Die schöne Unbekannte
Sie kam immer auf dem Bahnsteig II an und fuhr auf dem Bahnsteig I weg. Bei mir dagegen war es genau umgekehrt. Ich kam immer auf dem Bahnsteig I an und fuhr auf dem Bahnsteig II weg. Deshalb sahen wir uns jeden einzelnen Tag, als ich auf den Zug, in dem sie war, wartete. Und jeden Tag lächelte sie mich an.
Ich kannte sie eigentlich gar nicht richtig, aber andererseits wusste ich, wie ihr schönstes Lächeln aussah. Ein Lächeln, dass die meisten Menschen bestimmt nicht von ihr kannten. Jeden Tag freute ich mich darauf, sie zu sehen und jeden Tag versüsste sie mir die nächsten vierundzwanzig Stunden dank dieser Geste. Inzwischen weiss ich gar nicht mehr, wer mit dem Lächeln begonnen hat.
Manchmal erschien sie jedoch gar nicht. Ich war dann immer völlig enttäuscht, fast schon den Tränen nahe. Doch wenn ich sie am nächsten Tag wiedersah, war ich noch viel glücklicher als zuvor. Jeden Tag liess sie mein Herz in die Höhe springen und das nur durch ihre Erscheinung. Keine Worte, keine Berührungen. Nur das Aussteigen aus dem Zug und ein völlig simples Lächeln. Sie hatte das entzückendste Lächeln, das ich je gesehen hatte.
Wieder einmal packte ich meine Siebensachen, schritt zum Bahnsteig, wartete, sah den Zug ankommen, sah sie aussteigen, sah sie lächeln. Doch diesmal kam es anders als an all den anderen Tagen. Ich stieg nicht in den Zug ein, um mir darüber Gedanken zu machen, wie sie nur so bezaubernd sein konnte. Nein! Diesmal rannte ich ihr nach. Sie drehte sich zu mir um, als sie mich bemerkte und ich müsste hier wahrscheinlich nicht anmerken, dass sie ihren Mund zu einem Lächeln formte. Kein einziges Wort brachte ich heraus; ich war viel zu überwältigt, ihre Erscheinung von Nahem zu sehen. Es war so als sei mein ganzer Wortschatz wie ausgelöscht. Zum Glück musste ich die Unterhaltung nicht beginnen, denn sie kam mir zuvor: "Ich habe nur darauf gewartet, bis es soweit kommt.", sagte sie mit ihrer zarten Stimme, die noch viel schöner als ihr Aussehen und Lächeln zusammen war. Ihr Klang war gefüllt mit Tausenden von verschiedenen Farben, weich aber doch rau. Bevor ich sie gehört hatte, war es für mich noch unvorstellbar, dass solch charmante Stimmen überhaupt existierten. Glücklicherweise fand ich meine Stimme wieder und erwiderte, ob sie Lust hätte, mich bei Kaffee und Kuchen kennenzulernen, obwohl Tee natürlich besser sei als Kaffee. Sie gab mir völlig recht, aber meinte, dass sie dieses Wochenende nicht könne, sich jedoch bald mit mir treffen möchte, um mehr über mich, den geheimnisvollen "Bahnsteigwarter" und "Zurücklächler", zu erfahren. Ich erhielt noch ihre Telefonnummer und erfuhr ihren Namen. Kim.
Das erste Mal, als wir uns zu treffen versuchten, bekam sie vierzig Grad Fieber. Beim zweiten Mal ist sie in der Nacht zuvor ohnmächtig geworden. Irgendetwas schien nicht zu wollen, dass Kim und ich uns kennenlernten. Mir war klar, dass sie dies nicht als Ausrede benutzte. Ich wusste, dass sie es wollte, ihr Körper es ihr aber verweigerte.
Jeder andere hätte jetzt wahrscheinlich aufgegeben, sich mit ihr zu treffen, aber nicht ich. Ich sah ihre Schönheit. Jede einzelne ihrer Hautzellen verkörperte einen Teil ihrer inneren Anmut; jedes Lächeln ein Sprung unserer beiden Herzen in die Richtung des anderen; jedes einzelne braune Haar ein Teil ihrer Glückseligkeit. Alles an ihr war voller Bedeutung, Schönheit und Fehlern.
Nur noch einmal würde ich es versuchen.
Der Mut lohnte sich. Vielleicht weil ich diesmal die Zeit ausgewählt hatte? Vielleicht weil es der dritte Versuch war und alle guten Dinge ja bekanntlich drei sind?
An diesem Tag schlug mein Herz schneller, heftiger, einfach so viel lebendiger als sonst. Mein Herz machte viele kleine Hüpfer, es wollte aus mir heraus springen um ihres zu berühren.
Zusammen tranken wir Tee, für den natürlich ich bezahlte. Sie erzählte mir so vieles von sich. Was sie gerne in ihrer Freizeit machte, dass sie seit neuestem zwei kleine Kätzchen beherbergte, ihr Bruder nicht kochen konnte ohne dass die Küche explodierte und dass sie gemäss ihm schrecklich sang, es aber trotzdem immer wieder tat. Sie erzählte von ihrer Zeit im momentanen Praktikum, in der Big Band, im Gymnasium, in Irland. Dass sie ein Stubenhocker war und langweilig sei. Einer der wenigen Punkte in denen wir uns nicht einig waren.
Etwas später machten wir uns auf einen kleinen Spaziergang. Sie erzählte mir, dass ihre beste Freundin eigentlich gar nicht wusste, dass sie genau dies war. Davon, dass sie auf einem Ohr taub sei und sie dies sonst fast niemandem erzählt hatte, nicht mal ihrem Vorgesetzen.
In der Ferne sah Kim ihr Haus und zeigte mit ihrer lieblichen Hand darauf. Es war der richtige Augenblick. Ich berührte ihre kalten Finger und Kim erwiderte diese Berührung mit einem Lächeln. Wir schlossen unsere beiden Hände ineinander. Noch nie fühlte ich mich mit ihr so verbunden wie in diesem Moment. "Immerhin hast du warme Hände", flüsterte sie mir zu. Wir lächelten uns an.
Eine Woche verging. Ich fragte sie, ob wir uns wieder treffen möchten, doch ich wurde abgewimmelt: "Es ist etwas dazwischengekommen." Daraus machte ich mir nichts und versuchte es einige Tage darauf noch einmal mit einem Anruf. Ihr Telefonbeantworter war jedoch das Einzige, das sich bei mir meldete. Ich hätte sie gerne am Bahnsteig zur Rede gestellt doch das ging leider nicht mehr; ihr Praktikum war zu Ende. Mir wurde klar, dass es mit uns beiden vorbei war, bevor es überhaupt richtig angefangen hatte. Ich kannte ihre Art zu kuscheln nicht, zu küssen, zu streiten, zu lieben, zu leben.
Mein Herz zog sich zusammen. Ich schrie in mein Kissen hinein, damit es niemand anders hören konnte. Aus meinen Augen flossen so viele Tränen, dass sie ein Schwimmbecken hätten füllen können. Sie ertränkten mein kuscheliges Kissen. So viel geschluchzt und geweint hatte ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Ich war traurig und wütend zugleich. Traurig weil ich dachte, dass sie die Richtige sei. Die Schönheit als Person verkörperte. Weil ich das, was wir bei unserem Treffen erlebten, unerdenklich süss fand. Wütend, weil sie nicht erklärte, warum sie sich nicht mehr meldete, was der Grund für all den Schmerz war, den sie mir antat. Ich wünschte, sie wäre jetzt hier mit ihrem fantastischen Lächeln.
Hatte ich etwas falsch gemacht oder lag es an ihr? Warum hatte sie mir all diese Hoffnungen gemacht, wenn sie sie schlussendlich doch zerstörte? Warum hatte sie mich einfach liegen gelassen? Was war passiert, dass sie ihr Interesse verloren hat? Und warum meldete sie sich nicht und sagt, dass sie kein Interesse mehr hat? Wie konnte sie mir das nur antun? Ich hätte es so gerne verstanden, aber ich tat es nicht.