebeninsel von Pohnpei, gesehen und mir einiges erzählt. Bis heute weiß niemand, wer diese Stadt errichtet hat, oder zu welchem Zweck. Bekannt ist nur, dass das Volk der Saudeleurs die Stadt Anfang des zwölften Jahrhunderts verlassen vorfand, sie besiedelte und bis 1628 in ihr lebte. Sie waren eine religiöse Sekte, eine isolierte Gemeinschaft, eine völlig eigene Kultur. Bis dieses Volk spurlos verschwand. Ich bekam eine Gänsehaut, damals in der Fakultät, und als ich im Internet auf die Aufzeichnungen Horatio McCinleys - eines britischen Archäologen, der 1928 Ausgrabungen in diesen Ruinen durchführte – stieß, wurde mir bewusst, dass ich die passende Inspirationsquelle für meinen Roman gefunden hatte. Schon lange arbeite ich an der Veröffentlichung eines Romans, doch alle Manuskripte, die ich einsende, werden von den Verlagen abgelehnt. Diesmal muss es klappen und es wird klappen, das spüre ich. Doch bei all dem Eifer, dem Optimismus und der Vorfreude auf die Erkundung kann ich mich eines unguten Gefühls nicht erwehren, das sich in meinem Kopf festgesetzt hat. Denn die Ausführungen McCinleys müssen dem Geist eines Wahnsinnigen entsprungen sein, anders kann ich mir die Schilderungen darin nicht erklären. Sie deuten Abscheuliches an, das sich auf dieser kleinen Insel vor vierhundert Jahren zugetragen haben könnte und noch immer in den Ruinen verweilt. Grauenvolle Erscheinungen bei Nacht, Schatten, die jeder Beschreibung entbehren, und animalische Geräusche, die keinem bekannten Lebewesen zugeordnet werden konnten. Doch woher entnahm McCinley dieses Wissen? Seinen Beobachtungen in der Stadt? Aus den Ergebnissen der Ausgrabungen? Oder seiner blühenden Fantasie? Er landete damals in einer Nervenheilanstalt und die Aufzeichnungen verschwanden, bis sie ein Unbekannter ins Internet gestellt hatte. Ich würde seinen Ausführungen vielleicht keine Beachtung schenken, zu abstrus sind seine Schilderungen der nächtlichen Ereignisse und Beschreibungen der Kultur der Saudeleurs, wären da nicht die Gerüchte und Schauermärchen, nicht nur im Internet, sondern auch unter den Bewohnern Mikronesiens. Schreie in der Nacht, unnatürliche Lichter und Menschen, denen eine Nacht in der Stadt den Verstand kostete. Mir wird unwohl, wenn ich daran denke, doch gerade deshalb ist eine Besichtigung der Ruinen die perfekte Grundlage für meinen Horrorroman.
„Da wären wir“, sagt der mikronesische Bootsmann.
Das Boot gleitet sanft über den Sandstrand, als wir Temwen Island erreichen. Vor uns liegt der Urwald. Dichte, sattgrüne Blätter verhindern, dass Sonnenstrahlen den Waldweg erreichen, der von der Bucht nach Nan Madol führt.
Mein Sohn greift nach meiner Hand.
„Es ist so dunkel da drin“, sagt er. „Ich will da nicht rein.“
„Keine Angst, Samuel. Das ist nur ein Wald. Erinnerst du dich an den Schwarzwald?“
„Ja, wir haben uns verlaufen und Mami hat gesagt, du wärst ein Stümper.“
Ich grinse.
„Da hat Mami übertrieben.“ Ich zwinkre ihm zu. „Aber der Wald war viel dunkler, oder? Und es ist nichts passiert. Wir sind heil wieder rausgekommen. Das wird heute nicht anders sein, nicht wahr, Schatz?“, sage ich an meine Frau gewandt, doch sie antwortet nicht, schüttelt nur mit dem Kopf.
Die Luft ist stickig, als würde man durch ein Tuch atmen. Unzählige Mücken schwirren durch die Luft, Papageien krächzen in den Baumkronen und ein Bach plätschert ruhig neben dem Weg. Schweiß läuft mir in die Augen. Ich hasse Hitze.
Samuel und Lisa gehen Hand in Hand vor mir. Die Beine meiner Frau sind mit roten Flecken übersät. Verfluchte Moskitos würde sie sagen, sich über Insekten auslassen und sich darüber beschweren, dass wir durch einen stickigen Urwald wandern, anstatt faul am Meer zu liegen. Aber seit der Ankunft gestern Mittag hat sie nicht mit mir geredet. Sie freute sich über den Urlaub auf der Pazifikinsel, doch mit der Freude war es vorbei, als ich ihr im Flieger beichtete, dass ich vorhabe, Nan Madol zum Zwecke meiner literarischen Ambitionen zu besichtigen.
Ich gehe einen Schritt schneller, hole die beiden ein.
„Freut ihr euch auf eine sagenumwobene Ruinenstadt voller geheimer Gräber?“, frage ich in der Stimme eines Kirmesbudenbetreibers. Samuel lacht, meine Frau blickt mich an, als wollte sie mir gleich einen Ast ins Auge rammen.
Samuel tun die Füße weh, er stellt sich in den Bach, um sich etwas abzukühlen. Lisa und ich stehen abseits und trinken etwas aus unseren Wasserflaschen.
„Lisa, rede mit mir.“
Ich versuche ein Gespräch zu beginnen. Sie starrt unentwegt auf eine Palme.
„Okay, tut mir leid, dass ich nichts gesagt habe und dass wir nicht am Strand liegen und Cocktails trinken, aber musst du so sauer sein? Das können wir die nächsten neun Tage immer noch tun.“
„Erinnerst du dich an den Urlaub letztes Jahr?“
„Als wir am Persischen Golf waren?“
„Ja.“
„Klar.“
„Wo waren wir am ersten Tag?“
Ich kratze mich am Kopf, erkenne, worauf sie hinauswill.
„In Ur.“
„Richtig, wir haben diese sumerischen Ruinen besucht, weil sie perfekt für deinen großen Wurf waren. Damals hast du auch gesagt, es sei ja nur am ersten Tag. Und dann hast du den ganzen Urlaub vorm Notebook verbracht, weil du die Eindrücke aufschreiben wolltest, solange sie noch frisch waren.“
Ich kann nichts erwidern, stehe nur da und betrachte meine Füße. Ich fühle mich schlecht, wie ein gescholtener Schuljunge, weil sie Recht hat und ich keine Gegenargumente vorbringen kann.
Samuel springt im Bach herum, spritzt Wasser in alle Richtungen. Lisa sagt, er solle aufpassen, dass er seine Füße nicht an einem Stein zerschneidet. Dann wendet sie sich wieder mir zu.
„Ich hab ja nichts gegen einen Kulturtrip, aber ich weiß, dass es dir hier nur um deinen Roman geht, der sowieso in einer Schublade verstauben wird. Samuel und ich sind dir doch völlig egal.“
„Wieso sagst du das?“
„Wenn du nicht für die Uni arbeitest oder an deiner Doktorarbeit werkelst, schreibst du deine komischen Geschichten über Geister und Zombies und was weiß ich alles. Wann waren wir das letzte Mal im Zoo? Wolltest du nicht mit Samuel seit Ewigkeiten Kart fahren?“
Sie mustert mich mit verengtem Blick, ist während ihrer Rede lauter geworden, Samuel schaut auf. Ich versuche mich zu erklären, aber sie schneidet mir das Wort ab.
„Komm, lass gut sein, ich kann es nicht mehr hören.“
Sie winkt abwehrend mit der Hand und geht zu Samuel.
„Was meinst du, für wen ich das tue?“, frage ich.
Sie dreht sich langsam um, so wütend hab ich sie lange nicht gesehen.
„Für dich“, flüstert sie.
„Ich werde nicht rübergehen“, sagt Lisa.
Wir stehen am Ufer eines seichten Flusses, vor uns sind braune Steinstufen, die den Eingang von Nan Madol markieren. Nachdem wir ein Stück Urwald durchquert und den Fluss erreicht haben, erheben sich die Ruinen auf der gegenüberliegenden Seite.
„Warum nicht?“, frage ich.
„Ich fühl mich nicht wohl dabei, okay?“
Sie wirkt blasser, verschränkt beim Blick auf Nan Madol die Arme, als wäre ihr kalt. Was stimmt nicht mit ihr? Hat sie Angst?
„Du glaubst diese Geschichten doch wohl nicht etwa? Ausgerechnet du?“, frage ich.
„Hab ich nie gesagt.“
„So?“
„Ich hab einfach ein ungutes Gefühl dabei! Ihr zwei könnt ja gehen, ich warte einfach hier.“
Samuel sitzt bereits in einem kleinen Boot, das uns zu den Ruinen bringen soll. Ich fasse in meine Brusttasche und vergewissere mich, dass ich Zettel und Stift mitgenommen habe. Ich will die Eindrücke aufschreiben, solange sie noch frisch sind. Ich sage Lisa, es würde nicht lang dauern, und betrete das Boot.
Die Basaltsteine von Nan Madol wurden vor Jahrtausenden aufgestapelt wie Feuerholz vor einer Jagdhütte. Tausende Kilogramm dieser Steine wurden hierher transportiert, neunzig künstliche Inseln auf einem Korallenriff errichtet. Wie und warum vermag niemand zu beantworten. Es gibt nur wilde Spekulationen über Dämonen und einen Donnergott der Saudeleurs. Doch das sind nur Hirngespinste. Relikte einer fernen Vergangenheit. Die Natur hat den Ort Stück für Stück zurückerobert. Die Wege sind mit Gras überzogen, allerlei Gestrüpp sprießt an allen Ecken und Enden und Ranken bahnen sich ihren Weg zwischen den Steinen. Die Bauten selbst sind weit älter als Machu Picchu oder die Tempel der Azteken. Als ich diesen Ort betrachte, mit seinen fleckigen Steinen und überwucherten Wegen, wird mir klar, dass die Zeit letzten Endes alles zunichtemacht. Die Herrschaft der Saudeleurs endete auf ihrem kulturellen Höhepunkt, so wie die Herrschaft derer, die vor ihnen da waren. Nur die kalten Steine würden überdauern.
Wir sind nur zu fünft. Samuel, ich und eine andere Familie, die Spanisch spricht. Während unser Guide – ein junger Mikronesier namens Gerrard – einiges erklärt, mache ich Notizen. Er erzählt mir nichts Neues, aber die Atmosphäre des Ortes ist doch beeindruckend. Ich nehme mir vor, Gerrard später über McCinleys Aufzeichnung auszufragen. Irgendetwas muss er wissen. Samuel läuft während der Führung aufgeregt umher und betatscht begeistert die Steine.
„Gefällt es dir hier?“, frage ich ihn.
Er lächelt. Ihm sind in den letzten Wochen bestimmt zehn Zähne ausgefallen.
„Das ist wie eine Ritterburg und ich bin der König der Sadellos.“
Ich lache.
„Gibt es hier Knochen?“, fragt er.
„Na, hoffentlich nicht. Das würde deiner Mutter gar nicht gefallen.“
„Der alte Mann hat gesagt, Knochen böser Kinder sind das, woraus die Inseln gemacht sind.“
„Welcher alte Mann?“
Ich sehe mich um, erblicke nur die Spanier, Gerrard und einige andere Guides. Keiner ist älter als vierzig.
„Weiß auch nicht“, sagt er schüchtern und läuft voraus. Ich frage nicht weiter nach. Er hatte schon immer eine lebhafte Fantasie. Einmal an Weihnachten hatte er felsenfest behauptet, der Weihnachtsmann lauere unter seinem Bett und wolle seine Fersen anknabbern. Ich zucke mit den Schultern und richte meine Aufmerksamkeit erneut auf die Ruinen.
Gerrard zeigt uns die größte Grabanlage, sowie die kleineren Grabanlagen, die diese flankieren. Alle sind vom Aufbau her ähnlich und erinnern mich an ein Jenga-Spiel. Gegen Ende der Tour deutet Gerrard auf einen kleinen Hügel, der sich von der Umgebung abhebt, als wäre er extra dort platziert worden.
„Hier wurde das Schildkrötenopfer abgehalten“, erklärt er. „Die Priester der Saudeleurs schmetterten eine gesalbte Schildkröte auf einen heiligen Basaltstein und zertrümmerten ihr anschließend auf diesem Hügel mit einer geweihten Keule den Schädel.“
Und mit diesem Schlusswort endet die Tour. Wir klatschen und die spanische Familie betrachtet den Hügel näher. Ich winke Gerrard zu.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragt er.
Ich danke ihm für die tolle Führung, bei der ich kaum zugehört habe, und frage ihn, was er über McCinleys Aufzeichnungen weiß. Er grinst.
„Wenn Sie mich fragen, sind das nur Hirngespinste eines alten Irren, der hier Ausgrabungen geleitet hat. Da ist nichts dran. Ich arbeite seit zwei Jahren hier und habe nachts keine Ghule gesehen oder außergewöhnliche Tierlaute gehört.“
„Ich dachte, die Einwohner meiden Nan Madol bei Nacht?“
„Ja, die meisten schon, ich war selbst nur einmal hier, während es dunkel war. Hab nichts gesehen.“
Er wendet den Blick ab, ich runzle die Stirn. Verheimlicht er mir etwas? Ich kann ihn jedoch kaum der Lüge oder Heimlichtuerei bezichtigen, daher bedanke ich mich, klappe meinen Notizblock zusammen und stecke ihn zurück in meine Brusttasche. Ich sehe auf meine Uhr. Lisa wartet schon seit vierzig Minuten, es ist an der Zeit, zurückzukehren.
„Samuel, komm, wir gehen zurück.“
Keine Antwort.
„Samuel?“
Gerrard sieht sich ebenfalls um.
„Vor einer Sekunde war er doch noch da“, sagt er.
Ich erstarre. Mein Herz beginnt wild zu pochen, kalter Schweiß steht mir auf der Stirn und mein Magen verkrampft. Wo ist Samuel? War er nicht eben noch an meiner Seite? Hektisch bewege ich meinen Kopf von links nach rechts, gehe einige Schritte in diese und jene Richtung und rufe seinen Namen. Erst leise, dann immer lauter. Die spanische Familie beäugt mich genervt.
„Perdón, haben Sie meinen Sohn gesehen, einen kleinen Jungen, der am Anfang der Tour noch bei uns war?“
Alle drei schütteln den Kopf. Ich bemerke, dass meine Hände anfangen zu zittern und mir schwindelig wird. Die Sonne brennt in meinem Nacken. Aber noch ist alles in Ordnung. Vielleicht ist er ja zurück zu seiner Mutter gegangen. Nur keine Schwarzmalerei. Trotzdem wird mir schlecht. Ich lehne mich gegen eine Steinwand und atme tief durch.
„Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie Hilfe?“, fragt Gerrard.
„Nein, nein, ist schon okay. Vermutlich ist er bei meiner Frau … Die wird mir die Hölle heiß machen.“
Ich lächele gequält und ohne weitere Worte zu verlieren, lasse ich Gerrard zurück, der mich besorgt mustert. Ich eile zum Wasser zurück, halte nach Samuel Ausschau und rufe seinen Namen. Als ich den Fluss sehe, erblicke ich Lisa. Sie sitzt am anderen Ufer und hält die Füße ins Wasser. Sie ist allein.
Sie weint. Sie weint und flucht und macht mir Vorwürfe. Ich stehe da, weiß nicht, was ich tun soll, weiß nicht, was ich sagen soll.
„Unser Junge, wo ist er?“
Sie brüllt, Tränen laufen ihre Wangen hinab. Warum ich nicht aufgepasst habe, fragt sie, ich sei ein egoistisches Schwein, sagt sie. Ich höre das alles wie durch einen Filter, als trüge ich einen Gehörschutz. Die Sonne knallt auf meinen Schädel, ich spüre, wie ich einen Sonnenbrand bekomme. Vielleicht habe ich ja einen Hitzekoller und träume? Gerrards Stimme holt mich zurück in die Realität.
„Wir haben drei Teams gebildet. Eines sucht die Ruinen ab, zwei den Urwald. Wollen Sie sich uns anschließen?“
Ich nicke. Lisa schluchzt und dreht sich weg.
„Ruinen oder Wald?“, fragt er.
„Wald“, sage ich.
Die Luft ist noch schwüler geworden, die hohe Luftfeuchtigkeit erschwert mir das Atmen. Seit drei Stunden suchen wir bereits den Wald ab, von Samuel fehlt jede Spur. Touristenführer durchkämmen das Unterholz. Äste knacken, Blätter rascheln und hin und wieder sehe ich ein verzweifeltes Kopfschütteln. Lisa ist am Fluss geblieben, zusammen mit einigen Touristen, die ihr Mut zusprechen und sie trösten wollen. Ich denke, sie wissen genauso gut wie ich, dass das keinen Zweck hat. Gerrard steht vor mir, durchsucht Büsche. Er hat gesagt, ich solle zurückbleiben, mich nicht ins Unterholz begeben. Es gebe Tiere – Spinnen und dergleichen -, die für Ungeübte eine Gefahr darstellen könnten. Also bleibe ich zurück, warte und bete und spüre, wie ich mit jeder verstrichenen Minute nervöser werde. Der Einbruch der Nacht ist in wenigen Stunden und ich will mir nicht vorstellen, was passieren würde, wäre mein Junge dann noch auf der Insel.
Als wir an einem Wasserfall vorbeikommen, höre ich einen Touristenführer rufen. Er habe etwas gefunden, sagt er. Wir nähern uns seinem Fund. Ein abscheulicher Anblick bietet sich mir. Knochen liegen auf dem Waldboden verstreut. Eine Fläche von der Größe eines Tennisplatzes ist übersät mit gelblichen, deformierten Knochen, kaum größer als die von Kindern. Hunderte, Tausende.
„Mein Junge?“, frage ich.
„Die Knochen liegen schon länger hier“, sagt der Touristenführer. „Wären die Knochen Ihres Sohnes darunter, wären sie … nun ja … glitschiger.“
Ich verziehe das Gesicht, möchte an sowas gar nicht denken.
„Vermutlich Affenknochen“, sagt Gerrard.
„Warum hat das keiner weggeräumt?“, frage ich.
„Weil wir das zum ersten Mal sehen“, antwortet er und blickt nach oben, zu den dichten Baumkronen. „Wir benutzen nur den Waldweg, der zur Bucht führt und versuchen, den Wald möglichst unberührt zu lassen.“
Der Touristenführer kniet sich hin und berührt einen der Knochen. Er zuckt zurück.
„Verdammt, die sind kochend heiß.“
„Wie kann das sein?“, frage ich. „Sie liegen doch im Schatten der Baumkronen.“
Ich bekomme keine Antwort. Wie können die beiden so gelassen bleiben? Da weiten sich Gerrards Augen. Er hebt die Hand und deutet auf Knochen, die am anderen Ende des Grabes liegen. Es sind Schädel von menschlichen Kindern.
„Ich möchte, dass du die Insel schnellstmöglich verlässt.“
Die Dämmerung schreitet voran, die letzten Touristen machen sich auf den Rückweg zur Bucht.
„Warum?“, fragt Lisa.
Ich wische mir den Schweiß von der Stirn, suche nach den richtigen Worten.
„Wir haben ein Massengrab im Wald gefunden.“
„Was?“
„Knochen von Affen.“ Ich lüge sie an, es muss sein, um ihretwillen. „Die Angestellten meinen, es könnte sich um den Fressplatz eines Tieres handeln. Es ist einfach zu gefährlich hier.“
Jegliche Farbe hat ihr Gesicht verlassen. Ich fürchte, sie bricht gleich zusammen. Aber das tut sie nicht. Sie steht nur da und blickt mich mit tränennassen Augen an.
„Bitte, ich würde mich besser fühlen, wenn ich wüsste, dass du in Sicherheit bist.“
Sie scheint zu überlegen, nickt dann jedoch.
„Gut, ich gehe. Ich werde auch die Polizei informieren, vielleicht hat ihn jemand … entführt und nach Pohnpei gebracht, ohne dass wir es mitbekommen haben.“
Ihre feste Stimme und ihre klare Ansage überraschen mich. Ich hätte gedacht, sie würde protestieren und mir weiterhin Vorwürfe machen, doch sie wirkt stabil, stellt sich der Situation. In diesem Augenblick wird mir wieder bewusst, warum ich sie liebe.
„Wirst du die ganze Nacht suchen?“, fragt sie.
„Wenn es sein muss, werde ich das tun.“
Sie wirft mir einen letzten Blick zu, nickt und schließt sich den Touristen auf den Weg durch den Wald an. Ich beobachte sie, bis die Bäume sie endgültig verschlucken.
„Wir werden auch gehen“, höre ich eine Stimme hinter mir sagen.
Als ich mich umdrehe, stehen die Touristenführer vor mir.
„Ihr wollt die Insel verlassen?“, frage ich ungläubig. „Aber wir haben meinen Sohn noch nicht gefunden!“
Von allen Seiten prasseln ihre Stimmen auf mich ein.
„Niemand bleibt nachts hier.“
„Hier ist es nicht sicher.“
„Sie haben doch die Knochen gesehen!“
Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und frage: „Seid ihr so von Ammenmärchen geblendet, dass ihr einen kleinen Jungen auf der Insel zurücklassen wollt?“
Die Guides vermeiden Blickkontakt mit mir. Ich bekomme keine Antwort.
„Ich fass es nicht.“
Ich werfe resignierend die Hände nach oben.
„Es tut uns leid. Sie sollten auch gehen.“
„Ihr wisst, dass ich das nicht kann und auch nicht werde.“
Einige Guides werfen mir besorgte Blicke zu, aber sie scheinen zu akzeptieren, dass mein Entschluss unumstößlich ist.
„Viel Glück“, sagen sie und klopfen mir auf die Schulter. Und sie gehen. In geschlossener Formation machen sie sich auf den Weg. Sie lassen mich zurück. Allein. Doch einer bleibt stehen. Er scheint zu überlegen. Dann dreht er sich um, kommt auf mich zu und blickt mir tief in die Augen.
„Ich werde hierbleiben und dir helfen“, sagt Gerrard.
Der Himmel nimmt die Farbe von Blei an und wir suchen weiter den Wald ab. Die Sonne ist fast gänzlich hinter dem Horizont verschwunden. Gerrard hat seine Taschenlampe rausgekramt und leuchtet ins Dickicht. In der anderen Hand hält er ein Jagdmesser. Insekten zirpen lautstark und eine Brise weht sanft durch die Bäume. Der Wind ist angenehm frisch auf meiner verschwitzten Haut. Die Temperatur muss noch immer an die dreißig Grad hoch sein. Ganz zu schweigen von dieser elenden Luftfeuchtigkeit.
„Was brachte dich eigentlich dazu, hier zu arbeiten?“, frage ich.
„Meine Großmutter hat mir immer von dem Ort erzählt, ich kenne also alle Geschichten. Da hat sich das als Nebenjob neben meinem Studium angeboten.“
„Und du warst schon in der Nacht hier.“
Nun leuchtet er mir mit der Taschenlampe ins Gesicht, blendet mich.
„Daher weht also der Wind. Kommst du immer so direkt zur Sache?“
„Ich frage doch nur. Und könntest du aufhören, mir ins Gesicht zu leuchten?“
Er leuchtet wieder in die Büsche.
„Wie gesagt, es war nur ein Mal. Mit meinem Bruder. Wir waren noch klein.“
„Warum wart ihr hier?“
„Eine Mutprobe. Für so eine bescheuerte Clique.“
„Mein Sohn ist auch in so einer. Was ist damals passiert?“
Er geht wieder in die Büsche, ohne zu antworten, ohne mich anzusehen, und lässt mich unter dem funkelnden Sternenhimmel allein auf dem Weg zurück.
Die Nacht ist hereingebrochen.
Der Wind weht stärker. Aus der frischen Meeresbrise ist eine kräftige Sturmbö geworden. Blätter und kleine Äste fliegen durch die Luft, der ganze Wald rauscht wie ein Wasserfall. Der Wasserfall. Wir sind ganz in der Nähe. In der Nähe des Meeres, der Knochen, des Massengrabs. Gerrard will nicht über die Nacht damals reden. Aber das ist gerade unwichtig. Ich stehe am Rand des Waldes und blicke auf den Ozean hinaus. Der Mond spiegelt sich im Wasser. Die Kronen kleiner Wellen glitzern im Licht. Das erinnert mich an Nächte in Hamburg, Nächte, in denen ich an der Elbe sitze, auf das Wasser starre und mir Gedanken mache. Immer, wenn meine Frau Erfolg hat - eine Beförderung, den ersten Platz beim Dressurreiten, Sieg bei der Wahl zur Elternsprecherin -, denke ich nach. Über mein Leben, meine Familie, meine Zukunft. Stundenlang sitze ich im Hafen auf einer Bank, betrachte die Lichter der Stadt und höre das Wasser schwappen. Ich sehe die Gesichter der Universitätsprofessoren, wie sie mich herablassend beäugen, erinnere mich an jahrelanges Brüten über meine Doktorarbeit ohne Ergebnis und meine gescheiterten Manuskripte. Nichts klappt, nichts würde je klappen. Manchmal weine ich. Nicht bitterlich, nie mehr als ein paar Tränen, so als hätte ich einen Schlag auf die Nase bekommen, aber ich weine. Sollte ich niemals ein Erfolgserlebnis haben? Ich fühle mich wie ein Versager. Und heute Nacht ist es genauso.
Ich spüre den Wind auf meiner Haut. Er wird stärker. Ein Sturm muss im Anmarsch sein. Doch der Pazifik wogt sanft hin und her. Zu sanft. Müssten die Wellen bei dem Wind nicht höher sein, das Wasser sich stärker kräuseln? Wo sind die Gewitterwolken? Ich blicke nach oben. Der Mond scheint hell, es sind keine Wolken über dem Meer. Doch direkt über Temwen Island ist der Himmel schwarz, als blickte man in ein Loch, als wäre man blind. Keine Sterne, keine Wolken, kein Mondschein, nichts. Ich höre Gerrard hinter mir.
„Irgendwas stimmt hier nicht“, sagt er.
„Dir ist also auch der Himmel aufgefallen?“
„Was?“
Ich deute nach oben.
„Was zum…?“
Wir stehen da, blicken nach oben, blicken in das Nichts. Der Wind peitscht, Äste knacken, Bäume schwanken.
„Das ist merkwürdig“, sagt Gerrard. „Aber das meinte ich nicht.“
Mir schwant Übles.
„Was ist denn dann so merkwürdig?“
„Ich war vorhin bei dem Massengrab, weißt schon, am Wasserfall.“
„Ja und? Hast du was gefunden?“
„Das ist es ja.“
„Was meinst du?“
„Die Knochen … sie sind alle weg.“
Wir sind an der Stelle des Massengrabes. Alle Knochen sind spurlos verschwunden.
„Könnte sie jemand weggeräumt haben?“, frage ich.
„Unmöglich, nicht alle, nicht so schnell.“
Und da spüre ich einen Atem im Nacken. Ein Schauer fährt mir durch den Körper. Ich vernehme deutlich ein Ein- und Ausatmen, fühle die Atemluft auf meiner Schulter streifen. Es ist ein rasselnder Atem wie der eines Löwen. Mein Körper versteift sich. Mein Herz rast, meine Muskeln sind angespannt, meine Hände zu Fäusten geballt. Ich drehe mich langsam um, bereit dem Tod ins Antlitz zu blicken, die Fratze eines wilden Tieres zu sehen. Doch ich sehe nichts. Nur Bäume und das Meer dahinter.
„Was ist denn? Hast du was gesehen?“, fragt Gerrard.
„… Nein, ich glaube nicht. Ich muss total übermüdet sein.“
Ich fahre mir durch die Haare.
Gerrard legt mir eine Hand auf die Schulter.
Da vernehme ich ein anderes Geräusch, weit entfernt und leise. Der Wind scheint es durch den Wald zu tragen, es mir ins Ohr zu flüstern. Ein menschliches Geräusch. Ein Hilfeschrei. Der Schrei eines Kindes.
„Hast du das auch gehört?“, frage ich.
Gerrard nickt langsam.
„Das muss von den Ruinen kommen“, sagt er.
Wir blicken uns kurz an und dann laufen wir durch den Wald, zurück zu dem Weg und zurück zu den Ruinen. Die Taschenlampe leuchtet beim Laufen wild in alle Richtungen. Ich weiche Ästen und Wurzeln aus und sehe schon bald den Fluss und Nan Madol auf der gegenüberliegenden Seite. Wir setzen in einem kleinen Boot über, der Wind wird stärker, fast orkanartig. Es müssen die Ruinen sein. Sie pusten den Wind über Temwen Island. Als wir die Ruinen betreten, habe ich das Gefühl, die Nacht sei dunkler geworden. Aber ich kann noch genug sehen, um zu bemerken, dass die Steine keine Flecken mehr haben, das Gras, das die Steine überwucherte, fort ist und Steine, die zuvor Bruchstellen hatten, wieder intakt sind, als wären sie erst gestern hier platziert worden.
Wir haben uns aufgeteilt.
Ich suche beim Hügel des Schildkrötenopfers nach der Quelle der Stimme. Doch ich höre sie nicht mehr, finde nichts außer Stein. Habe ich mich getäuscht? Hat mir mein Gehirn einen Streich gespielt, entsprungen aus dem Wunsch, ein Lebenszeichen von Samuel zu erhalten? Nein, das kann nicht sein. Immerhin hat Gerrard die Stimme auch gehört. Ich sehe den Lichtkegel seiner Taschenlampe in der Nähe. Ich hoffe, er hat mehr Glück als ich. Da sehe ich einen Schatten an der Außenmauer einer Grabanlage. Einen menschlichen.
„Samuel?“
Der Schatten zeigt keine Regung, als wäre er an die Mauer gemalt. Ich sehe mich um, versuche die Person zu erblicken, die den Schatten wirft. Doch ich bin allein. Niemand ist bei mir und doch ist da dieser Schatten. Dem Körperbau zu urteilen, muss es der Schatten eines Mannes sein. Zum zweiten Mal in dieser Nacht versteife ich mich, wage mich nicht zu rühren. Und doch gehe ich auf die Mauer zu. Der Schatten bleibt unverändert. Ich steh direkt vor ihm und berühre die Mauer. Sie ist warm. Während ich vor dem Schatten stehe, fällt mir auf, dass ich selbst keinen werfe. Ich blicke gen Himmel. Der Mond ist nicht zu sehen, es gibt keine Lichtquelle. Die Sterne sind erloschen, und doch sind die Ruinen hell erleuchtet.
Plötzlich höre ich ein Quieken. Es kommt von dem Hügel des Schildkrötenopfers. Unzählige Schildkröten liegen um den Hügel verstreut. Ihre Köpfe sind zerschmettert, ihre Gehirne schleifen über den Boden. Obwohl sie tot sein müssten, bewegen sich ihre Vorderläufe. In einem Versuch, sich fortzubewegen, scharren sie über den Boden. Dunkles Blut besudelt den Hügel, sprudelt aus dessen Spitze. Es läuft über die Steine, über die Schildkröten, auf mich zu. Ich höre es plätschern, wie eines dieser kleinen Brunnen, die man sich auf den Nachtschrank stellen kann. Gleich berührt das Blut meine Schuhe. Ich schließe die Augen, will nicht sehen, wie es meine Beine umspült. Ich weiß nicht, wie lange ich so da stehen blieb, aber als ich meine Augen öffne, ist das Blut fort, ist der Schatten fort, sind die Schildkröten fort.
Ich höre Gerrard schreien.
„Da bist du ja!“
Er dreht sich im Kreis, lächelt wie ein Wahnsinniger.
„Du warst also die ganze Zeit hier“, sagt er.
Ich blicke ihn fassungslos an.
Er lacht.
„Und ich dachte, du wärst damals hier gestorben. Weißt du noch, wegen dieser bescheuerten Mutprobe?“
„Gerrard? Wovon redest du?“
„Ruhe! Ich rede mit meinem Bruder.“
Es war weit und breit niemand zu sehen.
„Wie geht es dir?“, fragt er einen Stein.
„Komm zu dir.“
Ich rüttle ihn an der Schulter, er zuckt zurück.
„Weg mit dir!“
Ich stehe ratlos da, kann nichts sagen, nichts tun. Ich kann nur Gerrard beobachten, wie er mit einer Wand Witze reißt und in Erinnerungen schwelgt.
Gerade als ich denke, es kann nicht noch verrückter werden, erscheinen Lichter über uns. Aus dem schwarzen Loch am Firmament ist ein Farbenspiel aus hellblau und grün geworden. Es erinnert mich an Polarlichter. Wunderschön und schrecklich zugleich.
„Nimm sie weg, nimm sie weg.“
Gerrard fängt an zu brüllen.
„Sie sitzen unter meinen Fingernägeln“, sagt er.
„Wovon redest du?“
„Die Maden! Sie fressen mich!“
Ich sehe, wie er sein Messer packt.
„Was hast du vor?“, frage ich und befürchte das Schlimmste.
„Ich muss sie entfernen, bevor sie mir unter die Haut krabbeln!“
Er fährt mit der Spitze des Messers unter einen seiner Fingernägel.
„Bist du verrückt?“
Er blickt mich verzweifelt an. Ein Blick voller Angst und Wahn. Dann schiebt er sein Messer langsam unter seinen Fingernagel. Blut tropft auf den Boden, er verzieht sein Gesicht vor Schmerz. Doch er macht weiter. Immer tiefer schneidet er - die Klinge erreicht das Nagelbett - und dann, als wollte er ein Schloss mit einer Brechstange aufbrechen, vollführt er eine Hebelbewegung. Mit einem Schmatzen löst sich der Fingernagel vom Fleisch und landet auf dem Boden. Sein blutiger Finger glitzert in dem seltsamen Licht.
„Jetzt kann ich die Maden entnehmen“, sagt er und stochert mit der Messerspitze im weichen Fleisch herum.
„Lass das sein.“
Ich will ihn davon abhalten, sich noch mehr zu verletzen, aber er wirft mir Blicke zu, so wahnsinnig, so besessen. Und er hat immer noch ein Messer in der Hand. Plötzlich wird das Licht über uns intensiver. Um uns herum sind Schatten. An den Wänden, auf dem Boden, überall. Sie scheinen zu tanzen. Es ist ein makabrer Tanz, so als stünden sie unter Strom. Sie zucken und winden und krümmen sich. Ein Laut ertönt. Es ist wie der Schrei eines Tieres im Todeskampf, gemischt mit dem hämischen Lachen eines alten Mannes. Gerrard ist erstarrt. Ich packe ihm am Arm.
„Lass uns weg von hier“, sage ich.
Er rührt sich nicht.
„Der leuchtende Mann“, flüstert er. „Er kommt, um uns zu sich zu holen.“
Im Eingang der rechteckigen Grabanlage erscheinen hellblaue Augen in der Dunkelheit. Sie sind von roten Striemen durchzogen, wie blutige Kratzer. Ich höre keine Schritte, doch sie kommen näher, schweben auf uns zu. Als die Augen ins unnatürliche Licht treten, glaube ich zu halluzinieren. Das Licht bildet unter den Augen einen blass-grauen Bart, der bis zum Boden reicht. Ansonsten ist dort, wo ein Körper hätte sein sollen, nichts. Nur diese Augen, die mich boshaft anfunkeln, und ein Bart, der im Licht zu wehen scheint. Die Schatten tanzen schneller. Sie drehen sich wild im Kreis und ich glaube, bei manchen zerrissene Gedärme zu erkennen, die ihnen zwischen den Beinen baumeln. Die Luft riecht nach Blut und Verwesung. Gerrard sagt nichts, tut nichts, starrt lediglich auf den leuchtenden Mann. Und auf die Kinder, die hinter ihm aus den Schatten treten.
Bei Gott, ein Bild der Perversion bietet sich mir. Dutzende gehäutete Kinder sammeln sich hinter dem leuchtenden Mann. Das bisschen Haut, das sie haben, hängt ihnen in Fetzen vom Körper. Ihre entblößten Muskeln schimmern schleimig. Sie alle haben hellblaue Augen und grinsen hämisch. Sie heben ihre hautlosen Arme. Gelbliche Knochen treten unter den Sehnen zum Vorschein.
„Bruder?“
Gerrard geht einen Schritt auf sie zu. Ich will was sagen, ihn aufhalten, doch ich bin wie erstarrt.
„Da bist du ja“, sagt er.
Und dann läuft er, in Richtung der Kinder, in Richtung des leuchtenden Mannes. Die Kinder reißen gierig die Mäuler auf, so weit, dass ihnen das Fleisch an den Wangen mit einem grotesken Geräusch zerreißt. Schwarze Zungen zappeln hungrig in der Dunkelheit. Die Augen der abscheulichen Gottheit verengen sich siegessicher. Sieht Gerrard denn nicht, worauf er da zuläuft? Er hat schon fast den Mann erreicht. Ich mache einen Schritt vorwärts. Ich darf nicht zulassen, dass er sich in den Tod stürzt. Doch gerade, als ich diesen Entschluss gefasst habe, spüre ich einen Sog. Gerrard ist dem leuchtenden Mann zu nahe gekommen. Ich muss würgen, als ich sehe, was mit ihm geschieht. Der Mann saugt ihm die Haut von den Knochen. Fetzen fliegen durch die Luft. Gerrard schreit um Gnade. Doch sie wird ihm nicht gewährt. Sein Fleisch löst sich von den Knochen, er schreit ohrenbetäubend. Seine Haare werden aus der Kopfhaut gerissen, ganze Büschel fliegen durch die Luft und tanzen wie ein Moskitoschwarm um den leuchtenden Mann herum. Und dann schälen sich die Augen mitsamt Sehnerv aus dem Schädel und seine Zähne lösen sich mit einem Knacken aus seinem Kiefer. Blut spritzt ihm aus Augenhöhlen und Nase, sein Schrei verkommt zu einem Gurgeln. Ich will meinen Blick abwenden, ihn nicht sterben sehen, doch ich kann nicht, bin wie gebannt. In seinen letzten Momenten versucht Gerrard sich umzudrehen und fortzulaufen, doch der Sog des Wesens ist zu stark und zwingt ihn auf die Knie.
"Bitte... nicht...", bringt er stammelnd hervor. Es ist das Letzte, was er sagt. Seine Zunge schnellt aus seinem Mund, als hätte sie jemand gepackt und ziehe sie aus dem Rachen. Mit einem Geräusch, das mir durch Mark und Bein geht, löst sich seine Zunge aus seinem Mund. Die Bilder haben sich in mein Gedächtnis gebrannt, denn dabei bleibt es nicht. Seine Organe werden ebenfalls aus seinem Mund gesaugt. Lunge, Leber, Darm. Er fuchtelt wild mit den Händen, während ihm seine Gedärme aus dem Körper schießen, versucht sie zu fassen, sie davon abzuhalten, weggesaugt zu werden. Doch schon bald erschlaffen seine Arme und nach einigen Sekunden sind nur noch Knochen von ihm übrig. Ich kotze. Warme Flüssigkeit strömt mir aus dem Mund, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen kann. Das Erbrochenen klatscht auf meine Schuhe und schimmert im Licht. Ich ringe um Fassung.
„Nein, nein, nein.“
Er hat ihn getötet, ihn komplett in sich aufgesogen, doch der leuchtende Mann scheint noch hungrig zu sein. Er schwebt mir weiterhin entgegen. Erst jetzt erblicke ich hinter ihm die Kreatur, die einst mein Sohn gewesen war.
Ich falle auf die Knie.
„Samuel, es tut mir leid“, sage ich mit leiser, weinerlicher Stimme.
Laut und deutlich vernehme ich die Stimme meines Sohnes, als wäre sie in meinem Kopf.
„Der leuchtende Mann sagt, ich muss hierbleiben und die Steine für immer beschützen.“
Er musste in die große Grabanlage gelaufen und dort diesem formlosen Schrecken begegnet sein, der sich jetzt vor mir aufbäumt.
„Warum mein Junge?“, rufe ich verzweifelt.
Der leuchtende Mann kommt näher.
„Darf ich dir was vorsingen, Papa? Ein Lied, damit wir einschlafen können?“
Mit hoher Stimme beginnt sie, in meinem Kopf zu singen.
Funkel, Funkel, kleiner Stern.
Ich sitze zusammengesackt auf dem Boden. Das Lied hat Lisa ihm immer vorgesungen. Samuel kommt ebenfalls auf mich zu.
Ach wie bist du mir so fern.
Seine Augen leuchten, sein Mund öffnet sich ebenfalls in grotesker Weise.
Wunderschön und unbekannt.
Nur noch ein paar Schritte, nur noch wenige Sekunden.
Wie ein strahlend Diamant.
Mein Sohn streckt seine kleinen Händchen aus, versucht mich zu berühren. Es ist gut so. Mein Sohn kommt zu mir zurück, wir werden uns nie mehr trennen, uns nie mehr aus den Augen verlieren. Ich lächle und breite die Arme aus.
Ich spüre den Sog des leuchtenden Mannes und fühle, wie sich meine Haut spannt. Meine Muskeln brennen, Blut schießt mit Hochdruck durch meinen Körper. Die Geräusche meiner Umgebung werden intensiver. All meine Gedanken sind wie fortgeblasen. So fühlt sich also ein Mann, kurz vor seinem Ende. Doch soll es hier enden? Mein Leben beendet von seelenlosen Wiedergängern? Ich muss an die Worte Samuels denken, dessen Gesang in meinem Kopf nachhallt. Ich muss diesen Ort beschützen … ewiglich. Doch wäre das so schlimm? Ich wäre mit meinem Sohn wiedervereint, ich wäre unsterblich. Ist das nicht das Opfer wert? Mit diesem Gedanken lasse ich meinen Blick ein letztes Mal über die Ruinen schweifen.
In einem letzten Moment geistiger Klarheit sehe ich die Stelle vor dem Urwald, wo noch vor wenigen Stunden Lisa saß. Die Palmen wogen im Wind, Blätter rascheln und Vögel flattern durch die Nacht. Der Pazifik schimmert im Polarlicht. Die Wahrheit trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Irgendwo dort draußen sind meine Frau, mein Job und mein Traum, ein renommierter Autor zu werden. Dort draußen zu sein, heißt zu leben. In Nan Madol gibt es nur den Tod und ewiges Bedauern. Ich wäre nicht mit meinem Sohn zusammen, sondern mit einem Dämon, der meinen Sohn imitiert. Ich kann nicht hier bleiben, ich darf nicht hier bleiben.
Ich wende meinen Blick von Samuels Fratze ab. Meine Glieder sind schwer wie Blei, doch irgendwie schaffe ich es, aufzustehen. Die Abscheulichkeit steht vor mir, lechzt nach meiner Seele.
„Mich bekommst du nicht.“
Unter Schmerzen entziehe ich mich dem Sog, spüre jeden Knochen in meinem Körper, fühle meine Knie knirschen, fühle wie meine Muskeln sich verkrampfen. Doch ich drehe mich um und laufe. Weg von dem leuchtenden Mann, weg von Samuel und den gehäuteten Kindern. Ich laufe so schnell ich kann. Meine Beine tragen mich, ohne dass mir bewusst ist, dass ich die Macht über meine Bewegungen habe. Ich erreiche den Eingang, laufe die Steintreppe hinunter und durch den Wald. Ich blicke nicht zurück und denke nicht nach, handle instinktiv. Ich will einfach nur weg von hier, das alles vergessen, doch ich weiß, dass ich das nie würde können. Als ich Gerrards Boot erreiche, fängt es bereits an zu dämmern. Ich drücke und schiebe. Ich fühle mich verfolgt, habe Angst. Doch ich bin allein an diesem Strand. Das Boot gleitet sanft über den Sand, hinein ins Wasser. Ich springe an Bord und mache den Motor an.
Die ersten Sonnenstrahlen lugen über den Horizont. Das Boot schaukelt sanft im Wellengang. Der Motor rattert leise vor sich hin. Ein Sturm kommt auf. Schwere Wolken haben sich über dem Ozean gesammelt und werden vom Wind Richtung Pohnpei getrieben.
Ich massiere mir die Stirn und versuche, die Geschehnisse irgendwie zu verarbeiten. Die Münder, die Augen, die Stimme in meinem Kopf, der Ausdruck auf dem hautlosen Gesicht meines Sohnes. Ich ziehe meinen Notizblock aus der Brusttasche und betrachte die erste Seite. All der Terror, all der Schmerz, nur für einen Stapel Papier. Ich werfe den Block in hohem Bogen in den Pazifik und beobachte ihn eine Weile, bis er endlich aus meinem Sichtfeld verschwindet. Ich merke zunächst nicht, wie mir Tränen an den Wangen hinunterlaufen und der Regen einsetzt.
Ich schüttle langsam den Kopf und während der Regen stärker wird und die Wellen gegen das Boot schlagen, höre ich das Flüstern des leuchtenden Mannes, des uralten Wesens, älter als die Saudeleurs und älter als die Steine Nan Madols, das mich und meine Frau zu sich in den Abgrund ruft.