Die Rose
So oft ich die Türe zu meinem kleinen Badezimmerschränkchen öffnete, nein, schon bevor ich noch den messingbeschlagenen Griff in der Hand hielt, fühlte ich dieses eigenartige Kribbeln im Bauch. Es war kein angenehmes Kribbeln, es war mehr die pure Überwindung. Manchmal brachte ich es nicht einmal fertig, diese Handbewegung auszuführen. Es war nur eine kleine Handbewegung, nur das Öffnen eines Schrankes. Doch es wollte mir nicht gelingen.
Nur selten, dann nämlich, wenn ich ganz gedankenlos den Griff anfasste und das Türchen aufschlug, konnte ich es sehen. Doch noch bevor ich es mit meinen Augen wahrnahm, fühlte ich es, stieg mir in schmerzhafter Erinnerung der Duft entgegen und ich musste vor dem geöffneten Schrank zurückweichen. Meistens schloss ich meine Augen, bevor sie den schemenhaften Umriss als das erkannten, was das Herz in meiner Brust für einen Augenblick still stehen ließ. Und wenn ich dann den Duft ganz in mir aufgenommen hatte, wenn ich das Gefühl hatte, er würde langsam Gestalt annehmen und sich an mich schmiegen, dann spürte ich wieder dieses Kribbeln, diese Sehnsucht nach meiner Tochter. Dann fühle ich mich ihr so nah, näher, als ich ihr jemals wieder sein kann. Dieser Duft, den sie gemeinsam mit ihrer Lebensfreude, ihrem Wesen in meiner Wohnung versprüht hatte, breitete sich ganz in mir aus, weckte die Erinnerungen, und doch: Er schlug mir entgegen wie ein Fausthieb.
Es war an meinem Geburtstag, als ich wieder einmal gedankenlos das Kästchen öffnete. Der Duft, Erinnerungen, der Fausthieb - alles zur selben Zeit. Nur war es stärker als jemals zuvor, so als wollte er mir sagen: Nimm endlich Abschied! Versuche, dich davon zu lösen!
Tränen rannen über mein Gesicht, als ich nach dem Fläschchen griff, das einzige, das mir von meiner Tochter geblieben war. Vorsichtig nahm ich es an mich, streichelte zärtlich darüber, drückte es an mein Herz und schloss die Augen. Tausend quälende Fragen brannten in meiner Brust und Tränen in meinen Augen. Meine Finger berührten das kristallklare, tropfenförmige Glas, den Verschluss in Form einer Rosenblüte und blieben dann darauf ruhen. Die Rosenblüte! Sie hatte Rosen immer unheimlich geliebt.
Sollte ich es öffnen? Ich hatte es noch nie geöffnet, seit ihrem Tod. Nur eine Nase voll davon nehmen, sie ganz intensiv spüren und dann gleich wieder verschließen. Ich könnte es wagen...
Vorsichtig versuchte ich, den Verschluss zu lösen.
Alles ging so rasch, ich wusste nicht wie es passiert war. Es blieb mir nur mehr mit vor Schreck geweiteten Augen in die Waschmuschel zu starren und all den köstlichen Duft in den Abfluss rinnen zu sehen. Nichts mehr war zu retten. Zerbrochenes Glas, überall lagen Splitter davon. Nie mehr wieder würde ich sie riechen, mein Kind, meine Tochter!
In meiner großen Wut, meinem Entsetzen über die eigene Dummheit, merkte ich damals nicht, wie intensiv mich ein letztes Mal ihr Duft umgab, wie sehr sie mich einhüllte, an sich drückte, mich liebkoste. Und ich sah auch nicht, was sie mir zum Geburtstag schenkte. Erst, als ich ausgebrannt war vom Weinen, als mein Schmerz mich irgend wann wieder klar denken ließ, blickte ich auf meine Hand, die zärtlich den Verschluss des Fläschchens hütete - die Rose.
Heute weiß ich, dass mir mein Kind ein großartiges Geschenk gemacht hat: Mit den tausend Scherben meiner Erinnerung warf ich noch am selben Tag meinen Zorn und meine Trauer fort. Es ist nicht so, dass es mir keinen Kummer bereitet, wenn ich an sie denke, an ihre Drogenexzesse, an die Veränderung, die mit ihr vorging, aber es ist kein schmerzhafter Kummer mehr. Und ich suche auch nicht mehr nach dem Fehler, den ich in meiner Erziehung vielleicht irgendwann einmal begangen habe. Heute habe ich sie in Erinnerung, wie sie wirklich war.