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Die Schöne
Die Nacht ist vergangen und der Tag übernimmt die Vorherrschaft. Erste Sonnenstrahlen durchziehen diesen frühen Morgen der Pariser Innenstadt. Doch er ist schon lange auf, vollzieht seine Pflicht. Während er einen kleinen Schluck aus einer grünen, mit Wasser gefüllten Feldflasche nimmt, ragen die Wipfel der Bäume gegen Himmel entgegen. Auch in dieser düsteren Gegenwart, so als hätten sie nie etwas anderes getan.
Die Gegenwart hinterlässt ihre Spuren, doch es spielt keine Rolle, mit welcher Facette die Stadt sich zeigt, sie bleibt weiterhin die Stadt der Liebe. Mit dieser Überzeugung in seinen Gedanken, behält er alles im Überblick. Konzentriert schweift sein Blick durch all die kleinen, von der Straße sich wegwindenden Gassen. Die Vögel zwitschern ein fröhlich anmutendes Lied, die Fassaden der Häusermauern sahen auch schon bessere Zeiten. Verblassen diese doch im Fortschritt der Zukunft.
Ein Geräusch aus der Richtung vor ihm, wo ein kleiner Brunnen steht. Wohl in der goldenen Vergangenheit erbaut. Vielleicht während der Belle Epoque. Es ist nicht wichtig. Wichtig ist nur dieses Geräusch, denn es sind Schritte. Ja, ganz klar erkennbar. Zwar entfernt, hundertfünfzig Meter, vielleicht, aber deutlich hörbar. Wer ist da?, denkt er sich. In seinem Inneren breitet sich Unsicherheit aus. Er wird nervös. Das ist ein Fehler, er darf keine Schwäche zeigen, geht es doch um Alles.
Dann erscheint eine Gestalt. Vom Licht, der noch tief stehenden Sonne geblendet, erkennt er zunächst nur Umrisse. Langsam klärt sich der Blick, und die Gestalt wandelt sich in eine junge Frau. Paris am Morgen ist wundervoll, fühlt er sich in seinem Wissen bestätigt. Ja tatsächlich sehr wundervoll. Sie ist wundervoll. Ihr Antlitz fesselt ihn. Seine Konzentration für die Umgebung schwindet, doch ihr, nur noch ihr gehört die Aufmerksamkeit. Sehr wohl weiß er, dass es gefährlich ist. Aber die Vernunft hat ihn verlassen, ihr Aussehen, diese Ausstrahlung ihn lahm gelegt. Eine leicht aufkommende Windbriese durchzaust ihr Haar. Ihr blondes Haar, fast, so ertappt er sich bei dem Gedanken, fast als würde Aphrodite selbst dort stehen. Dort an dem kleinen steinernen Brunnen, mit der Wasserquelle für Jedermann. Was macht sie da bloß?, bekommt seine Gedankenfrage mit zunehmender Beobachtung prompt die Antwort. Sie holt mit ihrem Holzeimer Wasser. Wertvolles Trinkwasser, in Situationen wie diesen. Gerne würde er ihr den Holzeimer abnehmen. Ihn an der Schnur festbinden und behutsam nach unten gleiten lassen, bis er ein leises Plätschern vernimmt. Um den Eimer, mit Wasser vollgelaufen, nach oben zu ziehen. Doch er darf nicht, taucht ihm kurzzeitig seine Pflicht in Erinnerung. Er darf und kann ihr nicht helfen. Die Konsequenzen könnten verheerend sein. Mit etwas Glück, würde nichts geschehen, aber wer kann dies schon mit Sicherheit sagen? Mal ganz abgesehen davon, es würden die Anderen dabei zusehen. Nein, es ist nicht möglich, will er einen Schlussstrich unter sein Denken ziehen, als dieses unterbrochen wird.
Grau-schwarze Wolken ziehen am Himmel auf, als er plötzlich in seiner Brust einen warmen und zu gleich stechenden Schmerz, welcher sich immer mehr in seinem Brustkorb ausbreitet, spürt. Ist das, das Gefühl der Liebe?, so ein kleiner, nach Hoffnung sehnender Gedanke. Die Wahrnehmung verändert sich, er ist zurück.- Zurück, in der Realität angekommen.
Das Gezwitscher der Vögel ist schon lange verstummt. Doch all dies nahm er nicht wahr, so sehr war er von dieser magischen Ausstrahlung von ihr, der Schönen, abgelenkt. Förmlich geblendet.
Auch nahm er den deutschen Soldaten am Ende der Straße nicht wahr, dessen Lauf eines Scharfschützengewehres noch immer auf ihn gerichtet ist.
Selbst im Krieg, zeigt sich sein Paris von ihrer schönsten Seite. Der Liebe.