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Die Schönheit der Natur
Seit fast einer halben Stunde war ich jetzt auf der Suche nach meinem Rucksack. Ich wusste, dass er irgendwo ganz oben in meinem Kleiderschrank sein musste. Allzuoft hatte ich ihn sie letzten Jahre nicht benutzt. Um genau zu sein, war er zuletzt bei einer Maiwanderung vor gut 5 Jahren zum Einsatz gekommen.
Seit ich in Frankfurt wohne und arbeite habe ich kaum Zeit gefunden, etwas zu unternehmen bei dem ein Rucksack von Nöten gewesen wäre.
Nun stand mal wieder der alljährliche Osterbesuch bei den Eltern an. Einer dieser Anlässe wo sich beinahe die gesamte buckelige Verwandtschaft aus ganz Deutschland zusammenfindet um ein Paar Tage damit zuzubringen, sich die Bäuche mit allerlei Essen vollzuschlagen, über alte Zeiten zu plaudern oder einfach um Belanglosigkeiten aus dem Alltag auszutauschen.
Tante Bettina hatte im letzten Jahr davon geschwärmt, wie gut sich ihr Sproß doch entwickelt habe. Thomas - so war der Name dieses Wunderknaben- konnte doch tatsächlich im zarten Alter von 9 Jahren ohne fremdes Zutun Fahrrad fahren.
Damals hatte ich mich gefragt, was im Leben dieser armen Frau schief gelaufen sein muss, dass sie sich mit solchen Erfolgen zu profilieren versuchte.
Da ist er ja.
Etwas verknittert in der letzten Ecke des oberen Fachs fand ich schließlich das, wonach ich gesucht hatte.
Schnell stopfte ich ein Paar Socken, frische Unterwäsche, ein Shirt zum Schlafen, meine Zahnbürsten und einige andere Hygieneartikel, die ich mir bereits auf meinem Bett zurechtgelegt hatte hinein und schwang mir den Rucksack über meine Schultern.
Noch einmal schnell die Wohnung abgehen:
Pflanzen gegossen? Check!
Müll raus gebracht? Check!
Alle Lichter aus? Check!
Als ich die Wohnungstür abgeschlossen hatte und die Stufen zur Haustür hinunterging, überflog ich im Kopf zur Sicherheit noch einmal meine Liste. Die Wohnung würde immerhin für 3 Tage leer stehen und da wollte ich nichts dem Zufall überlassen. Um 9:30 stieg ich in den Bus an der gegenüberliegenden Straßenseite, der mich zum knapp 5 Kilometer entfernten Hauptbahnhof brachte.
Als ich die Bahnhofshalle betrat, stand dort bereits der Zug, der mich zu meinem Ziel bringen sollte. Das Ticket hatte ich auf dem Heimweg von der Arbeit bereits am Vortag gezogen und so konnte ich direkt einsteigen und mich auf einem Platz am Fenster niederlassen, auf dem ich die Landschaft auf der knapp zweistündigen Fahrt nach Koblenz etwas genießen konnte.
Die Fahrt verging schneller als gedacht und ehe ich mich an das gleichmäßige rattern und das sanfte schaukeln im Wagon gewöhnt hatte, ertönte die Computer-Stimme über die Lautsprecher, die das Ende meiner Reise ankündigte.
Als ich aus dem Zug ausstieg stand mein Vater bereits am Bahnsteig und machte ohne ein Wort oder eine Geste der Begrüßung auf dem Absatz kehrt und rief nur brummig :”Müssen los! Der Rest der Sippe wird auch bald da sein!”
“Auch schön dich zu sehen Paps” , dachte ich bei mir und folgte ihm zu seinem Wagen.
Auf der halbstündigen Fahrt in den kleinen koblenzer Vorort, in dem meine Eltern wohnten sprachen wir kaum etwas miteinander.
Außer :”Was macht die Arbeit?”, “Hast du schon wieder zugenommen?” und “Du hättest dich ruhig etwas angemessener anziehen können!” kam nicht viel.
Mein Vater ! Kein Mann großer Worte oder emotionaler Kompetenzen.
Gegen 13:20 Uhr erreichten wir endlich das Haus meiner Eltern. Ein schlicht wirkendes, weiß verputztes, der Nachbarschaft angepasstes Haus am Ende einer Sackgasse direkt am Waldrand. Mein Vater parkte seinen Wagen vorschriftsmäßig in der Einfahrt und wir gingen ins Haus.
Drinnen war es sauber wie eh und je.
Es roch nach Essen und nach dem Rasierwasser meines Vaters.
Aus der Küche vernahm ich das verheißungsvolle Geräusch von spritzendem Öl in einer Pfanne und dem klappern von Besteck.
“Sind da! Ich gehe ins Wohnzimmer und ziehe den Esstisch aus!” brüllte mein Vater meiner Mutter zu, die sich wohl in der Küche befand. “Jemand muss noch mit dem Hund gehen, bevor die Gäste kommen!” erklang sie Stimme meiner Mutter aus der Küche. Ohne zu zögern nahm ich die Leine von der Garderobe an die ich zuvor meinen Rucksack gehängt hatte und rief meiner Mutter zu, dass ich diese Aufgabe gern übernehmen würde.
Das Geräusch der aneinanderschlagenden Karabiner der Leine reichte aus um Lucy, die betagte Pekinesendame aus ihrem Tiefschlaf auf dem Sofa zu reißen. Die Zunge aus dem Maul hängend, kam sie auf ihren kurzen Beinen den Flur entlang gewackelt, lief an mir vorbei und setzte sich erwartungsvoll vor sie Haustüre ohne mir auch nur einen Blick zu schenken.
Der Hund passte wirklich perfekt in diese vor Liebe und Zuneigung strotzende Umgebung.
Ich schnallte die Leine an, nahm den Schlüssel vom Schlüsselbrett und zog die Haustüre hinter mir zu.
Auf den ersten Metern in Richtung Wald spielte ich mit dem Gedanken einfach bis nach Frankfurt zurück zu laufen, damit ich mich dieser vergifteten Atmosphäre nicht noch weiter aussetzen müsste.
Erst einmal ein paar Schritte gehen. Es sind ja nur noch knappe 48 Stunden bis ich endlich wieder im Zug sitze.
Im Wald hatten zwischen den Bäumen bereits die Gräser angefangen zu wachsen. Das sanfte Grün beruhigte meine Gedanken mit jedem Schritt, den ich tiefer in den Wald ging.
Als Kind hatte ich ganze Tage in den Wälder rund um das Haus meiner Eltern zugebracht, doch es schien mir, als hätte ich diese Schönheit und Ruhe die dieser Ort ausstrahlte damals nicht zur Kenntnis genommen.
Die Sonne schickte ihre Strahlen durch das Blätterdach auf den mit Gras und Moos bewachsenen Waldboden der in allen Grüntönen zu leuchten schien.
Die Vögel zwitscherten leise ihre Lieder und diese vermischten sich mit dem weichen, sanften Rauschen des Windes im Geäst zu einer wunderbar inspirierenden Melodie.
Kälte und Wärme können so nah beieinander liegen. Eben noch die Kälte und die Anspannung im Haus und in der Anwesenheit meiner Eltern, und nun die Wärme und der endlose Friede hier im Wald.
Ganz allmählich konnte ich mein zehnjähriges Ich verstehen. Den Grund für die tagelangen Expeditionen in diesem Dschungel. Den Grund für die Nächte in denen ich es nicht erwarten konnte mich wieder in diese Welt zu flüchten. All das hatte einen Grund und den erkannte ich erst jetzt, zwanzig Jahre später.
Plötzlich wurde ich in meinen Gedanken unterbrochen. Lucy hatte sich protestierend auf den Hintern fallen lassen und bedeutete mir so, dass unsere kleine Exkursion in meine Kindheit nun vorbei sei. Wir waren auch bereits eine ganze Weile unterwegs und so trat ich mit der verbitterten, alten Hundedame den Rückweg an.
Immernoch beschäftigten mich die Gedanken an früher, und so nahm mein Unbehagen mit jedem Schritt den wir dem Haus näher kamen wieder zu. Die Bäume links und rechts des Wegen schienen einen Tunnel zu formen an dessen Ende der Wendehammer mit den kleinen Häusern bereits in Sicht kam. Mit jedem zurückgelegten Meter schien die Temperatur zu fallen und ich ertappte mich dabei wie ich meine Schritte zunehmend verlangsamte.
Am Waldrand angekommen drehte ich mich ein letztes Mal um und sah den Weg und die Bäume, das sanft wehende Gras und ich atmete noch einmal die Ruhe und Wärme ein, die diesen Ort erfüllten. Der Wald schien zu mir zu sprechen. Es kam mir für einen Moment lang so vor, als würde er mir all das sagen und geben, was meine Eltern mir stets vorenthielten:
Liebe, und ein Gefühl von Heimat.
Das Haus füllte sich und selbst wärend dem Essen spürte ich noch diese innere Zufriedenheit. All das Gerede um mich herum verstummte im Strom der Ausgeglichenheit, die meinen Körper erfüllte. Ich schnappte ein Paar Fetzen von dem belanglosen Geschwafel der Verwandten auf, doch schenkte dem keinerlei Beachtung. In dieser Nacht schlief ich außerordentlich gut und wachte am Morgen vor meinen Eltern auf. Ich beschloss ein Taxi zu rufen, dass mich zum Zug bringt um so schnell wie möglich zurück nach Hause zu kommen. Auf dem Küchentisch hinterließ ich nur einen Zettel mit einer Nachricht : ”Danke für alles. Freue mich schon auf den nächsten Besuch.”
Auf dem Heimweg und in den darauf folgenden Tagen hatte ich das Gefühl ich könnte meinen Eltern alles verzeihen. Den Verzicht auf Anerkennung und Geborgenheit in meiner Kindheit. Die Ignoranz für meine Ängste und Nöte. Das emotionslose Miteinander, dass selbst auf den Hund abgefärbt hatte.
All das schien ich ihnen auf einmal nicht mehr vorhalten zu wollen, weil ich gemerkt habe, dass ich das was ich immer gebraucht habe, schon als Kind in der Schönheit der Natur gefunden habe.
Wärme, Friede, Geborgenheit.