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Die richtigen Worte
Ich holte auf den Zehenspitzen stehend eine Flasche billigen Wodka vom Regal, da stand sie wie aus dem Nichts vor mir. Sie murmelte irgendwas von mitkommen wollen, hatte die Arme vor der Brust verschränkt, stand da wie ein trotziges Kind. Ich sagte nichts, sah nicht mal richtig hin zu ihr, deutete mit dem Kinn in Richtung der Kassa. Sie trottete den ganzen Weg hinter mir her. Ich blickte mich nicht um, sprach sie nicht an. Es war egal. Ich war geläutert, hatte schon anderes erlebt. Es kam immer, wie es kommen musste.
Mein Zimmer hatte ich in einem Mietshaus, dessen Bausubstanz so heruntergekommen war wie die Psyche seiner Bewohner. Sie hockte sich in einen der Korbsessel und holte ein Gummiband hervor, mit dem sie ihre Haare nach hinten band. Ich holte zwei Gläser aus der Abwäsche, spülte sie aus. Dann goss ich den Wodka ein, reichte ihr ein Glas.
Sie musste schön gewesen sein, früher, in einer anderen Zeit. Sie hatte schlanke Finger und ich dachte an ein Piano.
Sie sagte ,Danke, dass du mich mitgenommen hast.’
Sie hatte ihr Glas geleert, ich schenkte nach, blieb jedoch stehen. Ich wusste nicht warum. Ich wusste auch nicht, was ich reden sollte. Ich war scheu geworden, konnte mit Worten nichts mehr anfangen. Ich dachte auch, dass ich alles gesagt hatte, früher. Und ich doch nichts hatte ändern können, nur alles schlimmer gemacht hatte dadurch und nichts mehr aufzuhalten war. Ein falsches Wort zum richtigen Zeitpunkt ist wie Mord. Ich hatte unentwegt gemordet, weil ich geliebt hatte. Danach begann ich, nach den richtigen Worten zu suchen. Von denen fand ich nur wenige und damit wurde es stiller rundum.
Ich hatte lange keine Frau hier oben. Die Zeiten, in denen es ein Leichtes für mich war, damit umgehen zu können, waren vorbei. Die Balanceakte waren vorbei. Die Zeit mit Anna war vorbei.
Sie umklammerte das Glas und ich starrte aus dem Fenster, sah dem Taubenschwarm zu, der gegen den Wind ankämpfte, immer wieder von diesem zurückgeworfen wurde. Wie viele Jahre lebte ich nun schon hier? Ich hatte es vergessen. Es war auch nicht wichtig. Es ist alles lange her. Ich kann mich nur schwer erinnern. Sie war damals davongerannt, mit den Kindern, hatte mit ihnen mein Herz mitgenommen. Ich hatte alles versucht, ihren Aufbruch zu verhindern, scheiterte jedoch kläglich daran, die richtigen Worte zu finden. Worte, die sie hätten bewegen sollen zu bleiben. Von Taten spreche ich nicht. Taten, die nicht vorhandenen Worten folgen sollen, haben keine Chance. Danach war nichts mehr so wie früher.
,Sagst du mir deinen Namen?’
Ihre Stimme klang hohl. So, als ob nichts gesprochen worden wäre. Ein Echo, das im Vakuum des Raumes implodiert. Etwas vibrierte trotzdem. Ich sah zu ihr. Hatte sie etwas gesagt? Ich kam mir unbeholfen vor, konnte mit der Gegenwart anderer schon lange nicht mehr umgehen. Sie hielt mir ihr leeres Glas hin. Die Eile, mit der sie trank, war unglaublich.
Wie? Wie war mein Name? Ich dachte darüber nach, musste sie also doch reden gehört haben.
Die Länge ihrer Haare war wie die von Annas Haar. Anna hatte pechschwarzes Haar und konnte damit jeden Mann kleinkriegen. Sie hatte ihr Haar täglich gepflegt. Sie wusste Bescheid.
Die Scheiben des Fensters beschlugen an der Innenseite. Ich heizte den Raum nicht, da ich die Kälte kaum spürte. Ich schlief so, wie ich aus den Bars kam. Es machte mir nichts aus. Ich hatte das schöne Leben schon gehabt. Ich zwang mich, diese Frau, die dort saß, anzusehen.
Ja, sie musste schön gewesen sein. Gewesen sein? Sie hatte ein Grübchen am Kinn, einen leichten Flaum auf beiden Wangen und ihre überschlagenen Beine sahen gut aus. Das, was ich davon sah, meine ich. Ich spürte die Wärme, die der Wodka in meinem Magen verursachte. Eine andere Art von Wärme gesellte sich dazu. Ein Gefühl, oder eine Erinnerung an ein Gefühl. Die Erinnerung an die Wärme eines Körpers und das Gefühl, welches ich dabei erlebt hatte.
,Hans’.
Hatte ich das gesprochen? Tatsächlich ich? Ich hatte mich tatsächlich an meinen Namen erinnert. Wann hatte mich jemand das letzte Mal danach gefragt? Draußen drosch der Wind die Tauben von den Dächern. Begann da etwas? Das nächste Kapitel, eine Fortsetzung? Ich zitterte, suchte einen Punkt an der Wand, fand dann ihre Augen. Sie stand jetzt vor mir, mit hängenden Armen, sah zu mir auf, suchte meinen Blick. Ich gab ihn ihr. Dann kam die Erinnerung. Ich gab ihr meine Finger, berührte damit ihre Stirn, den Nasenrücken, zeichnete ihre Lippen nach, fing ihre Tränen auf, fuhr jede ihrer Falten nach, erkannte fast alle wieder, erforschte die neuen, die dazugekommen waren, erkannte endlich, wer sie war.