Mitglied
- Beitritt
- 05.07.2020
- Beiträge
- 289
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
- Anmerkungen zum Text
Hallo, es handelt sich bei meiner Geschichte sicherlich nicht um eine Horrorgeschichte im herkömmlichen Sinne. Trotzdem hat sie Züge davon, wie ich finde. Daher habe ich den Tag Horror ebenfalls angepinnt. Für alle, die eine klassische Horrorgeschichte erwarten, wollte ich dieses Worte voranstellen um Enttäuschungen vorzubeugen. Liebe Grüße, Habentus
Die Reformatoren
Lothar Kroneneberg blies den Rauch seiner Zigarette aus, während er erregt die jüngsten Ereignisse mit Herrn Olsen diskutierte.
„Herr Krietscher ist nicht mehr da. Und Herr Krietscher ist an und für sich immer da!“ Er lehnte sich zurück und ließ diese Wahrheit einige Augenblicke wirken, während er mit verschränkten Armen Herrn Olsen betrachtete.
„Das ist ja auch der eigentliche Punkt, auf den ich hinauswill“, fuhr er fort.
„Herr Krietscher würde den Teufel tun und irgendwohin verreisen. Du weißt ja, was er vom Ausland hält. Und es würde mich doch wirklich sehr wundern, sollte sich nach all den Jahren plötzlich herausstellen, dass ausgerechnet dieser knarzige Eigenbrötler Kontakt zu einem versprengten Haufen weiterer Krietschers in der Stadt halten und sich dazu entschlossen haben sollte, seiner lieben Verwandtschaft einen Besuch abzustatten. Nein, das halte ich doch für weit hergeholt. Womit wir wieder bei meiner eingangs angedeuteten These wären, dass hier womöglich ein gewisser Ärger auf uns zukommt. Wenn mittlerweile schon ein derart unverwüstlicher Charakter wie Herr Krietscher über Nacht und ohne den geringsten Mucks verschwindet? Tja, dann haben wir hier wohl verdammt nochmal ein Problem!“
Lothar schloss seine Ausführungen und Schweigen setzte ein, denn Herr Olsen sparte sich jede Erwiderung.
Trotz der Brisanz des Gesagten war die überschaubare Reaktion Herrn Olsens keinesfalls auf Unhöflichkeit oder gar Desinteresse zurückzuführen. Im Gegenteil, in den allermeisten Situationen verhielt sich der mittlerweile elfjährige und in Würde ergraute irische Wolfshund ähnlich höflich zurückhaltend. Sein Beitrag in den ausgedehnten Monologen Lothar Kronenbergs beschränkte sich in der Regel darauf, geduldig zuzuhören und den passenden Gesichtsausdruck beizusteuern. Das wiederum gelang ihm in einer wirklich beeindruckenden Art und Weise. Es wird wohl das Geheimnis dieses Tieres bleiben, wie es das bewerkstelligte. Lothar Kronenberg hatte seinen Hund jedenfalls schon länger heimlich im Verdacht, deutlich mehr zu verstehen, als für ein Tier eigentlich angemessen gewesen wäre. Aber die Lösung dieses Mysteriums war in Anbetracht der jüngsten dramatischen Ereignisse, die sich in den letzten Tagen auf Etage zwölf des verfallenden Wohnblocks für Senioren abgespielt hatten, eindeutig hinten anzustellen.
Denn Lothar sah sich seit einigen Tagen mit dem gewiss nicht alltäglichen Problem konfrontiert, dass diverse Nachbarn verschwunden waren. Einer nach dem anderen und im Abstand nur weniger Tage. Zuletzt besagter Herr Krietscher, ehemals unangefochtener Etagenwart, sehr eigenwillig in Fragen zwischenmenschlicher Natur und trotz seines bereits stark fortgeschrittenen Alters jemand, den man gemeinhin als einen harten Kanten bezeichnen würde. Heute Morgen war ausgerechnet dieser Kanten nicht mehr da gewesen und stellte Lothar vor ein Rätsel, auf das er gerne verzichtet hätte.
Seit sage und schreibe fünfzehn Jahren hatte Herr Krietscher es tatsächlich nur ein einziges Mal verpasst, seine allmorgendliche Flurkontrolle mit einem krächzenden Schrei anzukündigen und im Anschluss daran mehr oder weniger erfolgreich durchzuführen. Mehr oder weniger erfolgreich deswegen, weil sich im Prinzip alle Bewohner von Etage zwölf seit Jahren einer Unterstützung verweigerten. Dieses Detail hielt Herrn Krietscher aber nicht davon ab, mit soldatischem Ernst an seiner Routine festzuhalten. Morgen für Morgen humpelte er über den Flur und wartete vergeblich vor verschlossenen Türen, um seine etwas nebulöse Sicherheitskontrolle an den Mann bringen zu wollen.
Ein einziges Mal war er gezwungen gewesen, mit seiner Routine zu brechen. Allerdings waren hier besondere Umstände im Spiel, und den meisten derjenigen, die damals das lautstarke Spektakel auf dem Parkplatz beobachten konnten, war relativ schnell klar gewesen, dass Herr Krietscher vermutlich die kommende Flurkontrolle würde überspringen müssen.
Die Bewertung darüber, wer die eigentliche Schuld an der Eskalation trug, Herr Krietscher oder der völlig verdatterte Radfahrer ging im Nachhinein natürlich auseinander. Die herbeigerufene Polizeistreife merkte dennoch an, dass es nun einmal grundsätzlich nicht in Ordnung ist, einem Fahrrad einen Krückstock zwischen die Speichen zu stecken. Auch wenn das Fahren auf dem Gehweg selbstverständlich untersagt war. Nachdem Herr Krietscher den Anwesenden eindrücklich mitgeteilt hatte, was er von der ganzen Sache hielt, griff die Staatsmacht schließlich beherzt ein.
Herr Krietscher verbrachte die Nacht auf der Wache und kehrte am nächsten Morgen in dem Wissen zurück, sich mutig einer weiteren Schlacht im Kampf gegen die um sich greifende Unordnung in der Welt gestellt zu haben.
Lothar hatte vor einigen Stunden verwundert feststellen müssen, dass der kehlige Laut seines Nachbarn am heutigen Morgen aus unerfindlichen Gründen ausgeblieben war. Nach einigen Minuten ungewohnter Stille nahm er sich schließlich ein Herz, schlich zur Tür und riskierte einen Blick auf den Flur. Nichts. Kein Krietscher zu sehen. Die einzige Regung, die er wahrnehmen konnte, gehörte zu Frau Maier, die diese unerwartet frühe Wendung des Tages offensichtlich ebenfalls nur schwer einordnen konnte und verwirrt auf dem Flur herumstakste. Mit einem dumpfen Erkennen in den milchig-weißen Augen stolperte sie in seine Richtung. Lothar schloss die Tür und erstickte die sich anbahnende Konversation brutal im Keim. Ein Gespräch mit Frau Maier erforderte ja immer einer gewissen nervlichen Vorbereitung, aber nachdem Herr Krietschers Abwesenheit schon so früh am Morgen seinen Tagesablauf derart durcheinandergebracht hatte? Ausgeschlossen, dazu fühlte er sich momentan einfach nicht in der Lage. Zunächst galt es erst einmal herauszufinden, was das Verschwinden des Nachbarn zu bedeuten hatte.
Herr Olsen tapste in die Küche und begann lautstark Wasser aus einer Schale zu schlabbern, während Lothar gedankenverloren eine Zigarette paffte und mit dem Gürtel seines Bademantels herumspielte. Es half ja nichts. Er würde wohl mal an der Tür von Herrn Krietscher klingeln müssen. Und sei es nur, um sich die wohlverdiente Portion Verwünschungen abzuholen. Vermutlich steckte hinter der heutigen Abwesenheit des alten Mannes irgendein ausgeklügelter Plan, den wohl nur er selbst in seiner Gänze erfassen konnte. Lothar nahm einen tiefen Zug, als sein Blick auf die Post fiel. Neben einigen uninteressanten Werbesendungen stach ein gelber Brief der Anstalt für gesamtgesellschaftliche Fragen & Antworten (AfgFA) heraus. Was das wohl schon wieder zu bedeuten hatte? Nebensächlich, zunächst war mal Herr Krietscher an der Reihe.
Schlecht gelaunt schlurfte Lothar keine zwei Minuten später in Pantoffeln, Bademantel und braunem Cordhut über den Gang, bis er vor Wohnungstür Nummer vier zum Stehen kam. Ein geschmackloses Tonschild inklusive aufgemalter Palme verriet dem unbedarften Besucher, dass er sich vor dem Casa de Krietscher befand. Lothar schüttelte kaum merklich den Kopf, wappnete sich und klopfte an. Keine Reaktion.
Wenige Augenblicke später schloss er seine Wohnungstür, setzte sich gegenüber dem mäßig interessiert wirkenden Herr Olsen auf das Sofa und dachte nach. Es deutete sich hier womöglich ein ungesunder Gesamtzusammenhang an. Denn da gab´s ja auch noch seinen Nachbarn, Herrn Peters. Beziehungsweise eventuell auch nicht mehr. Aber der Reihe nach.
Vor einigen Wochen war Lothar dazu übergegangen, wenn er von seinen Ausflügen aus der Stadt heimkehrte, grundsätzlich an der Wohnungstür von Herrn Peters zu klingeln. Anschließend machte er sich gemächlichen Schrittes auf den Weg zu seiner eigenen Wohnung. Zeitlich war die ganze Sache perfekt abgestimmt. Herr Peters brauchte auf seinen wackeligen Beinen für den Weg vom Wohnzimmer zur Haustür exakt so lange wie Lothar zu seiner Wohnung sowie die Fahrstuhltür, um sich mit einem leisen pling wieder zu schließen. Wenn dann Peters mit zusammengekniffenen Augen wie ein Scharfschütze durch seine riesigen Brillengläser auf den Flur linste, lehnte sich Lothar ebenfalls aus seiner Tür und signalisierte mit Augenrollen, leichtem Schulterzucken und einem vagen Nicken in Richtung Fahrstuhl, Waffenbruderschaft. Lothar war nicht übermäßig stolz darauf, seinem Nachbarn seit Wochen den immer gleichen infantilen Klingelstreich zu spielen. Aber es rundete seine Tage nun einmal irgendwie ab.
Daher konnte er auch eine leichte Enttäuschung nicht verleugnen, als vor einigen Tagen eine Reaktion seitens Herrn Peters überraschenderweise ausgeblieben war. Lothar hatte seinem Nachbarn innerlich dazu gratuliert, endlich dahinter gekommen zu sein, dass der klingelnde Unbekannte unlautere Absichten hegte und sich der Weg aus dem Sessel hin zur Wohnungstür im Grunde genommen gar nicht lohnte.
Diese offensichtlich voreilige Beglückwünschung galt es in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen aber nun eindeutig infrage zu stellen. Lothar griff nach Block und Stift und schrieb:
Herr Peters, Wohnung eins: verschwunden?
Herr Krietscher (!), Wohnung vier: verschwunden?
Aber, und hier wurde es zunehmend verzwickt, damit war´s ja noch nicht getan. Denn vor einigen Tagen hatte er ebenfalls vergeblich versucht, bei Frau Oesterle zu klingeln, um ein wenig Zucker zu borgen. Hach, Frau Oesterle. Ehrlich gesagt hatte er im Laufe der letzten Monate eine gewisse Schwärmerei für diese gerade einmal 68-jährige Schönheit entwickelt. Allerdings sah es momentan nicht danach aus, als würde sich die sanfte Romanze mit Frau Oesterle in absehbarer Zeit fortsetzen. Denn seine letzten Versuche einer Kontaktaufnahme waren allesamt von nur bescheidenem Erfolg gekrönt gewesen. Frau Oesterle hatte auf sein zaghaftes Klopfen an ihrer Tür nicht mehr reagiert, was Lothar jedes Mal einen sanften Stich in der Herzgegend versetzt hatte, ihm jetzt aber im Angesicht der veränderten Situation eindeutig zu denken gab. Er ergänzte stirnrunzelnd seine Liste.
Herr Peters, Wohnung eins: Verschwunden?
Herr Krietscher (!), Wohnung vier: Verschwunden?
Frau Oesterle (!!), Wohnung drei: Verschwunden?
Ehepaar Wolckzek, Wohnung zwei: ?
Das Ehepaar Wolckzek. Ja, wo er jetzt so nachdachte, hatte er die beiden wohl auch schon ein paar Tage nicht mehr gesehen.
Drei Minuten später vervollständigte ein sichtlich erblichener Lothar Kronenberg seine Liste dahingehend, dass er hinter Ehepaar Wolckzek, Wohnung zwei: mit zittrigen Fingern ein dickes Verschwunden!, setzte. Nicht nur war das sympathische, aber Zeit ihrer gemeinsamen Nachbarschaft in sprachlicher Hinsicht weitestgehend rätselhaft gebliebene Ehepaar, offensichtlich ebenfalls Teil der jüngsten Entwicklung. Zu allem Überfluss war deren Wohnungstür nicht verschlossen gewesen, und Lothar hatte einen vorsichtigen Blick riskiert. Die Unordnung, die er vorfand, deutete entweder auf eine laxe Haushaltsführung hin oder aber, und an dieser Stelle musste Lothar schlucken, auf eine gewaltsame Auseinandersetzung. Schlimmer noch, wenn er seine Liste richtig interpretierte, setzte sich das rätselhafte Zusammenschrumpfen seiner Nachbarschaft offensichtlich der Reihe nach fort. Angefangen bei Herrn Peters in Wohnung Nummer eins bis schließlich zu Herrn Krietscher in Nummer vier. Und da er selbst sich in Wohnung Nummer sechs befand, verblieb zwischen ihm und jener unheimlichen Entwicklung wohl einzig Frau Maier in der Nummer fünf.
Unter den schweren Klängen Mozarts Lacrimosa besprachen Lothar und Herr Olsen ihr weiteres Vorgehen. Die erste Phase ihres Plans sah vor, bis auf Weiteres des Nachts vorsorglich die Wohnungstür zu verbarrikadieren. Und zwar mit einem Sofa und dem schweren Kühlschrank.
Phase zwei bestand darin, abzuwarten, was mit Frau Maier geschehen würde. Ja, Lothar war sich bewusst, dass es in moralischer Hinsicht durchaus diskutabel war, Frau Maier als eine Art finalen Testballon zu missbrauchen. Andererseits war es nahezu unmöglich, sie vorzuwarnen, indem er ihr seine gewagten Mutmaßungen mitteilte. Die Gute hatte bereits seit einiger Zeit unwiderruflich den Weg der altersbedingten Demenz beschritten. Ihr jetzt mit einer abstrusen Theorie über eine unheimliche Flurmacht zu kommen, die sich angeblich Wohnung für Wohnung vorarbeitete und die Bewohner der Etage verschwinden ließ, würde den recht eingeschränkten Horizont der Armen überschreiten.
Phase drei würde sofort dann in Kraft treten, sollte Frau Maier tatsächlich dasselbe Schicksal wie die anderen ereilen und bis dahin kein plausibler Grund auftreten, der die ganze Sache irgendwie nachvollziehbar machte. Lothars Blick ging zum alten Putzschrank. Wenn alle Stricke rissen, hatte er ja immer noch sein altes Gewehr.
Nicht zuletzt das Ticken der Wanduhr verhinderte, dass Lothar wie geplant den Tag mit bloßem Abwarten verbringen konnten. Er kam nicht recht zur Ruhe, und während er den Zeiger der Uhr an der Zimmerwand betrachtete, zermarterte er sich das Hirn. Denn irgendwas war anders als sonst. Mal von der dezimierten Nachbarschaft abgesehen. Er kam nur einfach nicht darauf was. Mit angestrengtem Blick zündete er sich eine weitere Zigarette an und betrachtete den Sekundenzeiger der Uhr. Tick. Tick. Tick. Dann endlich fiel der Groschen. Er konnte das Ticken des Sekundenzeigers hören. Was bedeutete, dass die notwendige Ruhe dafür herrschte. Was wiederum bedeutete, dass der beschwerdenresistente Bewohner über ihm nicht das tat, was er an jedem anderen Tag zu dieser Tageszeit zu tun pflegte. Sich selbst mit einer unglaublichen Lautstärke am fragwürdigen Medienangebot zu erfreuen. Ergo hatte der Betreffende entweder urplötzlich das Interesse daran verloren, oder aber, und das reihte sich wiederum in eine gewisse Ereigniskette des Tages ein, er befand sich nicht mehr in seiner Wohnung. Ein vorsichtiger Blick in Richtung Herrn Olsen bestätigte Lothar darin, dass es wohl nicht zu vermeiden war, einmal nachzusehen.
Bereits im Fahrstuhl nach oben machten sich bei Lothar erste Zweifel bemerkbar. Als sich die Fahrstuhltür zu Etage 13 dann langsam öffnete, entwickelten sich diese Zweifel zu einer ganz grundsätzlichen Infragestellung all dessen, was er da eigentlich tat. Anders als erwartet empfing ihn beim Aussteigen nämlich kein handelsüblicher Flur. Es war, als beträte Lothar ein Schlachtfeld. Vorsichtig schlich er über den schummrigen Gang. Die meisten der Wohnungen standen offen, und es war offensichtlich, dass die Bewohner nicht einfach verreist waren. Manche der Türen waren zersplittert, überall lagen Scherben auf dem Boden, Löcher, Kratzspuren und teilweise erschreckend große, rötlich-braune Flecken und Spritzer an den Wänden deuteten auf geradezu haarsträubende Ereignisse hin. Und er stand mittendrin. Es wurde eindeutig Zeit für das Gewehr. Langsam drehte sich Lothar um sich auf den Weg in Richtung Aufzug zu machen. Dabei strauchelte er und ein Blick genügte, um ihm den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Auf dem Boden lag die abgerissene Hand eines Menschen.
Dass Frau Maier bei seiner Rückkehr gerade dabei war, von einem riesenhaften, wolfsähnlichen Wesen ausgeschlürft zu werden, war in Anbetracht seiner Erlebnisse in Etage 13 beinahe schon nicht mehr der Rede wert. Panisch sprintete Lothar in seine Wohnung. Nur unwesentlich später wanderte der Kühlschrank mit einem furchtbaren Quietschen in Richtung Tür.
Vermutlich um dem anklopfenden Wahnsinn zu trotzen, unternahm Lothar einen vergeblichen Versuch, so zu tun, als ob die Dinge gar nicht so schlimm stünden. Normalität vortäuschend begann er mit zittrigen Händen damit, seine Post zu sortieren. Dabei fiel ihm erneut der gelbe Brief der Anstalt für gesamtgesellschaftliche Fragen & Antworten in die Hände. Mit einem ohnehin schon unguten Gefühl begann er zu lesen.
Sehr geehrter Herr Kronenberg,
unsere Zeiten sind geprägt von ökonomisch, ökologisch und gesundheitspolitisch sehr unruhigen Entwicklungen. Daher hat unsere Regierung beschlossen, die Anstalt für gesamtgesellschaftliche Fragen & Antworten zu etablieren. Wir sind angetreten, uns abseits der ausgetretenen Pfade routinierter Politik zu bewegen. Unser Motto ist Innovation, und wir streben nach kreativen Lösungen für die Probleme unserer Zeit. Nach der erfolgreichen Vollprivatisierung unserer Schulen und Universitäten, unserem, an den Militärdienst gekoppeltem Staatsbürgerschaftsmodell, das dabei hilft, die vielfachen militärischen Engagements des Landes weiterhin erfolgreich ausfüllen zu können, sowie tiefgreifenden Flexibilisierungen auf dem Arbeitsmarkt, möchten wir nun unser überlastetes Rentensystem entschlacken.
Nichts läge uns ferner, als dass alte Menschen in finanziell prekären Verhältnissen ihren wohlverdienten Lebensabend begehen müssten. Wir möchten deren Würde unter keinen Umständen zur Disposition stellen.
Um derlei Entwicklungen vorzubeugen, wird ein Teil von ihnen rückwirkend ab dem 2. März in den langfristigen Ruhestand versetzt. Wir folgen dabei einem fairen (Alters-) Schlüssel, der aus datenschutzrechtlichen Gründen intransparent bleiben muss.
Helfen Sie als altgedienter Teil der Gesellschaft, welcher maßgeblich zu unserem heutigen Wohlstand beigetragen hat, noch ein letztes Mal mit diesen auch zukünftig zu erhalten. In den kommenden Tagen werden wir mit Ihrer gestaffelten Abholung beginnen und danken Ihnen bereits jetzt für Ihr Verständnis und die Unterstützung unserer Maßnahmen.
Aufgrund des hohen organisatorischen und zeitlichen Aufwands werden wir bei der Abholung und Verwahrung einen großen Teil der Tätigkeiten an einen externen Dienstleister outsourcen. Da Ihr Wohlergehen bei uns aber stets die oberste Priorität hat, an dieser Stelle der entschiedene Hinweis mit den beigefügten Evaluierungsbögen nicht zu zögern, sollte etwas grundsätzlich nicht in Ihrem ...
An dieser Stelle hörte Lothar auf zu lesen und zerknüllte den Brief. Zugegebenermaßen passte diese Entwicklung zum bisherigen Verlauf seines Tages.
Wenn es doch wenigstens so wäre, dass ein monströser Schrecken aus kaum nachvollziehbaren Gründen wehrlose alte Menschen meucheln würde. Dann hätte er ja eventuell auf irgendeine Art heroische Hilfe von außen hoffen können. Wie in diesen Filmen. Als fairen dramaturgischen Ausgleich sozusagen. Aber offensichtlich hatte er es hier stattdessen mit dem blanken Horror einer Bande reformwütiger Neoliberaler zu tun, die beschlossen hatten, eine Politik der verbrannten Erde auszuprobieren. Keine Rettung in Sicht also. Während er ächzend im Schrank herumpolterte, um sein altes Gewehr nebst verstaubter Munition hervorzukramen, begann es draußen zu dämmern. Nur noch eine Frage der Zeit, bis dieses Monstrum bei ihm im Flur stehen würde. Kühlschrank hin, Kühlschrank her.
Als das Kratzen riesiger Krallen an seiner Tür immer lauter wurde, saß Lothar Kronenberg rauchend und mit dem Gewehr auf dem Schoß in seinem Sessel. Gemeinsam mit dem tapferen Herrn Olsen wartete er auf das ...