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Die rosige Flut
And in that slow, steady channel of darkness that cut across the white glare of day were touches of alert white, the eyes, the ivory eyes staring ahead, glancing aside, as the river, the long and endless river, took itself from old channels into a new one.
- Ray Bradbury, die Mars-Chroniken
Wolfgang: 67 Jahre alt
Lars: 44 Jahre alt
Marco: 23 Jahre alt
Die Männer saßen auf der Veranda, als die Frauen für immer verschwanden. Unter einer grünen, löchrigen Markise hockten sie, auf alten, weißen Plastikstühlen. Sie tranken Bier aus der Flasche und hörten Radio.
„Die Frauen“, erklärte Wolfgang, „sie gehen.“
Lars griff nach hinten in die Eisbox. „Noch eins?“
„Was n’ das?“, fragte Marco.
Lars blickte die Straße hinauf und ließ die Bierflasche fallen. Eine rosige Flut pulsierte am Horizont. Eine rosige Flut, die über Felder floss und zwischen Häuser drängte. Bald erstrahlte alles in einem rosigen Glanz, auch der Himmel. Es war wie ein Sonnenuntergang am Tag, pink und violett und pfirsichfarben.
„Sie gehen“, sagte Wolfgang, „aber zuerst kommen sie zu uns.“
Langsam nahm die Flut Gestalt an. Sie bildete eine lange Gerade, die über die Straße kam. Lars fühlte sein Herz in der Brust pochen und eine prickelnde Wärme auf der Haut. Es waren Frauen. Unzählige Frauen. Frauen mit Orchideen im Haar, Frauen mit Babys im Arm, Frauen in langen weißen Sommerkleidern, die im Wind schwirrten, Frauen in Jeans, Frauen mit schwarzer Haut und grünen Augen, Frauen mit kupferfarbenem Haar und Tattoos, blasse Frauen und goldgebräunte Frauen, Frauen mit Sonnenbrillen und Heavy-Metal-T-Shirts, Frauen mit Grübchen, Frauen mit Wespentaillien, Frauen in weißer Schwestertracht, Frauen mit gepuderten Wangen, Frauen mit Dreads, Frauen mit Perlenketten, Frauen mit Kleidern aus Samt und Seide und Jute und Hanf. Und alle zusammen rochen die Frauen, wie nur Frauen riechen können, nach Vanille und Hefeteig und Haarspray, nach Hautcremes und Johanniskraut und Lippenstift, nach Nagellack und Olivenöl und Lipgloss und Eyeliner und Minze und Zimt und Lilien und Flieder und Lavendel.
„Julia?“
Am Flutrand blieb eine junge Frau stehen. Sie hatte ein freundliches Gesicht und ein Buch in der Hand. Marco rannte auf sie zu und packte sie am Arm. Das Buch fiel zu Boden.
„Bleib“, sagte Marco.
Julia ging in die Hocke, hob das Buch auf, und strich eine braune Strähne hinters Ohr. „Ich geh.“
„Nein, du bleibst bei mir. Ich werde unsere Kinder großziehen. Ich werde Geld verdienen. Ich werde dein Fels in der Brandung sein und deine Schulter zum Ausweinen und deine Bürste wenn es kratzt und deine Augen wenn es dunkelt und dein Herz wenn es höher schlägt. Ich werde so tun, als könnte ich deine Familie ausstehen und dich immer verteidigen. Ich werde dir jeden Tag erzählen, wie einzigartig du bist und wie sehr ich dich liebe. Ich werde noch in zwanzig Jahren da stehen, so wie ich jetzt da stehe. Ich werde immer da sein. Du gehst nicht.“
„Wir gehen jetzt nach Doppel X, Marco, es tut mir leid.“
Sie ließ ihn stehen.
Nur wenig später kam Lars’ Frau vorbei, Kathrin. Sie hielt ihre zweijährige Tochter im Arm. Und an der Hand: ihren fünfjährigen Sohn.
Lars stellte sich ihnen in den Weg und breitete die Arme aus.
„Aus dem Weg“, sagte Kathrin.
„Wenn du wirklich gehen willst“, sagte Lars, „dann geh. Du kannst den Peugeot haben. Und den Mercedes. Und das Haus. Die Kronleuchter sollen dir gehören, der Mahagoni-Schrank und der Perser-Teppich. Das Hundertwasser kannst du behalten, meine Jugend sowieso. Mach mit dem Wein, was du willst, verschenk ihn, trink ihn selbst! Die Karpfen mach ich dir nicht streitig, unsere Freunde auch nicht. Ich überlass dir den Billard-Tisch und meine Panini-Heft-Sammlung. Ich schenke dir die Holzfiguren aus Kamerun, das Silberbesteck meiner Mutter und Opas Schachbrett. Raum sollst du haben, so viel du willst, ich gönn dir alles, ein neues Leben und eine neue Liebe. Alles steht dir zu, nur meine Kinder, die nimmst du mir nicht weg.“
„Arschloch“, sagte Kathrin, und drei Frauen aus dem Strom gesellten sich sofort dazu.
„Was?“, sagte Lars.
„Arschloch!“, riefen sie, dann deutete Julia nach links, zu Vanessa, der neuen Praktikantin in Lars' Betrieb, die just in diesem Moment vorbeiging und Lars den Mittelfinger zeigte.
„Arschloch!“, riefen die Frauen im Chor. „Arschloch! Arschloch! Arschloch!“
Lars riss seine Tochter an sich, rannte los - und knallte gegen eine rosige Wand. Die Frauen zerrten und bissen, und schon war es geschehen: Seine Kinder waren weg.
Lars kroch zurück in den Garten, ließ sich in den Plastikstuhl zwischen Marco und Wolfgang sinken, drehte sich nach links und rechts, schlug die Hände auf den Kopf und fing zu weinen an. Und zu schimpfen. Undankbar seien sie doch! Der ganze Haufen. Die komplette Brut! Was hatte man nicht alles für sie getan? Was hatte er nicht erschaffen? Die höchsten Türme, die besten Dramen, die traurigsten Lieder. Alles nur für sie!
Ja, wollte Marco auch wissen, was sei bloß in sie gefahren? Wer würde auf Doppel X für sie leiden? Und wer sie zum Lachen bringen? Und hätten sie zuletzt nicht alles bekommen, was sie wollten?
Wolfgang beteiligte sich nicht an diesem Gespräch. Er musterte die Flut und schwieg. Ein Mal huschte ein Schatten über sein Gesicht, als habe er einen Geist gesehen. Ein anderes Mal schoss ein Ruck durch seinen Körper, sodass seine Hände in die Höhe zuckten und sein Mund aufklappte.
Bald verfielen auch Lars und Marco in Schweigen, und so saßen sie da, zu dritt auf ihren Gartenstühlen, während die Frauen an ihnen vorbeizogen und ihre Zukunft planten. Man konnte hören, wie sie Häuser bauten in diesen Gesprächen, wie sie Banner in die Höhe zogen und Gesetzte verabschiedeten. Ihre Stimmen klangen ganz wundervoll dabei. Manche Frauen flüsterten wie Brisen, andere summten wie Gitarren, und ab und zu schnurrte eine so zart, das es einem direkt in die Brust fuhr. Und alle zusammen, all diese Klänge, sie stiegen auf und formten Wirbel, die sich drehten und immer geschmeidiger wurden. Bald glaubte Lars, zu verschwinden, er fühlte sich klein, er hörte das erste und das letzte Lied. Aber es fing erst an. Die Frauen hakten sich ein, sahen in den rosigen Himmel und begannen zu singen:
O dieser Weg führt uns aus dem Tal
O dieser Weg … der Erde so fern
Lass uns gehen und lass uns weinen
Lass uns lachen und lass uns schreien
Dieser Weg führt uns aus dem Tal
O dieser Weg … der Erde so fern
Gestolpert sind wir, gefallen sind wir
auf Blut und Hass, auf Lust und Gier
Gestolpert wird, gefallen wird
Lass gehen, lass weinen
Lass uns lachen und lass uns schreien
O dieser Weg … der Erde so fern
Lars schloss die Augen, während das Lied der Frauen über ihn hinwegschwappte, und verlor das Bewusstsein. Als er aufwachte, strömte die Flut noch immer, aber es war kühler geworden. Das warme Prickeln auf den Wangen hatte nachgelassen, auch das Beben im Bauch.
Frauen in High-Heels kamen nun vorbei, Frauen mit Rändern unter den Augen und Narben am Bauch. Frauen mit aufgeplatzten Lippen und Krampfadern. Frauen mit brüchigem Haar und Ritzwunden.
Und dann aber, ganz zum Schluss: eine Gruppe Studentinnen.
„Das war's!“, sagte ihre Anführerin, während sie eine Sektflasche in den rosigen Himmel stieß. „Das war's!“
Ihre Kommilitoninnen jubelten ihr zu. Sie klatschen und lachten.
Aber irgendwas fehlte.
„Das waaaaaaaaaaaaaaar's“, brüllten sie zusammen. Mit verzerrtem Gesicht, mit gellender Stimme, mit Wut und Trotz. Sie schrien und schrien, bis sie nicht mehr schreien konnten.
„Das war's …“, sagte eine zum Schluss.
„Aber wir müssen doch irgendwas machen“, sagte Marco. „Halten wir sie auf, reisen wir ihnen nach!“
„Wenn du jetzt zum Wurmloch gehst, bringen sie dich um“, sagte Wolfgang. „Und wenn sie dich auf Doppel X entdecken, erst recht.“
„Ich werde sie finden“, sagte Marco mit Nachdruck. „Ich werde sie finden.“
„Viel Glück“, sagte Lars.
Lars blieb noch eine Weile neben Wolfgang sitzen. Sie sahen in den Himmel, der bald nur noch im Westen rosig war, und schwiegen. Als die ersten Sterne zum Vorschein kamen, wandte sich Lars an Wolfgang. „Ich sollte heim.“
„Eine schöne Nacht wünsch ich dir.“
Sie reichten sich die Hand.
Die Straßen waren leer. Lars ging durch die Dunkelheit und wurde von etwas Trockenem erfasst, etwas Staubartigem. Es war nicht das Grauen, das ihn packte, es war etwas Schlimmeres. Es war die Ahnung davon. Es waren nicht die leeren Häuser, die ihn umgaben, denn die Häuser sahen normal aus. In den meisten brannte sogar Licht. Es war das Wissen um die Leere hinter diesen Mauern. Es war das, was er beim Schauen von As Good As it Gets nicht an sich hatte ranlassen wollen. Und das, was ihm beim Hören von Tiny Dancer in den Sinn kam. Und das, was er bei der Beerdigung seines Vaters gespürt hatte und sogar bei Davids Geburt. Und bei Lisas Geburt. Und bei der Hochzeit. War da nicht immer ein Hauch von dieser Ahnung in der Luft gewesen? Sogar in seinen glücklichsten Momenten. Man schob diese dunkle Ahnung vor sich her, man hielt sie fern so gut es ging, man bekreuzigte sich in der Nacht vor einer Knie-OP, obwohl man nicht gläubig war, und man weinte Tränen des Glücks, als man zum ersten Mal David im Arm hielt. Man weinte, dass es einem von den Füßen haute, weil man sein Glück nicht fassen konnte, weil man Vater geworden war, aber was man nicht erzählte, was man nicht unbedingt weitergab: wie viel Erleichterung dabei war. Wie viel Spannung von einem abfiel. Wie nahe man dieser schrecklichen Ahnung im Geiste gewesen war, und wie es dann plötzlich schien, für einen kurzen, herrlichen Moment, als habe man ein Wunder erschaffen, als habe David die Kraft, obwohl er noch gar keine Kraft besaß, diese Ahnung für immer zum Teufel zu jagen.
Lars öffnete die Tür, betrat sein leeres Haus und setzte sich auf die Couch. Dann holte er ein Bier aus dem Kühlschrank und machte den Fernseher an. Sie sprachen über die rosige Flut. Auf allen Kanälen. Man warnte vor Kriegen. Man warnte vor Tumulten. Man warnte vor voreiligen Schlüssen. Man warnte vor Engpässen. Zwei Geistliche betonten die Sünde der Homosexualität, ein großer Boxer brach sein Kampf nach der dritten Runde ab, und ein kleiner Junge in blauen Pyjamas schrie im Heim nach seiner Mutter. Lars schaltete den Fernseher aus und ging nach draußen. Ein Kätzchen mit schwarzem Fell stand vor der Tür. Lars brachte es ins Haus und besorgte eine Schüssel Milch. Dann legte er sich ins Bett und schloss die Augen. Er träumte von einem Ort namens Doppel X, von einer Welt voller Frauen, von einer Oase des Friedens und der Liebe. David und Lisa spielten dort und waren glücklich. Lars schlief gut. Neben ihm schnurrte das Kätzchen.
Hinter der zweiten Absperrung fiel Marco einer Scharfschützin zum Opfer.
Wolfgang sah noch eine ganze Weile in den Himmel. Er saß da und wartete, bis der letzte rosige Strahl von der Dunkelheit verschluckt wurde. Dann stand er auf, ging in Küche und machte sich einen Whisky on the rocks. Schließlich setzte er sich in dem Sessel vor dem Fernseher und ließ das Eis im Glas klirren.
Wo war die Fernbedienung?
Vor gar nicht allzu langer Zeit, hatte es noch jemand gegeben, der ihn weckte, wenn er in seinem Sessel einschlief. Damit er nicht mit steifem Hals aufwachte. Oder mit einer Thrombose im Bein.
Er spürte die Augen schwer werden und trank einen großen Schluck. Der Whiskey brannte sich durch seine Kehle und wärmte seine Mitte, ein schönes Gefühl. Bald hüllte ihn ein dunkler Nebel ein, eine schwarze Brühe, ein gedankenloser Saft, in dem es nur noch Bilder und Gerüche gab, dampfende Töpfe und schäumende Badewannen, das Prasseln des Sommerregens und der Geruch des Schlamms. Wolf tauchte in einen heißen See, die schwarze Brühe ging zurück, und etwas Helles strömte auf ihn zu, etwas Rosiges. Er breitete die Arme aus, schwebte nach oben und Wärme erfüllte ihn. Ganz in der Nähe hörte er etwas schlagen, ein angenehmes, rosiges Pulsieren …
Um elf Uhr zwanzig schloss ein Blutgerinnsel Wolfgangs rechte Koronararterie. Als die Uhr zwölf schlug, war er tot.
Vom Weltraum aus betrachtet sah es eigentlich schön aus. Mit einem Mal sprossen graue Pilze aus dem Boden. Die beiden Erdsatelliten, die frau kurz vor dem Exodus in einer hochgeheimen Aktion „zur Überwachung des Mutterplaneten“ infiziert hatte, zeigten klare Bilder.
Offiziell hatte frau alle Raum- und Zeitfrequenzen zwischen der Erde und Doppel X verschlüsselt - und die entsprechenden Codes zerstört. Um wirklich mit der Erde abschließen zu können, so hatte frau räsoniert, sei der radikalste Bruch notwendig. Dennoch wusste frau: wenn's darum ging, Frauen aufzuspüren, konnte man sehr erfinderisch sein.
Und so hatte frau ein paar Vorkehrungen getroffen, um die Männer doch noch im Auge behalten zu können.
Zusammen blickten die Führerinnen auf die große Leinwand in der Xentrale. Zwei Wochen nach dem Exodus von der Erde war ein Atomkrieg ausgebrochen. Auf den neuesten Satellitenbildern sah die Erde wie ein grauer Gasplanet aus, keine Spur mehr eines Ozeans oder eines Bergs oder überhaupt irgendwas. Die Atmosphäre war voller Staub.
Die Führerinnen sahen sich in die Augen. Sie nickten sich zu. Sie strafften sich.
Draußen wartete ihre Welt.