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Die Ruhe nach dem Knall
Die Ruhe, die nach dem ohrenbetäubenden Knall eingetreten war, wirkte regelrecht unheimlich. Kein Vogelgezwitscher, kein Knarren der alten Leiterwagen, die durch die Straßen gezogen wurden, kein Streiten der Passanten und kein Schreien der Kinder war mehr zu hören. Diese unheimliche Stille währte nur wenige Sekunden, doch niemand würde sie je vergessen können. Noch Jahre später würde vor allem der Bäcker Strobl behaupten, er hätte in diesen Sekunden seinen eigenen Herzschlag gehört, so still war es in der Schusterstraße. Doch kaum war der Schreck über die Detonation überwunden, kam auch schon Hektik auf. Aus allen Türen und Gassen stürmten alte Männer und junge Frauen auf den großen Haufen Schutt zu, während die Omas versuchten, ihre neugierigen Enkel zurückzuhalten. Von weitem hörte man mehrere Sirenen auf die Unglücksstelle zukommen und wenige Augenblicke später hielten auch schon drei Jeeps, aus denen jeweils fünf amerikanische Soldaten sprangen, vor der Bäckerei Strobl. Der Älteste der Uniformierten versuchte mit einem sehr unverständlichen Deutsch, die Menschen, die wie wild mit bloßen Händen die Steinbrocken wegräumten, zurückzuhalten, und Ordnung zu schaffen. Er konnte aber so laut schreien wie er wollte, seine Befehle wurden ignoriert. Die Hoffnung, dass niemand in dem Gebäude war, als der Blindgänger hochging, war stärker als die Strafe, die auf sie zukommen würde. Stundenlang wurde wort- und ruhelos gearbeitet, nur hin und wieder kam ein Hilferuf, wenn ein Mauerbrocken für eine Person zu schwer war.
Nach etwa zwei Stunden wurde die Angst der Bewohner der Schusterstraße bestätigt. Ein lauter Schrei des alten Wagner ließ die Helfer zusammenkommen und kurze Zeit später wurde ein Arm, der unverkennbar einem Knaben gehörte, in einen alten Sautrog gelegt.
Die Ruhe, die in der Straße herrschte, war wieder so bedrückend wie kurz nach der Detonation. In der darauffolgenden halben Stunde wurde kein Wort gesprochen, sondern nur Körperteil um Körperteil in den Behälter gelegt.
„Oh mein Gott! Fritz!“, sagte der alte Bäcker Strobl, als ein US-Soldat den Kopf in den Sautrog legte.
Dieses tonlose Gestammel reichte aus, um die Ruhe aus der Schusterstraße zu vertreiben.
Die Frauen weinten, Kinder schrieen und die Amerikaner versuchten durch lautes Befehlen, die Männer wieder zum Arbeiten anzutreiben.
Wenige Minuten später ging das Suchen in den Trümmern der Schusterstraße acht weiter. Alle gingen wieder still ihrer Beschäftigung nach. So merkte niemand, wie ein Junge im dritten Stock des Nebengebäudes am Fenster stand und sich die Tränen mit dem Vorhang von der Wange wischte.
Es war der elfte September neunzehnhundertsiebenundvierzig.
*
"Veronika, der Lenz ist da,die Mädchen singen Tralala,
die ganze Welt ist wie verhext,
Veronika, der Spargel wächst,
ach Du Veronika, die Welt ist grün,
drum laß uns in die Wälder ziehn.
Sogar der Großpapa, sagt zu der Großmama:
Veronika, der Lenz ist da.“
Wie jeden Morgen im Frühjahr des Jahres neunzehnhundertsiebenundvierzig erklangen auch am dreizehnten April diese Liedzeilen im Treppenhaus der Schusterstraße sechs.
„Langsam nervt Tante Jule“, sagte Peter zu dem verzierten Holzknauf, der das Ende des Treppengeländers markierte. Der großgewachsene, fünfzehnjährige Junge lebte zusammen mit seiner Mutter und drei Tanten in dem dreistöckigen Gebäude und hatte als einziger männlicher Bewohner der Zweizimmerwohnung ziemlich mit den Gewohnheiten seiner Verwandtschaft zu kämpfen. Da war die Jüngste der vier Schwestern, Tante Jule, die in ihrem Leben nur einen Sinn sah und zwar, in Erinnerungen zu schwelgen. Tagtäglich musste sich die Familie anhören, wie sie von einem der Sänger der Comedian Harmonists im zarten Alter von fünfzehn Jahren zum Essen und Tanzen ausgeführt worden war. Zudem beschallte sie das ganze Haus ständig mit den zwei Schellackplatten der Gesangsgruppe, die sie in ihrem Besitz hatte.
Da war auch Tante Klara, die zur Zeit nur in Englisch mit der Familie sprach. Sie hatte es wie durch ein Wunder geschafft, für die amerikanische Besatzungsmacht als Dolmetscherin zu arbeiten und das nur, weil sie als einzige in der Stadt ein englisches Wörterbuch besaß. Tante Helga, die älteste der Schwestern, behauptete zwar, Klara hätte den Amis andere Vorteile die sie besaß, angeboten und somit die Stelle bekommen. Das nahm in der kleinen Wohngemeinschaft aber niemand ernst. Denn Helga war die Kneifzange der Familie. An allem hatte sie etwas auszusetzen, seien es die ungekämmten Haare von Peter, die Musik von Tante Jule, der Offenherzigkeit von ihrer Schwester Klara oder die Erziehungsmethoden und Kochkünste von Maria, Peters Mutter, die ebenso wie Helga Kriegswitwe war.
Maria war die einzige, die sich wirklich um den Haushalt sorgte. Früh morgens stand sie auf, und lief circa acht Kilometer, um auf einem kleinen Bauernhof Dienstbotenarbeit zu erledigen, wofür sie Kartoffeln, Mehl, Eier und hin und wieder ein Stück Schinken bekam. Peter hatte ihr schon hundert Mal angeboten, sie zu begleiten und ihr die schweren Arbeiten abzunehmen, doch Maria wehrte sich immer dagegen. Nach ihren Vorstellungen hatte sie die Pflicht, ihrem Sohn ein Leben zu ermöglichen, in dem er nicht zu hungern brauchte und für jede Jahreszeit die passende Kleidung besitzen konnte. Dass sie aber jeden Abend todmüde und mit ziemlichen Schmerzen ins Bett fiel, versuchte sie zu ignorieren. Peter liebte seine Mutter und versuchte auf seine Art etwas zum Haushalt beizutragen. Er beteiligte sich heimlich an den Aufräumarbeiten, die durch die zerstörten Häuser angefallen waren und bekam dadurch hin und wieder ein paar Zigaretten, eine Tafel Schokolade oder auch eine Packung Kaffee von den Amerikanern. Zudem hatte er eine Falle entwickelt, mit der er einen ziemlich großen Erfolg bei der Jagd nach Bisamratten erzielte. Das Fell dieser Biester tauschte er dann bei den Bauern auf dem Land gegen Essbares ein.
„Ach, wie ist's möglich dann,
daß ich dich lassen kann?
Hab dich von Herzen lieb, das glaube mir.
Du hast die Seele mein so ganz genommen dein,
Daß dich kein Andrer liebt, als ich allein.
Blau blüht ein Blümelein,
das heißt Vergißnichtmein.
Dies Blümlein leg ans Herz und denke mein.
und Hoffnung gleich wir sind an Liebe reich.
Sie stirbt niemals bei mir,
das glaube mir.
Wär ich ein Vögelein,
bald wollt ich bei dir sein.
und nicht flög schnell zu dir.
Schöß mich ein Jäger tot,
fiel ich in deinen Schoß.
Sähst du mich traurig an,
gern stürb ich dann.“
Als Peter diese Liedzeilen hörte, stürzte er schneller die Treppenstufen hinab. Er wusste, es würde nicht lange dauern und Tante Jules Schluchzen würde das Haus erzittern lassen. Denn, nach ihren Worten, hatte der Sänger der Gruppe diesen Text nach ihrem Rendezvous für sie als Ständchen dar gebracht.
Peter lief also in den Keller, in dem, in einem fast verschütteten Raum, Kartoffeln gelagert wurden. Dort wollte er wie jeden Tag die angefaulten Erdäpfel aussortieren. Lebensmittel waren rar und sie durften nicht riskieren, das bisschen, das sie hatten, durch Schlampereien zu verlieren.
Doch als er den Raum betrat, der zu dem Loch führte, das der Zugang zu dem Kartoffeldepot war, blieb er erschrocken stehen. Die Bretter und Planken, die, die Öffnung vor Ratten und Dieben sichern sollten, waren weggeräumt. Peters Herz pochte schneller. Es wird sich doch niemand über ihre Kartoffel hergemacht haben? Leise schlich er zum Loch, griff nach einer Latte, die am Boden lag und lugte vorsichtig in den verschütteten Raum. Doch kaum hatte er seinen Kopf über den Mauervorsprung gestreckt, knallte auch schon eine Kartoffel hart gegen seine Schläfe.
Mit einem Schmerzensschrei taumelte Peter zurück. Wütend hielt er seine Hand an die pochende Schläfe.
„Komm sofort da raus!“, schrie er mit bebender Stimme.
„Komm doch rein und hol mich!“, schallte es aus dem Raum.
Peter zuckte zusammen. Die Stimme, die an sein Ohr drang, gehörte zu einem Jungen. Erleichternd atmete er auf. Seine Befürchtung, dass sich ein auf der Flucht befindlicher Nazi in ihrem Kartoffelkeller aufhielt, wurde also nicht bestätigt. Die Gefahr schien also nicht zu groß zu sein. Denn die grausigen Geschichten, die sich von den verfolgten Soldaten erzählt wurden, waren nicht nur brutal, sondern schon unglaublich.
Peter legte die Latte zur Seite und lugte wieder vorsichtig durch das Loch. Doch kaum hatte er das getan, zuckte er auch schon wieder zurück. Wieder kam ein Erdapfel geflogen und verfehlte seinen Kopf nur um Haaresbreite.
„Lass mal den Quatsch!“, schrie er und überlegte, ob er nicht mit der Latte voran in den Raum stürmen sollte.
„Warum sollte ich?“, schallte es wieder zurück. „Damit ich deinen Prügel über meinen Schädel bekomme?“
„Ich verspreche dir, ich lasse den Prügel draußen!“, rief Peter in den Raum. „Ich muss die Kartoffel aussortieren, bevor alle faulig werden.“
Einen kleinen Moment lang herrschte Ruhe im Keller. Peter meinte in dieser Stille sogar das Piepsen einer Maus zu hören.
„Na gut, komm rein!“, antwortete der Junge aus dem Loch. „Aber ich warne dich, wenn ich ein Stück Holz sehe, bekommst du die nächste Kartoffel an die Birne!“
Peter nahm die alte Petroleumlampe von einem Wandhaken, zündete den Docht an und stellte die Flamme so klein wie möglich, um nicht zuviel Energie zu verbrennen. Danach kletterte er vorsichtig durchs Loch, seinen Blick angestrengt in die Richtung gelenkt, aus der die Kartoffeln zuvor geflogen gekommen waren.
Nachdem sich seine Augen einigermaßen an die Dunkelheit gewohnt hatten, erkannte er auch, wen er für einen flüchtenden Nazi gehalten hatte und musste über seine eigene Angst schmunzeln. Denn dort in der Ecke saß ein dunkelhaariger Junge, der zwar bestimmt um einen halben Kopf größer war als er, aber dafür war er dürr wie ein Besenstiel. Seine Kleider waren nur noch ein paar Fetzen dreckiger Stoff und seine Füße unbekleidet. Zudem glaubte Peter eine böse Wunde am rechten Unterschenkel des Jungen entdeckt zu haben. Alles in allem machte der Knabe einen sehr elenden Eindruck und schien einiges mitgemacht zu haben, was ein Junge in seinem Alter nicht mitmachen sollte.
„Wie heißt du?“, wollte Peter wissen und versuchte sich seinem Gegenüber etwas zu nähern. Doch dieser rutschte noch ein paar Zentimeter nach hinten und nahm wieder eine Kartoffel in die Hand.
„Was geht dich das an?“
„Eigentlich nichts, nur Leute die in fremden Kellern rumlungern und anderen die Kartoffeln klauen, sollten normalerweise den Amis gemeldet werden.“
Nach diesen Worten wandte Peter sich wieder dem Loch zu und tat so als wolle er wieder hinausklettern.
„Fritz!“, schallte es leise aus der Ecke. „Ich heiße Fritz Lewski. Und du?“
Peter wandte sich mit einem Lächeln den Jungen wieder zu und stellte sich vor.
„Ich wollt', ich wär' ein Huhn, ich hätt' nicht viel zu tun,
ich legte vormittags ein Ei und abends wär' ich frei.
Mich lockte auf der Welt kein Ruhm mehr und kein Geld.
Und fände ich das große Los, dann fräße ich es bloß.
Ich brauchte nie mehr ins Büro. Ich wäre dämlich, aber froh.
Ich wollt', ich wär' ein Huhn, ich hätt' nicht viel zu tun,
ich legte täglich nur ein Ei und sonntags auch mal zwei.
Der Mann hat's auf der Welt nicht leicht, das Kämpfen ist sein Zweck.
Und hat er endlich was erreicht, nimmt's eine Frau ihm weg.
Er lebt, wenn's hoch kommt, hundert Jahr
und bringt's bei gutem Staat und nur, wenn er sehr fleißig war, zu einem Rauschebart.
Ich wollt', ich wär' ein Huhn, ich hätt' nicht viel zu tun.
Mich lockte auf der Welt kein Ruhm mehr und kein Geld.
Ich brauchte nie mehr ins Büro. Und Du wärst dämlich, aber froh.
Ich wollt', ich wär' ein Huhn, ich hätt' nicht viel zu tun,
ich legte täglich nur ein Ei und sonntags auch mal zwei.
Ich wollt', ich wär' ein Hahn, dann würde nichts getan.
Ich legte überhaupt kein Ei und wär' die ganze Woche frei.
Dann lockt mich auf der Welt kein Ruhm mehr und kein Geld.
Ich setz' mich in den Mist hinein und sing' für mich allein.
Ich ginge nie mehr ins Büro, denn was ich brauchte, kriegt' ich so.
Ich wollt', ich wär' ein Hahn, dann würde nichts getan.
Ich würd' mit meinen Hünhern gehen, das wäre wunderschön.“
Wie oft sich Peter und Fritz in den darauffolgenden Wochen und Monaten über die Lieder, die Tante Jule tagtäglich abspielte, lustig machten, war nicht bekannt. Immer wieder verstellten sie ihre Stimmen und johlten mit den Liedern oder dichteten die Texte um, was Peters Tante gar nicht gefiel.
Aus den beiden Knaben waren sehr gute Freunde geworden, die jeden Tag zusammen verbrachten. Peter hatte für Fritz Kleider von Tante Helgas verstorbenen Mann besorgt, was die Witwe mit einem Heulkrampf quittiert hatte. Tante Klara hatte den Versorgungsoffizier der Amerikaner solange bezirzt, bis dieser ein paar Stiefel in Fritz’ Größe herausrückte und Peters Mutter hat sich um die Wunden und den allgemein schlechten Körperzustand des jungen Flüchtlings gekümmert. So war binnen kürzester Zeit aus dem dürren Knaben ein stattlicher junger Mann geworden, der sich in der Straße nützlich machte, wo es ging und bei den Bewohnern sehr beliebt war.
So sehr Peter und Fritz auch gemocht wurden, so sehr gefürchtet waren sie auch, vor allem ihre Streiche, die sie so manchen Bewohner der Schusterstraße spielten, waren berüchtigt. Der Bäcker Strobl zum Beispiel betrat ein paar Wochen lang nur noch seine Backstube, nachdem er die Tür nur einen Spalt geöffnet und mit einem Stock geprüft hatte, ob ihm nicht ein Eimer mit Wasser auf den Kopf fallen könnte.
Tante Helga ignorierte die zwei Jungs mehrere Tage lang, weil sie ein paar Blindschleichen in ihrem Bett gefunden hatte.
So ging es Tag für Tag in der Schusterstraße. Keiner der Anwohner konnte von Peters und Fritz’ Streichen sicher sein.
Doch die Beiden hatten nicht nur Flausen im Kopf. Sie hatten auch Ziele. So lauschten sie fast jeden Tag den Erzählungen eines amerikanischen Offiziers, der leidlich Deutsch sprach. Sie erfuhren unglaubliche Dinge über ihr Traumland, die USA. Mittlerweile träumten sie von einer hundert Meter hohen Frau, die im Wasser stand und eine Fackel in den Himmel reckte. Sie dachten darüber nach, wie sie mit einer der riesigen Lokomotiven zum Grand Canyon fuhren und Bisons jagten. Und vor allem träumten sie von ihrer eigenen Autowerkstatt und von Fahrzeugen, die sie darin reparieren würden, die sie bisher nur von verblichenen Fotos kannten. Der Entschluss der Beiden stand fest, sobald sie genug Geld gespart hätten um die Überfahrt in die USA zu bezahlen, würden sie Deutschland verlassen und im Land der unbegrenzten Möglichkeiten reiche Männer werden.
„Dideldum, alter Junge, dideldum dideldum,
Werd nicht weich, alter Junge, werd nicht weich.
Glaub ja nur, schöne Mädels gibt's ja auch übern Teich
Werd nicht weich, alter Junge, werd nicht weich.
Verklungen sind die alten Lieder, Schöne Zeit, du bist für immer entschwunden.
Wo seid ihr, Freunde, die ich einst gefunden?
Ich glaub, ich seh euch niemals wieder.
Ein letztes Glas mit alten Freunden, Jedem noch einmal tief ins Aug geblickt
Und noch einmal die Freundeshand gedrückt.
Ein letztes Glas mit alten Freunden.
Dideldum, alter Junge, dideldum dideldum,
Werd nicht weich, alter Junge, werd nicht weich.
Glaub ja nur, schöne Mädels gibt's ja auch übern Teich.
Werd nicht weich, alter Junge, werd nicht weich.
Am Abend saß ich bei dem Weibe, zum Abschied hielt ich lang ihre Hand.
Ich sah die Sonne, die langsam im Glute verschwand,
Das war das allerschwerste Scheiden.“
Die Zeit verging, und die Jungen arbeiteten so hart sie konnten, um endlich genug Dollars zusammen zu haben. Doch leider reichte das Geld hinten und vorne nicht. Zudem machte Fritz den Eindruck, als würde er das große Ziel aus den Augen verlieren. Er redete immer weniger von der Autowerkstatt, als von einem Mädchen, das mit einem der Flüchtlingskonvois angekommen war. Jeden Tag musste Peter mit Fritz in die Wagnergasse gehen, um das Mädchen zu beobachten. Peter kam sich dabei ziemlich doof vor. Eigentlich dachte er, er sei aus dem Alter raus, um Verstecken zu spielen. Doch weil er Fritz nicht enttäuschen wollte, versteckte er sich jeden Tag wieder in einem der Treppenabgänge.
Nach ein paar Wochen war Peter aber die Lust vergangen und weigerte sich, diese Kindereien, wie er es nannte, mitzumachen. Ab da ging Fritz allein in die benachbarte Straße, während Peter weiter auf ihr Ziel zu steuerte, indem er hart arbeitete.
„Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste was es gibt auf der Welt
Ein Freund bleibt immer Freund und wenn die ganze Welt zusammenfällt.
Drum sei doch nicht betrübt, wenn dich dein Schatz nicht mehr liebt.
Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste was es gibt.
Sonniger Tag, wonniger Tag!
Klopfendes Herz und der Motor ein Schlag!
Lachendes Ziel, lachender Start und eine herrliche Fahrt.
Rom und Madrid nehmen wir mit.
So ging das Leben im Taumel zu dritt.
Über das Meer, über das Land haben wir eines erkannt:
Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste was es gibt auf der Welt
Sonnige Welt, wonnige Welt!
Hast uns für immer zusammengesellt.
Liebe vergeht, Liebe verweht,
Freundschaft alleine besteht.
Ja, man vergißt, wen man geküßt,
weil auch die Treue so unmodern ist.
Ja, man verließ manche Madam',
wir aber halten zusamm':
Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste was es gibt auf der Welt“
Am zehnten September neunzehnhundertsiebenundvierzig, kam Peter nach einem harten Arbeitstag spät nach Hause. Er war ziemlich niedergeschlagen. Seine Bisamrattenfalle war wahrscheinlich von einem ziemlich großen und schweren Tier zerstört worden. Die Reparatur seines Apparates würde wohl mehrere Tage in Anspruch nehmen. Dabei hatte er einem Bauern erst am Tag zuvor versprochen, fünf Felle so bald wie möglich zu liefern.
Peter schlang seine Brotsuppe, die mit angerösteten Zwiebeln angereichert war, viel zu schnell hinunter und ging ins Bett. Er hatte seine Augen noch nicht richtig geschlossen, als er ein Klacken am Fenster vernahm. Neugierig lugte er zu dem Ort, von dem das Geräusch gekommen war, konnte aber nichts entdecken und schloss wieder seine Augen. Doch gleich darauf erklang das Klappern wieder.
Müde und wütend klettere er aus seinem Bett und ging zum Fenster. Nachdem er es geöffnete und auf die Straße gesehen hatte, erkannte er Fritz, der ein paar Kieselsteine in der Hand hatte.
„Was ist denn los?“, wollte Peter wissen. „Ich bin müde!“
„Komm bitte runter!“, antwortete Fritz ziemlich außer Atem. „Ich brauche deine Hilfe, es ist etwas Schreckliches geschehen.“
Am liebsten hätte Peter seinem Freund vom Fenster aus die Meinung gesagt und sich wieder ins Bett gelegt, doch etwas in der Stimme von Fritz sagte ihm, dass er ihn jetzt unmöglich im Stich lassen konnte.
So schlüpfte Peter wieder in seine Hose und schlich sich an der Küche vorbei, in der seine Mutter noch den Abwasch machte, aus der Wohnung. Peter wollte gerade auf die Straße treten, als er am Arm gepackt und von der offenen Tür weg gezerrt wurde. Erschrocken wie Peter war, konnte er sich kaum wehren, erst als er unter die Holztreppe geschleift wurde, gelang es ihm, sich los zu reißen. Doch als er sich auf die Person stürzen wollte, erkannte er Fritz.
„Sag mal, spinnst du?“, fragte er seinen Freund und rieb sich den schmerzenden Oberarm.
„Tut mir leid, Peter!“, antwortete Fritz. „Es ging aber nicht anders, ich muss sehr vorsichtig sein.“
„Du musst vorsichtig sein und brüllst auf der Straße rum?“
In Peter kam das Gefühl hoch, als würde Fritz wieder mal übertreiben. Das hatte er schon des Öfteren bei seinem Freund erlebt. Trotzdem behielt er die Ruhe und versuchte, Fritz die Angst zu nehmen.
„Erzähl erst mal, was passiert ist, so schlimm wird es schon nicht sein.“
„Schlimm ist gar kein Ausdruck, es ist das schrecklichste, was ich je getan habe!“
Peter wollte wieder beschwichtigen, doch Fritz fing an zu erzählen:
„Ich war heute Abend wieder in der Wagnergasse. Du weißt schon warum. Ich saß da wieder an dem Kellertreppenabgang und wartete. Ich war bestimmt eine Stunde rum gesessen, als das Mädchen aus dem Haus kam. Sie ging wieder zum Brunnen um Wasser zu schöpfen. Da geschah es!“
Fritz begann zu zittern. Als Peter das sah, wurde ihm bewusst, dass er diesmal nicht übertrieb. Es musste wirklich etwas Schreckliches geschehen sein. Sein Freund erzählte weiter und was Peter jetzt erfuhr, ließ ihn frieren.
Das Mädchen machte sich am Brunnen zu schaffen als Fritz einen Schatten entdeckte, der aus einem der Häusereingänge huschte und sich vorsichtig ihr näherte. Nachdem er sie erreicht hatte, packte er sie von hinten, hielt ihr mit einer Hand den Mund zu und zerrte sie vom Brunnen weg in einen der Keller. Fritz überlegte nicht lange und lief ihnen nach. Kaum hatte er den Keller betreten, sah er wie das Mädchen wimmernd am Boden lag. Der Fremde riss ihr mit aller Gewalt den Rock vom Leib, stieg mit einem Bein auf ihre Brust, um sie so am flüchten zu hindern und nestelte an seiner Hose. Fritz handelte prompt. Er sah trotz der Dunkelheit neben der Kellertür eine Sichel hängen, nahm sie vom Haken, lief auf den Verbrecher zu und schlug zu.
Was danach in dem Keller geschehen war, konnte Peter nicht erfahren. Sein Freund fing an zu weinen und zitterte nun am ganzen Leib.
Auch er war sichtlich mitgenommen. Sein gesunder Farbton war längst aus seinem Gesicht gewichen und die Blässe die sich breit gemacht hatte war fast unheimlich.
Trotzdem versuchte er ruhig zu bleiben und die Fassung zu wahren.
„Was ist mit dem Mädchen?“, fragte er den weinenden Jungen, der zusammengekauert unter der Treppe saß.
„Sie ist im Kartoffelkeller!“, antwortete Fritz schluchzend.
Peter packte seinen Freund am Arm und zog ihn hinter sich her. Im Keller angekommen nahm Peter die Bretter vom Loch und kletterte vorsichtig hinein. Auf ein paar alten Säcken lag das Mädchen und schlief. Er kletterte wieder hinaus, holte die Petroleumlampe vom Haken und besah sie genauer. Sie schien nicht verletzt zu sein. An den nackten Schenkel konnte er ein paar blaue Flecken entdecken und unter der Nase war ein schmaler, eingetrockneter Blutfaden.
"Was hast du mit ihr gemacht?" fragte Peter als er wieder aus dem Loch gekrochen war.
"Sie war so aufgebracht und heulte nur die ganze Zeit," antwortete Fritz. "Da hab ich ihr von dem Wisky gegeben, den wir letzte Woche von den Amis bekommen haben."
Peter besah sich die halbleere Flasche und hoffte, dass die Menge an Alkohol dem Mädchen nicht schaden würden.
„Irgendwo auf der Welt gibt's ein kleines bißchen Glück,
Und ich träum' davon in jedem Augenblick.
Irgendwo auf der Welt gibt's ein bißchen Seligkeit,
Und ich träum' davon schon lange lange Zeit.
Wenn ich wüßt', wo das ist, ging' ich in die Welt hinein,
Denn ich möcht' einmal recht, so von Herzen glücklich sein.
Irgendwo auf der Welt fängt mein Weg zum Himmel an;
Irgendwo, irgendwie, irgendwann.
Ich hab' so Sehnsucht, Ich träum' so oft;
Einst wird das Glück mir nah sein.
Ich hab' so Sehnsucht, Ich hab' gehofft, Bald wird die Stunde da sein.
Tage und Nächte wart' ich darauf:
Ich geb' die Hoffnung niemals auf.
Irgendwo auf der Welt gibt's ein kleines bißchen Glück,
Und ich träum' davon in jedem Augenblick.
Irgendwo auf der Welt gibt's ein bißchen Seligkeit,
Und ich träum' davon schon lange lange Zeit.
Wenn ich wüßt', wo das ist, ging' ich in die Welt hinein,
Denn ich möcht' einmal recht, so von Herzen glücklich sein.
Irgendwo auf der Welt fängt mein Weg zum Himmel an;
Irgendwo, irgendwie, irgendwann,
Irgendwo, irgendwie, irgendwann.“
Die nächsten Stunden verbrachten die beiden Jungen damit, nachzudenken, was sie tun sollten.
Die Leiche würde bald entdeckt werden und jeder würde sich auf die Suche nach dem Mädchen machen. Peter wollte in die Wagnergasse laufen und versuchen, den Toten zu verstecken. Doch was sollte er tun wenn er dabei entdeckt wurde?
Zudem hätte er bestimmt nicht die Kraft einen ausgewachsenen Mann aus einem Keller zu tragen und selbst wenn, wo hätte er ihn hinbringen sollen?
„Es hilft nur eines!“, sagte Peter nach zwei Stunden. „Du und das Mädchen müsst verschwinden. Das Geld, das wir zusammen haben, reicht für die Überfahrt nach Amerika. Leider müsst ihr zu Fuß nach Hamburg laufen. Es wird gefährlich werden und bestimmt drei Tage dauern, aber schafft das bestimmt!“
Fritz sah seinen Freund verblüfft an.
„Und was ist mit dir?“, fragte er. „Du hast hart dafür gearbeitet, dass wir das Geld zusammen bekommen.“
„Ich spiel jetzt keine Rolle. Ihr beide müsst weg. Ich arbeite weiter und komme später nach.“
Fritz sprang auf.
„Das kommt gar nicht in Frage!“, schrie er.
„Es gibt aber leider keinen anderen Weg!“
„Doch, den gibt es“, gab Fritz zurück und Peter verstand sofort, was er meinte.
Sie hatten schon oft darüber gesprochen, doch sich nie getraut das auch zu verwirklichen.
In der Stadt wimmelte es von Bomben, die nicht explodiert waren und nun in den zerstörten Häusern steckten. Die Amerikaner zahlten gutes Geld an Leute, die diese Blindgänger freischaufelten. Bei einem ihrer Streifzüge hatten Fritz und Peter so eine Bombe im Nachbarhaus entdeckt.
„Das kommt nicht in Frage!“, sagte Peter bestimmt. „Das ist zu gefährlich. Es bleibt dabei, morgen früh gehst du mit dem Mädchen nach Hamburg. Das ist der sicherste Weg.“
Fritz versprach ihm, nicht in das Nachbarhaus zu gehen und kurze Zeit später stieg Peter die Treppen zu der Wohnung hoch, in der Tante Helga bereits lauthals schnarchte.
*
„Guter Mond, du gehst so stille durch die Abendwolken hin,
bist so ruhig und ich fühle, daß ich ohne Ruhe bin.
Traulich folgen meine Blicke deiner stillen, heit'ren Bahn.“
Oh, wie hart ist das Geschicke, daß ich dir nicht folgen kann
Guter Mond, du gehst so stille durch die Abendwolken hin,
deines Schöpfers reiner Wille hieß auf dieser Bahn dich ziehn.
Leuchte freundlich jedem Müden in das stille Kämmerlein;
und ergieße Ruh und Frieden ins bedrängte Herz hinein.
Guter Mond, dir will ich's sagen, was mein banges Herz erkränkt;
und an wenn mit bitt´rer Klage die betrübte Seele denkt.
Guter Mond, du kannst es wissen, weil du so verschwiegen bist,
warum meine Tränen fließen und mein Herz so traurig ist.“
Viele Jahre später erinnerte Peter sich wieder an all das, was in der Nachkriegszeit in der kleinen Stadt in Deutschland geschehen war. Sehr deutlich sah er vor seinen Augen wie er und Annemarie, so hieß das Mädchen, das von Fritz gerettet worden war, sich aufmachten und nach Hamburg gingen. Nach drei beschwerlichen Tagen waren sie in Hamburg angekommen und versteckten sich auf einen der amerikanischen Militärdampfer.
In den USA war das Leben nicht so leicht und unbeschwert wie sich Peter das ausgemalt hatte. Doch nach einer Ausbildung in einer Autowerkstatt, vielen hungrigen und kalten Nächten in einem kleinen, feuchten Zimmer, hatte er es endlich geschafft. Er mietete sich eine kleine Werkstatt und ein paar Jahre später war Peter einer der angesehensten Autohändler in New York. Diese Zeit der Entbehrungen schweißte die beiden jungen Menschen immer mehr zusammen und im Juni neunzehnhundertfünfzig gaben sich Annemarie und Peter das Jawort. Bereits ein Jahr später wurden sie Eltern eines gesunden Jungen, den sie wie selbstverständlich auf den Namen Fritz taufen ließen. Der Junge machte ihnen viel Freude und schaffte es durch Fleiß und Wissen, ein angesehener Finanzberater zu werden.
Nach fünfzigjähriger Ehe traf Peter der nächste Schicksalsschlag. Annemarie verstarb nach langem Leiden an Krebs und Peter war nun das erste Mal in seinem Leben allein. Er zog zu seinem Sohn in eine große Wohnung, in einem der Wolkenkratzer. Dort wartete er mit seinen neunundsechzig Jahren darauf, dass er seiner geliebten Frau folgen könnte.
Die Ruhe, die nach dem ohrenbetäubenden Knall eingetreten war, wirkte regelrecht unheimlich. Kein Autolärm, kein Hupen der Taxis, kein Knarren der Presslufthammer, nichts war mehr zu hören. Viele Leute waren auf die Unglücksstelle zu geeilt und arbeiteten mit allen Kräften. Von weitem waren nun auch die Sirenen der Polizei-, Sanitäts-, und Feuerwehrfahrzeuge zu hören, die kurze Zeit später vor dem Haufen Schutt hielten.
Gestein um Gestein wurde entfernt und immer wieder wurden Leichen aus den Trümmern geborgen.
Alle arbeiteten konzentriert und leise, doch keiner achtete auf den alten Mann der an der Straßenecke stand und seine Tränen mit dem Jackenärmel weg wischte.
Es war der elfte September zweitausendundeins!