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Die Schabe mit der pinken Krawatte
Die Schabe mit der pinken Krawatte
Als ich an einem Donnerstagmorgen das Frühstücksei aufklopfen wollte, bemerkte ich verwundert, dass ich den silbernen Löffel in zwei Teile zerbrochen hatte. Ich schaute auf meine rechte Hand und dort, wo ansonsten blaue Adern die braune Haut durchfurchten und sich fünf Finger geschmeidig bewegten, erblickte ich zwei schwarze Scheren. Nanu, dachte ich und rieb mir mehrmals über die Augen, weil ich glaubte, noch nicht richtig wach zu sein. Probehalber bohrte ich die Gabel, die links neben dem Marmeladenbrötchen lag, in den Oberschenkel hinein und stellte fest, dass ich keinen Schmerz spürte. Allerdings besaß ich erstaunlicherweise sechs Beine, von denen vier nackt waren, da meine Hose, die ich vorhin angezogen hatte, nur zwei bedeckte. Wann mag diese Verwandlung stattgefunden haben? überlegte ich. Vorhin im Badezimmer beim Rasieren hatte ich auf jeden Fall noch nichts Außergewöhnliches an mir entdeckt. Ich beschloss, mich erneut im Spiegel zu betrachten. Anstatt wie gewöhnlich mühelos auf die Füße zu gelangen, fiel ich beim Versuch aufzustehen jäh auf den Teppichboden und zappelte dort wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken, derweil meine sechs behaarten Fühler wild hin und her ruderten und die schwülwarme Sommerluft in meinem Esszimmer von links nach rechts schaufelten. Für diesen Unsinn habe ich jetzt keine Zeit, denn ich werde in einer dreiviertel Stunde im Büro erwartet, ging es mir durch den Kopf. Ich gab mir einen Ruck, drehte mich mit Schwung hundertachtzig Grad um meine Achse und stemmte mich mühsam in die Höhe.
Die pinke Krawatte schnürte mir ein wenig den Hals zu, das dunkelblaue Hemd knöpfte ich auf, da ich mich darin heute sehr beengt fühlte, Hose und Schuhe zog ich hingegen aus, weil sie mir keinen Nutzen mehr stifteten, Der Zeiger der Wanduhr rückte unerbittlich auf halb acht vor. Höchste Zeit, dass ich das Haus verließ. Auf allen sechsen eilte ich durch die Tür und hastete über den langen Flur. Ich nahm zehn Stufen auf einmal und erreichte innerhalb weniger Sekunden die Lobby unseres Appartementbaus. Die Aktentasche in meiner rechten Schere festgeklemmt sprang ich am Portier vorbei, der gerade Anweisungen an die Damen des Reinigungstrupps erteilte: »Bitte achten Sie heute penibel auf sämtliche Öffnungen in Spülbecken, Badewannen und Duschkabinen. Hier ist nachts eine Armada von Insekten gelandet. Muss an der Julihitze liegen, die seit Tagen in unserer Stadt brütet. Setzen Sie notfalls harte Chemikalien ein, um die Invasion zu bekämpfen.«
»Das ist interessant«, murmelte ich, während sich hinter mir eine giftgelbe Wolke ausbreitete und eine der Frauen keifte: »Da läuft gerade eine gigantische Schabe über die Marmorfliesen.« Sie fuchtelte mit einer Spraydose hinter mir her, von der mich drei Totenköpfe angrinsten. Als mich das Gas erreichte, begann ich zu husten und würgte zähen Schleim nach oben. »Sind denn heute alle verrückt geworden?«, schimpfte ich und quetschte mich durch die Drehtür, um draußen tief ein- und auszuatmen. Ich schnupperte neugierig am Auspuffrohr eines orangefarbenen Omnibusses und verspürte große Lust, dort hinein zu krabbeln, um die Wärme des Kohlenmonoxids zu genießen. Denn trotz der dreißig Grad, die das Thermometer bereits anzeigte, empfand ich die heutige Temperatur als kalt und mich fröstelte auf dem Weg zum Bahnhof. Auf den letzten Drücker erreichte ich die unterirdische Station. Die Türen der Linie 6 würden sich in wenigen Sekunden schließen. Ich stürmte in den mittleren Waggon und zwängte mich in die linke, hintere Ecke, wo ich mich an einer Stange festhalten konnte. Hier herrschten heilloses Gedränge nörgelnder Reisender und Gewühle transpirierender Leiber. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung, verließ die hellerleuchtete Station, nahm Fahrt auf und wurde vom Dunkel des Tunnels verschluckt. Der korpulente Mann neben mir trug eine blassgrüne Synthetikweste direkt auf der bloßen Haut. Unter seinem in Richtung Haltegriff ausgestreckten Arm erspähte ich ein Büschel gekräuselter Achselhaare, die feucht im schummrigen Licht der Kabine glänzten. Geruch alter Ausdünstung stieg mir in die Nase. Mmh, dachte ich, ob ich mal daran lecken darf? Am nächsten Stopp stiegen mehr Personen ein als aus. Das ohnehin prall besetzte Abteil füllte sich immer mehr.
»Bitte bleiben sie weg von den Türen. Ansonsten können wir nicht weiterfahren«, dröhnte die verärgerte Stimme des Zugführers aus den Lautsprechern. Eine türkische Mutter mit Buggy blockierte den Eingangsbereich. Zwei in Schwarz gekleidete Hünen von der Security flitzten herbei und forderten die junge Frau auf, die elektronische Sperre freizugeben. Diese zuckte nur mit den Schultern, schien die Hinweise nicht zu verstehen. Die Sheriffs zerrten sie daraufhin aus dem Waggon heraus und gaben dem Schaffner das Signal zur Weiterfahrt. »Unverschämtes Ausländerpack«, lispelte der schwitzende Dicke neben mir, während mir das Wasser im Munde zusammenlief, wenn ich auf die salzigen Schweißperlen gaffte. »Das würden die sich in Anatolien nicht trauen«, zischte er und glotzte Beifall heischend in die Runde. Die Menschen um ihn herum stierten gelangweilt auf den Boden. Niemand verspürte Lust, sich mit ihm auf ein Gespräch einzulassen. Die 6 rauschte nun aus dem unterirdischen Bahnsystem heraus in das gleißende Licht eines strahlenden Hochsommertags.
An der Station Holland in Not krabbelte ich aus dem Wagen und lief so schnell ich konnte auf den gläsernen Wolkenkratzer Nr. 23 zu, der im Volksmund scherzhaft Nackte Gurke genannt wurde. Mit dem Expressaufzug gelangte ich innerhalb weniger Sekunden zu Stockwerk 50, raste durchs Treppenhaus drei Etagen nach unten und erreichte atemlos mein Zimmer 4711, von wo aus ich in ruhigen Stunden einen atemberaubenden Blick auf die Skyline unserer schönen Stadt genießen konnte. Allerdings stand mir der Sinn an diesem Morgen nicht nach gotischen Kathedralen und grünen Hügeln in der Ferne. Die Sekretärin im Vorraum schien bereits darauf gewartet zu haben, dass ich den Schlüssel in der Tür drehte und die Aktentasche auf die Mahagoni-Tischplatte warf.
»Guten Morgen, Herr Vize-Abteilungsleiter«, empfing sie mich und strich sich mit der linken Hand eine blonde Strähne aus der Stirn, indessen sie mit der rechten die Geschäftspost vor mir ausbreitete. »Sie sehen heute schauderhaft aus«, sagte sie. »Als ob sie die ganze Nacht Party gefeiert haben. Beinahe hätte ich sie für eine riesige Madagaskarschabe gehalten. Gut, dass ich nicht schreckhaft bin. Ansonsten würde ich hysterisch auf den Flur laufen und dort laut um Hilfe rufen.«
»Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie Ihre Nerven im Griff haben«, antwortete ich. Sie starrte mich verwundert an und erwiderte: »Ich kann kein Wort von dem verstehen, was sie brummen. Wahrscheinlich haben Sie sich erkältet. Ich werde Ihnen Halspastillen besorgen, damit Sie Ihre Stimme wiederfinden.« Sie drehte sich abrupt um, balancierte auf weißen High Heels zurück an ihren Schreibtisch und wippte dazu im Takt mit ihren prallen Pobacken. Da sie die Tür einen Spalt weit geöffnet ließ, konnte ich hören, wie sie das Telefon in die Hand nahm, eine kurze, hausinterne Nummer wählte und flüsterte: »Ihr müsst schnell machen. Irgendwas stimmt nicht mit meinem Boss. Er ähnelt mehr einer Kakerlake als einem Menschen. So als ob zwei Wesen in seinem Körper stecken.« Sie spazierte aufgeregt in ihrem kleinen Zimmer auf und ab. »Nein, ich habe keine Halluzinationen. Beeilt euch und bringt direkt eine Zwangsjacke mit, damit ihr ihn problemlos ins nächste Krankenhaus transportieren könnt. Minimum vier kräftige Männer; andernfalls kriegt ihr ihn nicht gepackt.«
Auf eine klinische Untersuchung, die höchstwahrscheinlich mit meiner Eliminierung enden würde, hatte ich keine Lust. Ich war noch zu jung, um zu sterben. Auf jeden Fall nicht zerschnippelt auf einem Operationstisch, während sich gleichzeitig Scheinwerfer und Kameras auf mich richteten und Seziermesser in meinem Bauch steckten. Kurz entschlossen packte ich den schweren Bürostuhl und zertrümmerte die dicke Panoramascheibe. Augenblicklich ergriff ein starker Sog das Zimmer und ließ Briefe und Faxpapier nach draußen wehen, wo sie in der Luft tanzten, bevor sie auf den Bürgersteig fielen. Ich beugte mich nach vorne, tastete mit den vorderen zwei Beinen vorsichtig über den glatten Beton, fasste mir ein Herz und krabbelte ins Freie. Zu meiner großen Erleichterung stellte ich fest, dass meine Füße über Saugnäpfe verfügten, sodass ich die hundertfünfzig Meter, die mich vom sicheren Erdboden trennten, gefahrlos überwinden konnte.
Auf der heißen Asphaltdecke angelangt, vertraute ich auf die Kraft meiner sechs Beine und verschwand mit hoher Geschwindigkeit um die nächste Ecke, dabei den Schuhsohlen von Passanten ausweichend, die mich ansonsten achtlos zertreten hätten. Neben Müllcontainern, die hinter einem Chinesengrill standen, hielt ich an und nahm Witterung auf. Ein betörender Geruch von verfaultem Fleisch und Fischinnereien waberte in der flirrenden Mittagshitze. Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ich seit gestern Abend nichts mehr gegessen hatte und mich überkam ein geradezu schmerzartiges Hungergefühl. Ich verschlang maßlos die Reste von Katzenfutter und aufgeweichten Glasnudeln, bis ich nahezu platzte. Mit straff gespanntem Bauch verließ ich den düsteren Hof und schleppte mich bis zu einer schattigen Rosskastanie, die in einem kleinen Park in der Nähe des Flussufers stand. Dort legte ich eine Pause ein und grübelte, wie ich mit der aktuellen Situation, die gänzlich ungewohnt für mich war, umgehen sollte.
Meine Transformation in ein Insekt musste heute Morgen zwischen sechs und sieben Uhr stattgefunden haben. Beim Rasieren hatte ich noch ausgesehen wie am Abend zuvor. Oder war ich schlichtweg zu verpennt gewesen, um die Veränderung zu bemerken? Spätestens beim missratenen Versuch, das Frühstücksei aufzuklopfen, hatte sich die Verformung von Händen in Scheren abschließend vollzogen.
Wenn eine Möglichkeit bestanden hatte, mich in eine Schabe zu verwandeln, musste es konsequenterweise einen Weg geben, das Experiment rückgängig zu machen. Davon war ich felsenfest überzeugt. Die Metamorphose hatte sich in meiner Wohnung ereignet, also würde sie dort auch wieder aufgehoben werden.
Ich lief die gesamte Strecke von zwölf U-Bahnstationen zu Fuß, was auf sechs Beinen mühelos funktionierte. Im Foyer huschte ich am rot livrierten Portier vorbei, der zornig einen dicken Kaufhauskatalog nach mir warf. »Scheißkakerlaken«, schrie er. »Werden immer mehr. Als ob ein Raumschiff voll mit ihnen heute Nacht auf unserem Dach gelandet ist.«
Im Treppenhaus begegnete ich einer brünetten Frau, deren rasierten Schritt ich aus der Ameisenperspektive musterte, woraufhin sie mich mit ihrer Handtasche zerquetschen wollte.
In aller Eile schlüpfte ich unter der Tür durch und trippelte in die Küche, um im Kühlschrank nach Getränken zu suchen, denn vom langen Marsch war ich durstig geworden. Mir stand der Sinn weder nach Cola Zero noch Zitronenlimonade oder Bier. Selbst der Wodka im Eisfach reizte mich nicht. Unter der Heizung entdeckte ich einen Rest gegorener Milch, die ich am Vortag für die Katze der hübschen Nachbarin dort deponiert hatte. Gierig schlürfte ich die Schüssel leer und leckte die letzten Tropfen vom Porzellan ab. Leise rülpsend bemerkte ich, dass die pinke Krawatte immer noch an meinem Hals baumelte. Hastig streifte ich den Schlips ab, reinigte mit ihm die verklebten Lippen, schlüpfte mit den zwei mittleren Füßen in meine Pantoffel und fläzte mich auf dem Sofa. Ich genoss die Ruhe, wurde schläfrig und beschloss, die Angelegenheit der Rücktransformation auf morgen zu verschieben. So schlecht schien mir das Leben als Hexapode nicht zu sein.
Während ich allmählich eindämmerte, begann mein rechtes Ohr zu jucken. Anfangs nur ein bisschen, kaum wahrnehmbar, nach einigen Minuten jedoch immer heftiger, bis es zum Schluss schier nicht zum Aushalten war. Ich sprang von der Couch, landete auf allen sechs Beinen und bewegte meinen Kopf rhythmisch von links nach rechts. Die leichte Schwingung ging über in ein wütendes Schütteln. Mit den Scheren stieß ich versehentlich Lampen und Vasen um. Scherben bedeckten das frisch gebohnerte Parket. Nach einer kleinen Ewigkeit spürte ich ein sanftes Krabbeln ganz hinten in der Ohrtrompete. An der Kreuzung, wo sie mit dem Rachen verzweigt. Flinke Beine näherten sich dem Ausgang, eine dunkle Nase schnüffelte misstrauisch, ob die Luft rein war. Dann plumpste eine schwarz-rote Kreatur neben mich auf den persischen Teppich. Sie sah aus wie ich. Um das Hundertfache geschrumpft.
»Wer bist du?«, fragte ich.
Die kleine Schabe blickte mich vergnügt an und kicherte: »Ihr Menschen seid dümmer, als wir es uns erhofft hatten. Und was für hässliche Sekretärinnen ihr in euren Glastürmen beschäftigt.«
Bevor ich reagieren konnte, flitzte die Kakerlake zum Spülbecken und verschwand kopfüber im Abfluss. Mit dem Kinn vornüber gebeugt kauerte ich auf dem Küchenboden.
Noch etwas benommen hievte ich mich an einem Stuhl nach oben und schlurfte ins Bad. Im Spiegel schaute ich in dasselbe Gesicht wie um sechs Uhr morgens beim Rasieren. »Dann ist ja alles gut ausgegangen«, murmelte ich. Ob die Schaben demnächst die Weltherrschaft anstrebten, interessierte mich in diesem Moment nicht sonderlich. Mir war es wichtiger, den Parasiten, der für zwölf Stunden in meinem Körper genistet hatte, losgeworden zu sein. Während ich über die Vorteilhaftigkeit der Sechsfüßigkeit nachdachte und dabei eine Flasche Heineken entkorkte, die ich zur Feier meiner Erlösung in einem Zug austrinken wollte, stellte ich fest, dass ich nicht einen Tropfen über die Lippen bekam. Mich ekelte weiterhin vor Cola, Limonade und Bier. Ich sank in die Knie und krabbelte auf allen vieren in die Ecke, in der ich vorhin die quarkartige Milch ausfindig gemacht hatte. »Hast du Mistkäfer doch Spuren in meiner DNA hinterlassen«, fluchte ich und verschlang mit Heißhunger ein Stück verschimmelten Harzer, der mir unter einer beschlagenen Käseglocke entgegenlief.