Die Sache mit dem Koffer
Die Sache mit dem Koffer
Ich betrete eine alte Bahnhofshalle. Hier ist viel Betrieb. Menschen hetzen vom Eingang zum Kartenverkaufsschalter, von dort zu den Gleisen. Keiner scheint sich die Zeit zu nehmen, die Innenarchitektur zu bewundern. Die Stahlträger sind schon sehr schmutzig, aber von ihrer alten Stärke ist nichts abhanden gekommen.
Die Akustik hier ist auch sehr beeindruckend. Obwohl sich in der Abfahrtshalle mehr als hundert Menschen befinden und ich einige Personen wild am Schalter gestikulieren sehe, herrscht beinahe eine beunruhigende Totenstille. Woher kommt das? Ich teste das aus.
„Entschuldigen Sie, wissen Sie, wie spät es ist?“
„Tut mir leid, ich habe keine Uhr an.“
Die Stimme ist laut und deutlich. Komisch. Auf einmal sehe ich, wie ein Passant über eine Stufe stolpert und seinen Koffer fallen lässt. Es ist einer dieser Schalenkoffer, die außerdem noch mit Metallrändern verstärkt sind. Eigentlich müsste ein lautes Dröhnen durch die Halle schallen. Aber ich höre nur ein leises Scheppern. Es ist, als ob mein Gehörsinn gedämpft ist.
Die anderen Passanten scheinen sich daran nicht zu stören. Überhaupt sind sie alle ganz merkwürdig. Sie wirken irgendwie beschäftigt, als würden sie sehr hart arbeiten. Aber dennoch sind sie gekleidet, als ob sie in die Ferien fahren würden. Doch das ist nicht das einzige, was mich stutzig macht.
Jeder reist alleine. Es gibt keine Reisegruppen, keine Familien, ja noch nicht einmal Pärchen.
Es fällt mir auf, dass Personen, die besonders gut gekleidet sind und sehr wohlhabend aussehen, nur jeweils einen kleinen Koffer dabei haben. An anderer Stelle sehe ich einen alten, heruntergekommenen Mann in zerrissenen Kleidern, der einen Wagen mit mehreren großen Koffern vor sich herschiebt.
Aber auch dieser Aspekt scheint keinen zu stören. Jeder Mensch hier sucht zielstrebig seinen Weg zum Kartenschalter.
Dorthin wende ich mich nun auch. Ein Blick auf die große Bahnhofsuhr lässt mich ahnen, dass mein Zug bald fahren wird. Die Fahrkartenschalter liegen ein wenig versteckt in einer Einbuchtung. Als ich dort ankomme, bleibe ich vor Schreck stehen. Obwohl fünf Schalter offen sind, wartet vor jedem eine gigantische Masse.
Mir bleibt jedoch keine andere Wahl, als mich anzustellen, da ich eine Karte brauche. Die lange Wartezeit nutze ich, um die Menschen um mich herum zu beobachten. Vor mir steht ein älterer Herr mit einem langen Mantel und einem Hut. Er hat keinen Koffer dabei, nur eine kleine Aktentasche. Etwas wohler wird mir, als ich bemerke, dass er auch nicht so sicher wirkt wie die anderen. Eigentlich sieht er sehr mitgenommen aus. Er steht nicht ruhig, sondern tritt von einem Fuß auf den anderen und schaut unruhig durch die Gegend. Einmal dreht er sich um, und ich schaue in ein verstörtes, verängstigtes Gesicht, mitgenommen von den vielen Lebensjahren, die dieser Herr offensichtlich auf dem Buckel hat.
Kurz bevor ich an der Reihe bin, bemerke ich, dass neben, vor und hinter mir in der Schlange vornehmlich ältere Menschen warten. Überhaupt habe ich hier in der Bahnhofshalle kaum junge Leute gesehen. Jedes Gesicht, jede Bewegung in meiner Nähe hat etwas von Resignation und Schwäche. Nur ganz bestimmte Menschen kommen in diese Bahnhofshalle und reisen von hier mit dem Zug.
Nun bin ich dran und als ich an den Schalter herantrete, schlägt mein Herz augenblicklich höher. Ich werde von einer jungen, blonden Dame bedient. Sie ist wunderschön. Wenn mich jemand fragen sollte, wie Engel aussehen, ich würde ihm diese Frau zeigen.
„Sie wünschen?“
Ihre Stimme klingt ein wenig genervt und überarbeitet. Plötzlich weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll. Ja klar, ich will eine Fahrkarte, aber wohin? Also antworte ich schlicht:
„Ein Ticket für den Zug, bitte.“
„Hier gibt es nur Tickets für den Zug. Wohin wollen Sie denn?“
Ihre Augen durchbohren mich. Ich komme ganz aus dem Tritt. Ach so, wohin will ich denn?
„Ich habe keine Ahnung. Welche Möglichkeiten habe ich?“
„Die kann ich hier nicht aufzählen. Sie müssen schon wissen, wo Sie hinwollen.“
Ihre Stimme wird ruhiger.
„Vielleicht finden Sie ja in ihrem Gepäck einen Hinweis, wohin Sie ihr Weg führt.“
Erst jetzt merke ich, dass ich als einziger von den vielen Reisenden keine Tasche, keinen Koffer, ja noch nicht einmal einen kleinen Rucksack dabei habe.
„Ich reise ohne Gepäck.“
Jetzt schaut mich die Dame ganz unverwandt an.
„Ohne Gepäck? Das höre ich zum ersten Mal. Wie sind Sie ohne Gepäck überhaupt in die Halle gekommen?“
Ich merke, wie das Blut in meinen Kopf steigt. Ich werde wütend.
„Das kann Ihnen doch egal sein, wie viel Gepäck ich dabei habe!“
„Ja, ganz ohne Gepäck ist doch sehr ungewöhnlich. Ich rufe einen Informationsbeauftragten für Sie.“
Sie spricht etwas in ein Mikrofon und nach wenigen Minuten werde ich von einem jungen, hochgewachsenen Mann abgeholt, der in seiner Uniform sehr wichtig aussieht. Dennoch macht er auf mich einen vertrauenswürdigen Eindruck. Er bringt mich in ein kleines, spartanisch eingerichtetes Büro. Er bittet mich, auf einem Holzstuhl Platz zu nehmen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass diese Stühle in allen Büros stehen und absichtlich so ungemütlich sind.
„Mir wurde gesagt, sie hätten ein Problem.“
„Ja. Ich wollte ein Ticket kaufen, aber ich bekam keines, weil ich kein Gepäck bei mir habe.“
„Das ist auch sehr ungewöhnlich.“
„Ich habe immer gedacht, es sei nicht unbedingt notwendig, einen Koffer mitzunehmen.“
„Aber der Koffer ist sehr wichtig. Hat Ihnen das niemand gesagt? Ohne Koffer wissen Sie nicht, wohin Sie wollen. Und wir können es Ihnen auch nicht sagen.“
„Gibt es denn nichts, was Sie jetzt noch für mich tun könnten, damit ich noch an eine Fahrkarte komme?“
Er öffnet eine Schublade und holt ein Formular heraus.
„Füllen sie das aus. Dann sehen wir weiter.“
Ich schaue mir das Papier an. Die leeren Felder stehen für Name, Geburtsdatum und das Übliche.
Ich mache mich an die Arbeit. Teilweise muss ich bei den Fragen sehr lange überlegen. Ich habe mir über solche Dinge nie Gedanken gemacht.
Nach einer halben Stunde – auf einmal habe ich vollkommen das Zeitgefühl verloren – bin ich fertig und gebe dem Beamten das Formular zurück. Zufrieden schaut er es an und gibt mir letztendlich eine Fahrkarte.
Das Ticket schickt mich zu Gleis fünf. Ich eile dorthin und kurz nach dem Einsteigen schließen sich die Türen und der Zug sucht seinen Weg aus dem Bahnhof heraus.
Schon bald habe ich die Querelen bei der Abreise vergessen. Hier geht es mir gut. – Ich warte auf Dich. Hoffentlich hast Du einen Koffer dabei.