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Die rote Tür
Einst hatte ich einen Traum:
Ich lief einen Weg entlang, er war breit, frisch gekehrt und führte mich zu einem Haus. Das Haus war groß und stand zwischen hohen Bäumen am Rand einer Großstadt. Aus der Entfernung hörte ich Motorenbrummen und eine Polizeisirene. Doch insgesamt war es sehr ruhig, und diese Stimmung gab mir eine Art von Sicherheit, Geborgenheit und Heimat. Neugierig war ich, stapfte deshalb langsam auf das Haus zu. Umso näher ich heran trat, desto weiter drehte sich die Sonne Richtung Horizont und lies den Himmel in Rottönen schimmern. Es dämmerte schnell, und als ich vor der morschen Haustür stand, war es stockfinstere Nacht. Ich hörte keine Motoren mehr und auch keine Sirenen. Nur das Funkeln der Sterne und das Schnurren des Mondes waren zu hören. Groß war die Tür, alt und verlassen sah sie aus. Doch in meiner Reichweite befand sich ein kleiner, roter Knopf mit der Anschrift: „Realität“.
Ich drückte ihn und hörte das dumpfe Klingeln im Bauch des Hauses. Nach kürzester Zeit bewegte sich die Klinke nach unten, und mit einem leisen „Klack“, öffnete sich die Tür. Licht kam aus dem Haus, grüßte mich höflich aber verschwand schnell in der Dunkelheit. In der Tür stand eine Frau, groß war sie, wie die Tür. Und ihre rosafarbene Schürze, sowie ihre grünglänzenden Augen.
„Mein Kind, was führt dich zu diesem Ort, in einer so finsteren Nacht?“, fragte sie mich und schaute mich mit ihren großen, grünglänzenden Augen besorgt an.
„Gerade war es noch hell!“, antwortete ich hastig. „Umso näher ich an das Haus kam, desto dunkler wurde der Tag, und der Tag wurde zur Nacht und ich fing an die Sterne funkeln zu hören ...“
„Langsam, Kleines“, unterbrach sie mein hilfloses Japsen, kniete sich auf meine Augenhöhe und legte mir ihre Hand auf meine Schulter.
„Willkommen in der Realität. Darf ich dich ein wenig rumführen?“
Weder wusste ich, was ich ihr antworten sollte, noch wusste ich, was die Realität für ein Ort ist und ob ich mich fürchten sollte. Doch die Frau kniete immer noch vor mir, mit ihrer Hand auf meiner Schulter und strahlte so eine Liebe und Weisheit aus, wie ich es davor noch nie erlebt hatte. Also bejahte ich, aufgrund ihrer Sympathie. Kurz darauf stand ich schon im Bauch des Hauses, einem Raum mit unzähligen, bunten Türen an den Wänden.
„Was ist das für ein seltsamer Ort?“, fragte ich.
„Hier musst du dich entscheiden, mein Kind“, antwortete sie mit ihrer ruhigen, warmen, doch etwas rauen Stimme. „Du kannst nur einen Weg wählen, durch diesen Weg kann ich dich dann durch das Haus führen und dir deine Zukunft zeigen. Es soll dir eine Hilfe sein, um dich in der Realität später zurecht zu finden. Vielleicht weißt du dann auch, welche Tür du nicht nehmen wirst, weil du sie schon durchlaufen durftest.“
Ich verstand nur die Hälfte, denn die Türen waren so unterschiedlich in ihrer Art, dass mich das faszinierte und somit ablenkte. Klein, groß, schmal, breit, rund, eckig. Ich entschied mich für das winzige, rote Türchen am Eck.
Das Türchen öffnete sich und als ich herein trat, stand die große Frau mit der Schürze schon vor mir und lächelte mich an. Verwirrt versuchte ich, einzelne Silben zu Wörtern zu binden, scheiterte aber daran. „Komm mit!“, sagte sie, legte wieder ihre Hand auf meine Schulter und führte mich stumm durch diese merkwürdigen Gänge. Mal ging es nach rechts, mal nach links oder ein paar Treppenstufen herab. Die Wände, Decke und auch der Boden waren rot, wie die Tür es war.
Nun sah ich weitere Türen, doch die waren alle gleich, außer die Schilder, denn diese waren unterschiedlich beschriftet.
Die erste Tür des folgenden Ganges hatte die Aufschrift: „Beruf“.
„Ich heiße übrigens Valery“, meinte die Frau, holte einen dicken Schlüsselbund aus ihrer Schürzentasche und schloss geübt die Tür auf. Neugierig schaute ich in das Zimmer. Darin war eine junge Frau zu sehen, die an einer Nähmaschine saß und zwei Stoffteile sorgfältig zusammen steppte.
„Das bist du!“, flüsterte mir Valery leise ins Ohr.
„Wow“, antwortete ich fassungslos. Schon immer hatte ich mir eine solche Maschine gewünscht, doch ich hatte nie das Geld dazu. Es gab mir Kraft, mich selbst zu sehen, wie ich meinen Traum wahr machte.
„Es wird der Tag kommen, Kleines, da wirst du erwachsen. Aber diese Tage bringen nicht nur solche schönen Dinge mit sich“, warnte sie und Schloss schon mit einem anderem Schlüssel die benachbarte Tür auf.
„Sieh!“ Die Aufschrift dieser Tür war: „Abschied“. Der Raum dahinter war düster, Wolken hingen tief und kalter Wind kam uns entgegen, ohne uns zu grüßen. Regentropfen, fein wie Staub, nieselten auf den matschigen Boden. Auf diesem waren drei Grabmäler mit Kerzen und Rosen davor, sodass man nicht lesen konnte, wer in den Särgen unter den Mälern ruhte. Mir kamen die Tränen, ich wurde traurig, denn ich wusste, dass Menschen von mir gehen werden. Valery nahm mich in den Arm und drückte mich an sich. „Ich weiß, es ist hart. Du wirst dich ablenken können und wieder ins Leben zurückfinden, wenn du weiterhin an dich glaubst. Fange an zu akzeptieren, dass die Natur über dem Menschen steht und sich nicht aussucht, wen der Regen trifft.“
Ich schniefte, sagte aber nichts weiter dazu, denn schon klapperten wir nach und nach Tür für Tür ab. Ich fing wieder an zu lächeln, als ich mich sah. Ich stand da mit einem Jungen an der Bushaltestelle. Und wir küssten uns. Ich sah eine Geschichte, meine Geschichte, wie ein Film, nein, fast wie alle Staffeln von „How I met your mother“. Eine Geschichte, mit Höhen und Tiefen, wie ich zu dem Mann kam, von dem später meine Kinder waren. Doch es war eine lange, traurige Reise, die die Unendlichkeit sanft streifte. Ich hatte dabei Fehler gemacht, bin gefallen, war unter Anderem im Zimmer der „Krankheit“, sowie in anderen wie „Wut“, „Liebe“, „Freunde“, „Neid“ und auch „Vergangenheit“. Es machte mich traurig zu sehen, wie ich zwischen den Türen wandelte, litt, und nicht wusste, wo ich hingehörte. Aber auch froh, wie ich lernte, Fortschritte machte und mit Leidenschaft kämpfte. Valery führte mich bis zum Ende des Ganges, erklärte mir, was das hier alles zu bedeuten hat. Die Realität. Der ständige Wandel des Lebens.
Als ich mich nach der Reise von Valery verabschiedet hatte und aus der morschen Haustür trat, wurde mir bewusst, dass alles, was ich gesehen hatte, richtig war. Ich hätte andere Türen wählen können, es wäre anders verlaufen, trotzdem befinden sich hinter jeder Tür gute, sowie auch schlechte Zimmer. Ich entfernte mich immer weiter vom Haus, die Sonne spähte hinterm Horizont hervor, die Dunkelheit der Nacht verschwand. Ich hörte Vögel zwitschern und die Motoren der Stadt. Ich war zufrieden.
Eines hatte mir Valery noch zu geflüstert: „Selbst eine schwere Tür hat nur einen kleinen Schlüssel nötig.“