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Die Rettung der Prinzessin
Der Schmerz stand ihr gut, dachte sie. Sie betrachtete sich in dem schmalen, rechteckigen Spiegel. Der dünne, schwarze Gürtel betonte ihre Taille. Auch ihr Gesicht wirkte attraktiver, fand sie. Ihre grünen Augen stachen nun geradezu aus dem kantig gewordenen Gesicht hervor. Sie nahm noch einen Schluck Rotwein aus dem Glas, das neben ihr auf dem Boden stand. Doch die Angst rieb wie Sandpapier gegen ihren Magen und ihr wurde schlecht. Ein ohrenbetäubendes Gefühl, für das sie Linderung brauchte. Sie war schon seit Wochen auf der Suche nach einem Heilmittel. Obwohl ein Teil von ihr wusste, dass sie es wahrscheinlich nie finden würde.
Schnell packte sie ihre hohen Schuhe, zog ihre Jacke an und verließ die Wohnung. Die Straßen gehörten um diese Zeit den Paaren. Sie hielten sich an der Hand und blieben von Zeit zu Zeit stehen, um sich zu küssen. Sie musste immer wieder ausweichen, um nicht mit ihnen zusammenzustoßen. Ein Baby lächelte sie aus einem Kinderwagen grausam liebenswert an. Sie beschleunigte ihre Schritte, ihr Atem dampfte kurz in die Nacht und verschwand schnell wieder. „Wenn ich atme und keiner sieht es, lebe ich dann überhaupt?“, dachte sie. Ihre Kehle zog sich schmerzhaft zusammen.
Dann hörte sie das Summen. Erst leise, dann immer lauter. Wie ein Bienenschwarm. Sie sah die rosa Leuchtbuchstaben, die sich nach und nach vom grauen Beton abhoben. Sie formten zwei Worte: Cosimar Bar. Endlich. Sie streckte den Arm aus und griff hastig nach der Tür. Sofort überschwemmte sie eine Mischung aus Stimmengewirr und abgestandener Luft. Die Welle erstickte ihre Angst. Sie tauchte ein in diese Welt, glitt sicher durch die vertrauten Wogen des Partylebens.
„Hi, wie geht es dir?“ Monika, erinnerte sie sich. Sie hatten sich bei einer Party vergangene Woche kennengelernt. Sie tauschten ein paar Worte und ließen dabei die Blicke zu den anderen Gästen schweifen. Es war wichtig, immer beschäftigt zu wirken.
“Hast du schon jemand interessantes hier gesehen?”, fragte sie.
Monika schüttelte den Kopf: “Nein, leider nicht, du?“ Sie standen eine Weile schweigend da. Dann platzte es aus Monika heraus: „Oliver ist hier.” Sie folgte Monikas Blick und sah einen schlanken, mittelgroßen Mann, der sich gerade mit einer hübschen Frau unterhielt. Nach einer Zeit schien er das Interesse zu verlieren und ließ die Frau stehen. So wie er Monika hatte stehen lassen, dachte sie.
Der DJ spielte “Sweet Dreams” von den Eurythmics. Sie wippte im Takt und trank ihre vierte Weinschorle. Da trat er durch die Tür. Groß, dunkel, übermächtig. Stahl ihr den Atem und die Hoffnung. Er war der lebende Beweis, dass sie nicht gut genug war. Dass sich ihr innigster Wunsch nicht erfüllen würde. Bilder galoppierten wild durch ihren Kopf. Betrug, Demütigung, Trauer, Wut. Der Schmerz bäumte sich plötzlich auf, wurde zur unbezähmbaren Energie. Sie hatte sich selten so lebendig gefühlt wie jetzt. Ihre Seele ächzte nach Linderung ihrer Schmerzen. Sie bewegte sich im Takt der Musik, ihre Arme suchten nach anderen Armen. In dem Meer an Körpern, Lichtern und Musik blickte sie plötzlich in Olivers Augen. Monikas Oliver. Er war nett zu ihr. Flirtete. Sie lachte, fühlte wieder etwas Hoffnung in sich aufsteigen.
Wäre er es, das Heilmittel? Sie kamen sich näher. Eng. Sehr eng. Sein Körper war Medizin. Sie sog seinen Geruch ein, strich mit ihren Händen über seine Schultern. Gleich würde er sie erlösen. Mit seinem Kuss. Aber nichts passierte. Als er sie losließ, fiel sie ins Nichts. Erwachte im freien Fall. Die Bar war leer geworden, die Bienen ausgeflogen. Auch Monika und der dunkle Mann waren gegangen.
Da hörte sie neben sich eine Stimme, süß und leicht wie Zuckerwatte: “Tanzen wir?”, fragte sie. Die Stimme gehörte einer wunderschönen blonden Prinzessin. Wie selbstverständlich legte sie ihre Arme um sie. Ihre Schultern waren klein und perfekt. Sie roch süß und rein. Das Gefühl war wundervoll fremd. Und als sie tanzten, verschwanden die anderen Menschen, wurden zu Schatten. Irgendwann war das Lied verstummt. Oliver war zurückgekommen. Er nahm ihre Hand. Er war die Schwerkraft. Und die Prinzessin verschwand. Gleich würde er sie küssen. Aus ihrem Augenwinkel sah sie etwas aufblitzen. Golden und warm. Die Prinzessin stand drüben an der Bar. Sie spürte, wie etwas ihr den Boden unter den Füßen wegzog. Die Zeit dehnte sich. Und zerriss. Sie stand neben der Prinzessin. Berührte ihre blonden Locken und ihr herzförmiges Gesicht. “Du bist so schön”, sagte sie. Dann küsste sie die Prinzessin wach.