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Die Sandburg
Die Sandburg
Ich sitze nun seit über fünf Stunden und beobachte das Meer, die Möwen und die wenigen Menschen, die sich zu dieser selten schönen Stunde an meinen Strand verlaufen haben. Einige Pärchen schlendern eng umarmt der Promenade entgegen, küssen sich ab und an während sie hin- und wieder beharrlich in die untergehende Sonne schauen.
In der Ferne sitzt wie schon am Nachmittag ein alter Mann der immer wieder Brotkumen an die Möwen verfüttert und dabei genüsslich zu einer Flasche Wein greift. Die Paare stören ihn nicht, nur scheint es so, als ob die Verliebten den alten Mann in großem Bogen umgehen, teilweise schon sehr nahe am aufgeschäumten Wasser. Vielleicht sind aber nur die Möwen schuld, die beängstigend den alten Mann eingekreist haben. Laut krächzend sitzen sie lauernd da und starren in die Runde. Hätte ich das Schauspiel nicht schon in den letzten Stunden beobachtet, würde ich wahrscheinlich selbst den Weg am Wasser bevorzugen und vielleicht sogar nasse Füße riskieren.
Ist der alte Mann mit seinen geflügelten Freunden erst einmal umgangen, offenbart sich allmählich das nächste Problem: Der kleine Junge. Er sitzt nun schon seit dem ich hier bin – und ich möchte kaum erraten wie lange zuvor – beinnahe regungslos vor einem riesigen Haufen Sand nahe am Wasser. Neben ihm liegen ringsherum verstreut kleine Schippchen, mehrere Eimer und ein kleiner blauer Strandspaten. Der Junge weint. Er weint nun schon seit Stunden, sitzt apathisch leise schluchzend vor dem Sandhaufen und schaut manchmal nach oben, und als ob er sich etwas wünscht dies aber nicht eintritt schüttelt er den Kopf und begibt sich wieder in seine Versenkung. Dieser Trott wird nur durch die spazierenden Pärchen gestört. Jedes vorbeikommende Paar löst für kurze Zeit die enge Umarmung. Die Frau tritt meist an den Jungen heran, fragt wahrscheinlich ob er alleine wäre und alles in Ordnung ist, während der Mann mitleidig die Reste der überschwemmten Sandburg betrachtet. Dann nicken sich die Pärchen für gewöhnlich zu und laufen erst Hand in Hand mit gesenktem Haupt diskutierend, dann wieder eng umschlossen mit Blick zur Sonne in Richtung Promenade. Auch dieses Schauspiel sehe ich nun seit mehreren Stunden wie eine sich langsam aufreihende Perlenkette.
Der Junge sitzt genau vor mir – etwa hundert Meter entfernt - und es wird bald völlig dunkel sein. Schon lange sind meine Gedanken auf ihn gerichtet und nun bei stärker werdender Dunkelheit auch immer mehr mein Blick. Selbst auf diese Entfernung vermag ich jede seiner Regungen zu spüren; die Grübelei, das leise Wimmern und die sanft rinnenden Tränen. Um ein Haar hätte ich selbst Tränen gelassen, wäre ich nicht doch aufgestanden um den Jungen zu besuchen. Schritt für Schritt stapfe ich auf ihn zu und spüre den kräftigen Wind und das herangetragene Krächzen der Möwen. Ich stehe nun knapp hinter ihm und er hat mich immer noch nicht bemerkt.
Der Sandhaufen ist in der Tat eine vormalig aufwendig konstruierte Sandburg die wahrscheinlich einer Flutwelle zum Opfer gefallen ist. Die verschlemmten Konturen lassen erahnen, wie schön und präzise dieses Bauwerk gewesen sein muss. Viele Türme mit kleinsten Zinnen, eine hohe imposante Mauer, mehrere Durchlässe und ein Wassergraben der von einer weiteren Mauer umschlossen war. Sicherlich hatte der Junge den ganzen Tag daran gearbeitet. Mit den ersten Sonnenstrahlen hatte er begonnen und bis in den späten Nachmittag gegraben und geformt. So stelle ich es mir nun vor und kann langsam begreifen, wie herzbrechend die Welle sein Werk zerstört haben muss. Mir läuft eine Träne über die Wange während sich der Junge plötzlich zu mir dreht. Schweigend sieht er mich einige Sekunden an.
„Meine Sandburg ist kaputt!“ stolpert es aus ihm heraus. „Ich weiß, leider!“ sage ich spontan und bereue es im nächsten Augenblick. Ich wollte ihn richtig trösten und nicht mit klugen Worten abspeisen, wie wahrscheinlich alle anderen zuvor. „Dann baue morgen doch eine neue Sandburg, eine viel schönere als diese!“ Der Junge steht plötzlich auf, läuft an mir vorbei und dreht sich nach einigen Metern zögernd um. „Es ist dunkel, ich müsste schon längst zu Hause sein.“ Er wartet noch kurz, wendet dann den Blick in die Richtung aus der ich gekommen war und läuft langsam los. Schritt für Schritt entfernt er sich von mir und den Trümmern seiner Sandburg. Er schaut nicht zurück, weder nach links noch nach rechts. Als er fast außer Sicht ist sehe ich wie er beginnt zu rennen und hinter einer Düne im Dunkel verschwindet.
Ich drehe mich um und betrachte die Sandburg, während ich mich frage, ob ich sie wieder aufbauen könnte. „Sicherlich nicht! Nur der Junge könnte es!“ schoss es mir durch den Kopf und entglitt leise meinen Lippen. „Nein! Auch er nicht!“. Langsam begriff ich das Elend. Gerade der Junge hätte es nicht gekonnt.