Was ist neu

Die schöne Welt des Scheins

Mitglied
Beitritt
12.11.2003
Beiträge
5

Die schöne Welt des Scheins

Die schöne Welt des Scheins

Genau um drei Uhr nachts klingelt das Telefon. Vielleicht auch schon eine Stunde früher. Ich kann das nicht ganz ausschließen, da ich am späten Abend zwei Schlaftabletten genommen habe. (Schlaftabletten sind bei mir berufsbedingt Teil des Ernährungsplans.) Jedenfalls drängt sich das Geräusch erstmals um drei Uhr in mein entrücktes Bewußtsein.

Mein Penis ist überdurchschnittlich gut durchblutet. Ich habe starke Schmerzen, und deshalb sehne ich mich im Augenblick nach einer Totalamputation meiner Genitalien. Ich stelle mir vor, sie in Formaldehyd zu konservieren. So könnten sie ständig in meiner Nähe sein, ohne mir den üblichen Verdruss zu bereiten.
Eigentlich brauche ich den Hörer gar nicht abzunehmen. Ich weiß ohnehin, was mich erwartet. Schließlich gibt es nur eine Person, die es für nötig hält, mich mitten in der Nacht
an die negativen Eigenschaften meiner primären Geschlechtsorgane zu erinnern: mein Agent.
Mein Agent, der Komplexe wegen seiner Kleinwüchsigkeit (159 cm) hat. Mein Agent, der schmal und schön ist. Schön, aber klein! Mein manikürter, petikürter, frisch frisierter, stets
maskierter Agent, der meine Verträge aushandelt und meine Konten verwaltet. Mein schwuler Agent, der, ganz Klischee, in mich verliebt ist.
„Wir haben einen dringenden Auftrag", schallt es schrill und ohne Begrüßung aus dem Hörer. „Ein Flug war nicht mehr zu kriegen. Wir fahren Express. Ich sehe dich in genau siebenunddreißig Minuten am Hauptbahnhof, Gleis 13."
„Sei gegrüßt, mein Freund. Ich freue mich zu jeder Zeit über deinen Anruf", will ich in Anspielung auf die nächtliche Ruhestörung sagen. Doch mein schlauer Agent kommt mir zuvor, legt den Hörer auf und läßt mich mit einer offenen Leitung als Gesprächspartner
zurück.
„Wenn du glaubst, ich sei ein gottverdammter Hund, der sich von dir an die Leine ketten läßt, dann bist du aber gewaltig im Irrtum", kreische ich hysterisch und ohne Hoffnung, dass meine Worte Gehör finden. „Und übrigens: Ich scheiße auf deinen hirnverbrannten Auftrag, du geldgeiles Kapitalistenschwein."
Eine dreiviertel Stunde später finde ich mich völlig zerschlagen im Nachtzug nach Paris wieder. Neben mir sitzt mein besorgter Agent, der sich aufgrund meiner Verspätung und meines zerrütteten Zustands kaum noch einkriegen kann.
„Ist dir eigentlich klar, wie mühsam es gewesen ist, die Verantwortlichen davon zu überzeugen, die Abfahrt ausgerechnet für ein zweitklassiges Model wie dich zu verschieben?" faucht er mich giftig an. (Währenddessen sehe ich übrigens seine blauen Pupillen deutlich hervortreten. Für einen Moment mache ich mir große Sorgen, dass er infolge eines Überdrucks erblinden könnte.)
„Ich kann es mir jedenfalls gut vorstellen", sage ich. „Wahrscheinlich hast du das getan,
was du in solchen Situationen immer tust."
„So, und das wäre?"
„Du hast schlicht und einfach gelogen", stelle ich nüchtern fest. „Du hast ihnen irgendeine brisante Geschichte aufgetischt. Vielleicht hast du behauptet, wir wären persönliche Ehrengäste des französischen Staatspräsidenten. Und dass Monsieur Chirac sicher äußerst ungehalten reagieren würde, wenn unser gemeinsames Frühstück aufgrund eines Fehlverhaltens gewisser Herrschaften der Deutschen Bahn AG nicht zustande käme."
„Da liegst du leider vollkommen falsch, mein Lieber", sagt mein inzwischen sichtlich erregter, puterroter Agent. „Ich habe lediglich zu bedenken gegeben, dass wir bevollmächtigt sind, die Bundesregierung auf der heutigen internationalen Friedenskonferenz zu vertreten. Und dass die Abwesenheit der bundesdeutschen Delegation ein nicht kalkulierbares Risiko für den Weltfrieden darstellen würde. Die Vollidioten haben nicht ein Beweisdokument von mir verlangt, und niemandem ist aufgefallen, dass heute mit Sicherheit kein Mensch über den Weltfrieden nachdenken wird. Eine großartige Täuschung, oder? Du solltest endlich ein bißchen mehr Dankbarkeit zeigen. Ohne meinen Erfindungsreichtum wären wir mal wieder in Teufels Küche."
„Was wäre ich nur ohne dich?" frage ich mechanisch. Doch dies ist nur noch eine Reaktion meines Unterbewußtseins, und langsam sinke ich in einen kurzen, fieberhaften Schlaf.

Als ich zwei Stunden später aufwache, fällt mir als Erstes auf, dass mein unsicherer Agent
einen Schminkspiegel in seiner hoffnungslos verkrampften linken Hand hält. Mit dem
Zeigefinger seiner zitternden rechten Hand reibt er sich eindringlich über die Stirn, so als
wolle er seinen neuen Mercedes auf Lackschäden überprüfen. Den Spiegel hält er sich
dabei so dicht vor das Gesicht, dass ich mir den Abdruck, den seine fettige Nasenspitze
gerade verursacht, vorstellen muß. Es wirkt fast so, als wäre er auf der Suche nach einer
verborgenen Räumlichkeit. Nach einer substanziellen Innerlichkeit des Spiegels, die ihn
schützend aufnimmt, wenn er nur fest genug an die Oberfläche klopft.
Im Profil sieht das Ganze natürlich unglaublich lächerlich aus. Und da ich den Auslöser
für dieses peinliche Verhalten genau kenne, weise ich ihn unaufdringlich auf die Unan-
gemessenheit der Szene hin.
„Hübscher Pickel", sage ich ohne einen Anflug von Gehässigkeit.
Im selben Moment bereue ich allerdings bereits, dass ich mir nicht auf die Lippen gebissen habe, denn mein impulsiver Agent wirkt prompt ein wenig unkontrolliert. Bedenklich
unkontrolliert, um genau zu sein. So unkontrolliert, dass ihm glatt die Stimme versagt.
(Und wenn meinem Agenten die Stimme versagt, dann sollte man normalerweise keine
Sekunde zögern, einen Spezialisten für Funktionsstörungen des Kehlkopfes zu konsultieren.) Schließlich verschwindet er, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, und macht sich in Begleitung seines Handgepäcks auf die Suche nach der nächsten Zugtoilette.
Als ich sehe, wie er im Mittelgang ungeschickt mit der entgegenkommenden Servicefrau zusammenstößt, ziehe ich kurz die Möglichkeit eines Suizidversuchs in Betracht. Ich bin nüchtern genug, um zu erkennen, dass sich aller Wahrscheinlichkeit nach ein brauchbares
Tatwerkzeug in seiner Tasche befindet. Ob es sich dabei um eine Pistole, eine offene Rasierklinge, eine tödliche Dosis Zyankali oder einen kurzen Strick handelt, ist zwar in der Vorstellung nicht ganz ohne Reiz, aber im Endeffekt unerheblich. Wichtig ist nur, dass mein Agent zu der Sorte Mensch gehört, die aus Prinzip immer das letzte Wort hat. Und wenn es überhaupt eine Aussage mit finalem Charakter gibt, dann ist es zweifellos die freiwillige Aufgabe des eigenen Lebens.
Nach ausreichender Abwägung bin ich mir jedoch ziemlich sicher, dass selbst mein neurotischer Agent nicht so durchgeknallt sein dürfte, sich wegen einer (zugegeben eklatanten) Hautunreinheit endgültig zu verabschieden. Im übrigen ist es ihm durchaus gestattet, mich eines besseren zu belehren. So bliebe mir wenigstens der lästige Auftrag in Paris erspart.
Jedenfalls sehe ich keinen hinreichenden Grund, gleich in Panik zu verfallen, nur weil ein
kleinwüchsiger, neurotischer Modelagent mit Pickel auf der Stirn möglicherweise im Begriff ist, dem Zugpersonal durch ein kleines Blutbad einen arbeitsreichen Vormittag zu bescheren.
Und deshalb decke ich mich bei der hübschen, gestressten Servicefrau mit einem Berg
Schokoladenriegel und ein paar Dosen Diätcola ein und mache es mir unter meinem Kopfhörer gemütlich, wo irgendeine angesagte Band, die der jüngsten Presse zufolge Vorreiter der neuesten Alternativbewegung sein soll, mir mitzuteilen versucht, dass selbstverständlich auch mein Leben vollkommen bedeutungslos sei, und dass ich mir langsam einmal überlegen sollte, warum ich den Rest der Welt noch immer mit meiner Gegenwart belästige.
Glücklicherweise habe ich genügend Schokolade eingekauft, um mich über den Schrecken dieser Anschuldigung hinwegzutrösten. Außerdem beruhigt mich die Vermutung, dass auch diese Band sich (wie jede Modeerscheinung) irgendwann wieder dorthin zurückziehen wird, wo sie hergekommen ist.
Trotzdem bleibt die Angst zurück; sich versteckend, verborgen und unsichtbar, ewiglich.

Als ich zwischenzeitlich die Augen öffne, muß ich überrascht feststellen, dass mein Agent offensichtlich doch kein Interesse verspürt, sein Leben zu opfern, um mir Paris zu ersparen. Also kein Selbstmord! Stattdessen sitzt er mittlerweile ziemlich vital und ziemlich rücksichtslos auf den Resten meiner Schokolade und starrt angestrengt in ein Buch, das ich unmöglich identifizieren kann. (Ich bin kein großer Leser.) Scheinbar kann er sich so einigermaßen von den furchtbaren Entstellungen seiner oberen Gesichtshälfte ablenken.
„Geht's wieder?" frage ich aufrichtig besorgt, nachdem ich mich meiner quälenden Begleitmusik entledigt habe. (Nebenbei versuche ich übrigens, die schmelzende Schokolade durch einen gezielten Griff unter den Arsch meines Agenten vor einem grausamen Erstickungstod zu bewahren.)
„Ich fühle mich ausgezeichnet, mein Lieber. Einfach fantastisch! Du bist schön. Ich bin schön. Das Leben ist schön!" bringt er darauf wenig überzeugend hervor. „Wie du siehst, könnte es mir gar nicht besser gehen. Wenn du mir jetzt noch erlauben würdest, mich wieder meinem Buch zu widmen, würde ich mich vermutlich als erster Mensch der Neuzeit im Paradies wiederfinden."
Doch als er kurz aufblickt, um seinen neu gewonnenen Lebensmut durch ein
verkrampftes Victory-Zeichen zu dokumentieren, sehe ich nichts als Verzweiflung. Abgesehen von der undefinierbaren Masse, mit der er offensichtlich versucht hat, seinen Pickel unsichtbar zu machen. Ich kann wirklich nicht genau erkennen, ob es sich dabei um eine Salbe oder eine Art Puder handelt. Jedenfalls ist das Ergebnis ziemlich desillusionierend. Inzwischen gleicht mein Agent nämlich einer restaurationswürdigen Skulptur, die unter erheblichem Substanzverlust zu leiden hat. Ich halte es für klüger, ihm diese jüngste Entwicklung zu verheimlichen, und wünsche ihm deshalb nur noch einen angenehmen Aufenthalt im Paradies.
Tragischerweise ist dieser Aufenthalt nur von äußerst kurzer Dauer. So vergehen bestenfalls zwanzig Minuten, bis mein himmelsstürmender Agent seine Buchlektüre wieder unterbrechen muß. Vielleicht ist es bezeichnend, dass gerade ein junges Mädchen mit Zahnspange und Lebensfreude ihn seiner vorübergehenden Glückseligkeit beraubt.
„Was liest du da?" fragt sie neugierig und präsentiert dabei stolz ein Ungeheuer aus Drähten, das sie offenbar vor der Häßlichkeit eines asymmetrischen Gebisses beschützen soll.
Als diese Frage jedoch nicht ausreicht, um die Aufmerksamkeit meines Agenten für sich zu gewinnen, wechselt sie sofort ihre Strategie und startet eine subtilere Form des Angriffs.
„Meine Mama sagt, Menschen, die auf eine einfache Frage keine Antwort geben, sind entweder sehr dumm oder sehr unhöflich", sagt sie herausfordernd. „Ich weiß jetzt gar nicht mehr, was ich von dir halten soll. Bist du nun ein dummer oder ein unhöflicher Mensch? Oder willst du mir vielleicht doch sagen, was für ein Buch du da liest?"
„Offensichtlich hat deine Mama dir eine Menge beigebracht. Scheinbar hat sie aber vergessen, dir zu sagen, dass einiges für eine mißglückte Erziehung spricht, wenn ein zehnjähriges Mädchen einen Erwachsenen beim Lesen stört", entgegnet mein kinderlieber Agent und beweist so eindrucksvoll, dass Schwule mitunter doch die besseren Väter sind.
Zurecht gibt sich die Kleine aber mit diesem linkischen Ausweichmanöver nicht zufrieden.
„Das verstehe ich nicht! Ein Mädchen darf also einen Erwachsenen nicht beim Lesen stören. Darf denn ein Erwachsener ein Mädchen beim Lesen stören? Ist die Erziehung dann nicht mißglückt? " fragt sie ratlos. „Und außerdem bin ich schon elf Jahre alt, und was für ein Buch du liest, weiß ich jetzt immer noch nicht."
„Es ist nur ein Roman, nicht mehr und nicht weniger. Ein Roman, wenn es dich glücklich macht", sagt mein Agent, zunehmend resignierend, als käme diese Erklärung einer persönlichen Niederlage gleich.
„Was ist das, ein Roman?"
„Ein Roman ist eine Geschichte für Erwachsene."
„Eine Geschichte nur für Erwachsene?" fragt sie mißtrauisch. „Ich finde, das ist nicht gerecht. Die Erwachsenen dürfen doch sowieso alles machen, was sie wollen. Und Stubenarrest bekommen sie auch nie dafür. Dabei machen sie manchmal viel größere Dummheiten als wir. Und jetzt wollen sie uns also auch noch unsere Geschichten wegnehmen?"
„Niemand will euch eure Geschichten wegnehmen. Da hast du mich vollkommen falsch verstanden!"
„Und warum gibt es dann Geschichten nur für Erwachsene?"
„Weil Erwachsene ohne Zweifel dümmer sind als Kinder!" lautet nach langem Nachdenken die schlichte Antwort meines Agenten. „Und weil es eine Krankheit der Erwachsenen ist, das Leben mit ihrer ständigen Suche nach der Wahrheit zu überfordern. Wären wir nur halb so schlau wie ihr Kinder, hätten wir inzwischen vielleicht gemerkt, dass die Idee mit der Wahrheit zu den schlechtesten der Menschheitsgeschichte gehört. Leider merken die meisten erst kurz bevor sie sterben, dass sich auf der Suche nach der Wahrheit nicht viel mehr als ein Häufchen Asche finden läßt. Spätestens dann ist es aber zu spät, um sich noch vorstellen zu können, wie der schmächtige Schakal den starken Löwen im Kampf überlistet, wie der kurzbeinige Hase ein Wettrennen gegen den sprintstarken Fuchs gewinnt oder wie die clevere Maus die verschlagene Katze an der Nase herumführt. Und auch ein träger Elefant, der sich auf seine alten Tage noch einmal anschickt, leichten Schrittes den Indischen Ozean zu überqueren, um seine verschollene Jugendliebe in Kenia ausfindig zu machen, dürfte einem todkranken Menschen, der sich abmüht, seine elementarsten Körperfunktionen zu kontrollieren, schwer zu vermitteln sein. Dir sollte deshalb viel daran gelegen sein, dir deine Fantasie zu bewahren. Jedes Märchen sollte dir wichtiger sein als die sogenannten Geschichten für Erwachsene. Glaub mir, dir wird nur selten ein kostbarerer Schatz begegnen, und ich beneide dich um die Möglichkeit, ihn auszuschöpfen."
„Aber das kannst du doch auch", entgegnet das Mädchen aufgeregt. „Du mußt nur ganz fest daran glauben. An deine Fantasie, meine ich. Dann kannst bestimmt auch du dir alles vorstellen, was du dir wünschst."
„Wenn das nur so einfach wäre", sagt mein Agent, der jetzt sehr erschöpft wirkt, mechanisch.„Wenn das nur so einfach wäre, ... ." Schließlich versucht er, sich wieder seinem Roman zu widmen, sichtlich bemüht, weitere Verluste zu vermeiden.

Als wir Paris erreichen, ist die Stimmung endgültig auf dem Tiefpunkt angelangt. Mein geschäftstüchtiger Agent, der seinen Roman längst ausgelesen und beiseite gelegt hat, verbreitet zu meinem Leidwesen immer mehr Hektik. Merkwürdigerweise scheinen Agenten stets dazu zu neigen, leicht zu lösende Probleme als existenzgefährdende Dramen auszulegen.
Zugegeben, es läßt sich kaum leugnen, dass wir uns bereits erheblich verspätet haben. Genau genommen, hätte ich bereits vor vierzig Minuten den ersten Wintermantel präsentieren sollen. Aber erstens sind wir nicht für die Unpünktlichkeit öffentlicher Verkehrsmittel verantwortlich, und zweitens kann die Modenschau ohne mich gar nicht beginnen, da ich das einzige männliche Model bin, das zum Einsatz kommen soll. Deshalb versuche ich, übrigens ziemlich erfolglos, meinen Agenten von der Unangemessenheit seiner cholerischen Anfälle zu überzeugen. So stelle ich zunächst zutreffend fest, dass eine übersteigerte Emotionalisierung der Situation mit Sicherheit nicht nützlich ist, um zur Lösung des Problems beizutragen, füge anschließend hinzu, dass sich psychische Stabilität immer dann beweist, wenn es gilt, unter Stress die Ruhe zu bewahren, und dass sein aufbrausendes Verhalten ein nicht zu unterschätzendes Signal für ein mögliches seelisches Ungleichgewicht, eine psychopathologische Indifferenz, ja, eine dringend zu therapierende Geisteskrankheit sein könnte, und sage schließlich voraus, dass er unter diesen Umständen zudem ohne Zweifel direkt auf seinen ersten Herzinfarkt zusteuert. „ Und schließlich bist du meines Erachtens der Letzte, der seinen Aufenthalt in der Stadt der Liebe freiwillig verlängern würde, nur um sich von der Attraktivität der Pariser Krankenschwestern zu überzeugen", schließe ich nicht ohne Ironie, aber auch nicht sonderlich geschickt.
Und dementsprechend fällt die Reaktion auch nicht gerade herzlich aus. Stattdessen ernte ich einen Sack voller Schimpfwörter, die ein nie erahntes kreatives Potential meines Agenten offenbaren, verbunden mit der unmißverständlichen Aufforderung, mich (wörtlich: deinen Arsch) und mein Gepäck (wörtlich: deine vollgeschissenen Aldi-Tüten) schnellstmöglich (wörtlich: vedammt nochmal sofort) zum nächsten Taxi zu bewegen.
Ich muß vermutlich nicht erwähnen, dass die anschließende Taxifahrt vornehmlich durch eisiges Schweigen und frostige Kälte geprägt ist; angesichts der Tatsache, dass wir uns auf dem Weg zur Präsentation einer neuen Winterkollektion befinden, vielleicht sogar das angemessene Klima.
Wenn jetzt allerdings der Eindruck enstehen sollte, wir hätten die Spitze unserer Frustrations-
Pyramide bereits erreicht, dann muß ich Sie leider enttäuschen. Als wir nämlich die multifunktionale Lagerhalle, in der die Modenschau stattfinden soll, erreichen, müssen wir uns von der relativ fassungslosen Designerin berichten lassen, dass aufgrund eines finanziellen Engpasses des Veranstalters alles gecancelt worden sei. Damit unser Aufenthalt in Paris nicht vollkommen nutzlos bliebe, lade sie uns jedoch herzlich zur Party einer befreundeten Kollegin ein. Vielleicht sei es uns möglich, dort einige nützliche Kontakte zu knüpfen (In unserer Verfassung?). Selbstverständlich komme sie privat für unsere Reise- und Hotelkosten auf. Im übrigen sei der Veranstalter, der sich ihr, wie inzwischen ermittelt, unter falschem Namen vorstellte und gegen den bereits ein Insolvenzverfahren läuft, flüchtig. Vermutlich befinde er sich auf den Bahamas. Genauso gut könne er sich aber auch in Indien aufhalten, um dort Reis anzubauen.
Weil die unverändert fassungslose Designerin bereits genug erdulden mußte, und deshalb als Opfer unseres eigentlich fälligen Amoklaufes nicht in Frage kommt, und weil uns nichts anderes übrig bleibt, fahren wir also in unser Hotel, um bis zur Party, die am gleichen Abend in einer anderen multifunktionalen Lagerhalle stattfinden soll, wenigstens noch ein paar Stunden zu schlafen.
Obwohl wir uns ein Doppelzimmer teilen müssen, und obwohl mein Agent selbst im Schlaf ein ziemlicher Querulant sein kann, schlafe ich sofort ein. Allerdings wache ich, geweckt durch die unkontrollierbaren Turbulenzen meines Traumes, nach bestenfalls zwei Stunden wieder auf und bin dabei weitestgehend durchnässt. In meinem Bewußtsein verbleibt, wie üblich, nur das Schlußbild meines Traumes: Ich liege bäuchlings und nackt am vorderen Rand eines Laufsteges und starre in das zunächst unbewegte Gesicht Karl Lagerfelds, der sich, in der einen Hand einen Fächer, in der anderen mein Geschlecht in einem Gurkenglas, schließlich doch zu einem amüsierten Lächeln durchringen kann.
„Dieser Job macht dich krank", ist alles, was ich denken kann, als ich die Hotelbar betrete, um mich mit ein paar Drinks zu beruhigen. „Dieser Job macht krank!"
Ziemlich krank fühle ich mich dann auch, als ich mir eine Stunde (und eine halbe Flasche Whisky) später immer noch Gedanken darüber mache, wie es mir gelingen könnte, meine Männlichkeit zu bewahren, ohne meine Arbeit aufgeben zu müssen. Inzwischen befinde ich mich übrigens im Fahrstuhl des Hotels, und neben mir steht ein weißes Kaninchen, das mir fast bis zur Brust reicht. Zunächst versuche ich, mir angesichts meiner nervlichen Belastung (und meines Alkoholpegels) einzugestehen, dass es sich hierbei durchaus um eine vorübergehende Fehlwahrnehmung meinerseits handeln könnte.Eine situationsbedingte Sinnestäuschung, die aufgrund ihrer offensichtlichen Erklärbarkeit keine weitere Beachtung verdient. Allerdings gerät meine Theorie ein wenig ins Wanken, als der deformierte Hase plötzlich beginnt, mich in ein Gespräch zu verwickeln.
„ Rate mal, wer ich bin", sagt er mit hoher, freundlicher Stimme.
„ Rate mal wer ich bin?" antworte ich resigniert. „ Rate mal, wer ich bin! Du bist wohl verrückt geworden. Natürlich bist Du eine Halluzination. Du bist eine durch übersteigerten Rauschmittelkonsum ausgelöste Bewusstseinstäuschung. Nicht mehr und nicht weniger. Eigentlich bist Du überhaupt nicht da. Du wärst nichts, wenn ich nich da wäre."
„Das ihr Erwachsenen auch immer so kompliziert denken müßt"; sagt das unverschämte Hasenphantom daraufhin mit ungeduldiger Stimme und führt gleichzeitig meine Hände an seine ungewöhnlich großen Ohren.
Und tatsächlich! Die Hasenohren sind tatsächlich hier. Ich bilde mir nicht nur ein, sie zu sehen, sondern ich kann sie auch fühlen. Mir steht ohne Zweifel ein gigantischer weißer Hase mit kindlicher Menschenstimme gegenüber.
„ Du bist ja wirklich hier", stottere ich verlegen. „ Ich meine, Du bist ja wirklich, ähm, Du bist!
Dich gibt es ja wirklich."
„ Du bist aber dafür verflixt langsam. Natürlich gibt es mich! Ich bin ein weißer Hase, ich bin etwa einen Meter vierzig groß und ich spreche fließend deutsch. Und übrigens auch ein paar Worte französisch, wenn Du eine Kostprobe möchtest. Und jetzt rate endlich, wer ich wirklich bin."
Da ich so langsam verstehe, dass der Hase ohnehin keine Ruhe gibt, ehe ich seine Identität ermittelt habe, beginne ich also, munter drauflos zu raten, halte ihn abwechselnd für eine Botschaft Gottes, durch die er mir zu verstehen geben will, dass die Wirklichkeit nicht gleich mit dem ersten Blick zu erkennen ist, für Roger Rabbit, dem verrückten Comic-Helden, der, von seinem Zeichner im Stich gelassen, ziellos durch Paris irrt und für eine im Genlabor gezüchtete Mutation, die nach erfolreichem Ausbruch nun versucht, der skrupellosen Industrie das Handwerk zu legen, und merke dabei gar nicht, dass der Hase inzwischen kein Hase mehr ist.
Stattdessen steht mir das Mädchen aus dem Zug gegenüber, lacht mich mit ihrem zuckersüssen Zahnspangenlächeln an und drückt mir eine Hasenmaske ins Gesicht.
„ Puh, es ist ganz schön heiß hier drunter", sagt sie mir feuerrotem Kopf. „ Ich bin aber ziemlich enttäuscht, dass Du mich nicht gleich erkannt hast. Natürlich bin ich das weiße Kaninchen aus „Alice im Wunderland". Das weiß doch jedes Kind!"
Und noch ehe ich ihr antworten kann, springt die Fahrstuhltür auf. Das Mädchen reißt mir die Maske aus der Hand, zieht sie sich eilig über den Kopf und drückt mir ganz unvermittelt einen dünnen Gegenstand in die Hand. „ Das ist für Deinen traurigen Freund, der den Glauben an seine Fantasie verloren hat" sagt sie aufgeregt. „ Dieses Buch wird ihm helfen. Ich muß jetzt aber wirklich los, sonst komme ich noch zu spät."
Mit einem kurzen Satz springt sie aus dem Fahrstuhl. Als die Tür sich langsam schließt, höre ich sie noch einmal nervös murmeln:
„ Oh, die Herzogin, die Herzogin! Oh, wie wüst wird sie sich aufführen, wenn ich sie warten lasse!"1
Die Tür hat sich nun ganz geschlossen. Ich halte zitternd den dünnen Gegenstand in der Hand. Und als der Fahrstuhl sich wieder in Bewegung setzt, schaue ich hinab und sehe auf das Buch.
Auf der Vorderseite ist ein Bild. Und auf dem Bild ist ein Mädchen, dass sehr fröhlich, aber auch ein wenig unsicher aussieht. Und unter dem Bild steht geschrieben:

ALICE IM WUNDERLAND

Die nächsten Stunden des Nachmittags bringen einige Überraschungen. Obwohl man nüchtern betrachtet feststellen muß, dass wir uns so langsam auf die Unwegbarkeiten der Branche hätten einstellen müssen. Jedenfalls ruft unsere erfolglose Designerin uns rechtzeitig auf dem Hotelzimmer an, um uns mitzuteilen, dass auch die Party ihrer befreundeten Kollegin ins Wasser fiele. Auch ihre Veranstaltung sei kurzfristig abgesagt worden, weil sich der Veranstalter abgesetzt habe, ohne seiner Zahlungspflicht nachzukommen. Selbstverständlich mache es keinen Sinn, ein paar Prominenten Schnittchen zu reichen, wenn man vorher keine Pelzmode präsentieren konnte. Wir dürften deshalb das Hotel und Paris und Frankreich sofort verlassen. (Mein Agent sagte mir später, er habe einen deutlichen Unterton herausgehört, der wie „ Verpisst euch!" klang.) Für unsere beruflich Zukunft wünsche sie uns alles Gute.
Weil wir inzwischen wirklich genug von Paris gesehen haben, checken wir so schnell wie möglich aus. Natürlich ist auch die Hotelrechnung nicht bezahlt, aber immerhin gelingt es uns durch den Erfindungsreichtum meines Agenten noch einmal, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Eine Nacht in französischer Gefangenschaft hätten wir wohl wirklich nicht mehr überstanden.
Wir wollen jetzt beide nur noch nach Hause. Im Taxi schweigen wir uns an. Auf dem Bahnhof schweigen wir uns an. Beim Besteigen des Zuges sschweigen wir uns an...

Als wir es uns im Schlafsessel gemütlich gemacht haben, bemerke ich, dass die Haut meines Agenten am Stress der vergangenen Stunden weiter gelitten hat. Aus einem einzelnen Stirnpickel ist nun ein gemeines Nest geworden. Gerade will ich ihn dezent auf die neuen Umstände aufmerksam machen, da fällt in der Seitwärtsbewegung ein Gegenstand aus meiner Tasche. Ich bücke mich danach und sehe sofort wieder das Bild mit dem Mädchen und darunter „ Alice im Wunderland".
Vielleicht sollte ich meinen Agenten in Ruhe lassen. Vielleicht braucht er jetzt wirklich dieses Buch, und nicht den neuesten Kommentar zur Befindlichkeit seiner Haut.
„ Ich habe hier noch eine Überraschung für Dich!" sage ich und überreiche ihm das Buch. Als ich ihm die näheren Umstände erkläre, huscht ein verständnisloses Lächeln über sein Gesicht. Sofort beginnt er zu lesen...

Ich kann nicht sagen warum, aber irgendwie beruhigt mich die Tatsache, dass er jetzt neben mir sitzt und in diesem Buch ließt. Es fühlt sich richtig an, und langsam entsapanne ich mich in der Hoffnung, dass vielleicht nicht alles verloren ist.

Ich freue mich fast auf die Heimfahrt.

 

Hi Turmfalke,

also ich finde, dass Red Right Hand das ganze ein bisschen sehr negativ darstellt. Er vergisst bei seiner ganzen Kritik, dass es bei deiner Geschichte wohl nicht um den großen Hintergrund der Story (welcher auf jeden Fall auch vorhanden ist) geht, sondern dass du in erster Linie wohl mit den Gedanken der beiden Hauptprotagonisten unterhalten willst.

Jedoch muss ich Red in der Beziehung zustimmen, dass die Story einfach viel zu lang geraten ist. Ich behaupte sogar, dass sie halb so lang auch gut geworden wäre.

Die Gedankengänge des Models und wie er den Agenten sieht, finde ich eigentlich schlichtweg grandios geschildert. Aber wenn du nur solche wortwitzigen und ironischen Sätze bringst, merkt man sich leider einen einzelnen nicht. Wenn alle Leute in Witzen reden würden, würde keiner mehr sie lustig finden.

Mich stören diese Nebensächlichkeiten aber eigentlich nicht. (außer der Umfang des Textes) Du hast mich sehr gut mit deiner Geschichte unterhalten. Danke dafür. Weiter so.

(und schick mir mehr von diesem Textgemetzel, wenn du mehr hast!)

Don Daumen

 

Hallo,

da ich in den letzten Wochen leider keine Zeit hatte, mich auf dieser Seite herumzutreiben, antworte ich etwas verspätet auf eure Kritik und hoffe, dass meine Replik trotzdem zur Kenntnis genommen wird.

Ehrlich gesagt, war ich etwas enttäuscht über die zum Teil negative Kritik, weil in diesem Text recht viel Arbeit steckt.
Im Einzelnen möchte ich dazu sagen, dass ich mal vermute, der Text erscheint euch in erster Linie zu lang, weil ihr ihn online gelesen habt. Ich habe selbst auch keine Freude daran, so lange Texte vor dem Bildschirm zu lesen. Alle, denen ich den Text bis jetzt als siebenseitigen Ausdruck gegeben habe, hatten jedenfalls keine Bedenken wegen der Textlänge.

Zum anderen kann ich auch den Kritikpunkt der Langeweile nicht ganz nachvollziehen, weil ich finde, dass es dem Thema gerecht wird, einen Text zu entwickeln, der sich nur über die Sprache der Protagonisten öffnet. Hierin lag deshalb auch meine Hauptarbeit. Übrigens dient das Kind nur als Symbol, und es geht gar nicht um eine Gegenüberstellung Kinder-/Erwachsenenwelt. Ich fin de die Auflösung ist demgemäß ganz ansprechend.

Trotzdem herzlichen Dank für die Kritik und alles Gute.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom