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Die Rauschaktion
Schon seit vier Jahren wachte Tom beinahe jeden Morgen an der Seite seiner Freundin auf; auch an jenem Samstag.
"Morgen", murmelte Jenny, die nach ihrem Schönheitsschlaf dringend einen Besuch im Bad brauchte, damit ihre Schönheit auch sichtbar würde.
Tom antwortete nur mit einem Nicken. Es war Wochenende, erst neun Uhr; kein Grund, es mit den ersten Worten des Tages zu übereilen. Während Jenny nur mit einem Höschen bekleidet ins Bad huschte, in dem vermutlich ihre sorgfältig vorbereitete Samstagsgarderobe bereitlag, setzte Tom sich langsam auf und begann den Tag so wie immer.
Handy. Facebook.
Nichts neues. Die üblichen Motivationssprüche (vorwiegend von Single-Frauen) und die abgedroschenen Witzbildchen (vorwiegend von Männern). Und ein, zwei Witze, die weit unter der Gürtellinie lagen (vorwiegend von der einen Lesbe, mit der Tom befreundet war).
Als Jenny nach zehn Minuten schließlich aus dem Bad kam, vollständig bekleidet, frisch einparfümiert und mit neuer Frisur (hatte sie sich in den letzten Minuten die Haare gefärbt?), kam sie zum Bett, hauchte einen Kuss auf Toms Wange und flüsterte: "Zähne putzen, du stinkst."
Kichernd machte sie sich dann in die Küche auf, um Kaffee zu machen. Tom erhob sich, ging ins Bad. Und bekam eine SMS von Georg.
-Hey. Heute spontane Party bei Luki. Lust?
Luki war Georgs Neffe; Georg wiederum ein Freund von Toms Vater, der erst wie dreißig aussah. Und für einen so alten Mann überraschend angenehm war.
-Muss Herz befragen. Melde mich.
Aber bevor er das tat, musste er Zähne putzen. Sonst würde sein Herz wieder sagen "Du stinkst".
Als er in die Küche kam, nach wie vor in Boxershorts, trank sein Herz bereits Kaffee; eine zweite, dampfende Tasse stand neben der Kaffeemaschine.
"Zucker?"
"Drin."
"Danke, Herz."
"Gerne, Leber."
Andere Paare waren ein Herz und eine Seele, Jennys Humor machte aus diesen beiden ein Herz und eine Leber. Tom schämte sich nicht, zuzugeben, dass Jenny in ihrer Beziehung die Hosen anhatte. Im Moment sogar buchstäblich.
"Bei Luki ist heute eine spontane Party", eröffnete Tom nach dem ersten Schluck.
"Heißt, er hat seit drei Wochen geplant." Jenny nippte lächelnd an ihrem Kaffee.
"Wahrscheinlich. Gehen wir hin?", fragte Tom. Sein Herz schien nicht sehr begeistert. "Komm, Georg würde sich freuen."
"Georg kommt auch?" Diese Nachricht ließ Jennys Augen leuchten. Sie hatte Georg unheimlich gern; so sehr, dass sie oft scherzte "Du bist meine Leber, Tom, er ist mein Schatz".
"Ich nehme an. Er hat gefragt, ob wir Lust haben."
"Klar, machen wir." Jenny kicherte. "Da muss ich mich wieder rausputzen, damit ich hübsch für ihn bin."
Kopfschüttelnd nippte Tom an seinem Kaffee. Egal, ob es nun ein Scherz war, oder aber ein Versuch, ihn eifersüchtig zu machen, Toms Ansicht nach war es einfach nur lustig. Georg sah zwar relativ jung aus, war aber alt. Fast antik, mit seinen vierzig Jahren.
Während Tom schließlich frühstückte, griff er zu seinem Handy.
-Party geht klar. Wann?
Sekunden später kam schon die Antwort.
-So um neun fangen wir an. Ab zehn kannst du also kommen.
Abgerundet durch ein Zwinker-Smiley.
-Passt, zwischen neun und zehn sind wir da.
Nachdem er sein Brot fertig bestrichen hatte, kam die nächste SMS. In Ruhe zu frühstücken war ohnehin eine Seltenheit.
-Jenny kommt auch?
-Jep.
Etwa zwei Minuten später kamen drei Kuss-Smileys zur Antwort. Falls Jenny Tom wirklich eifersüchtig machen wollte, gab Georg sein Bestes, ihr dabei zu helfen. Ohne Erfolg.
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Zehn Uhr abends war bereits vorbei, als die Beiden endlich bei Luki ankamen.
"Weil du immer solange zum Stylen brauchst."
"Stimmt nicht, nur beim Fortgehen."
"Mein ich ja, du Leber", kicherte Jenny. Sauer war sie nicht wirklich, sie mochte nur nicht unpünktlich sein. Aber es war ja auch eine Party; solange getrunken wurde, konnte man nicht 'spät dran' sein.
An der Tür wurden sie unter anderem von penetrantem Zigarettengeruch, unnötig lauter Dubstep-Musik und einem gut gelaunten Georg begrüßt.
"Grüüüüüüüß euch! Kommt herein!"
"Hey, Georg", grüßte Tom.
"Schorsch", kicherte Jenny. In vier Jahren war sie nicht fähig gewesen, Georg einmal bei seinem richtigen Namen anzusprechen, und auch heute sollte sich das nicht ändern.
"Luki ist in der Küche, der kann euch was zum Trinken mixen. Und, wie geht's?"
Auf dem Weg in die Küche, umgeben von einem Mikrokosmos, der aus denen, die gerade erst gekommen waren, und denen, die schon als Alkoholleichen galten, bestand; folgte das übliche Blabla. Befindlichkeiten, das Wetter, Neuigkeiten und so weiter.
"Luki! Tom und Jenny sind da", rief Georg begeistert, um die Musik zu übertönen.
"Juhu", schallte es wenig begeistert zurück. "Was wollt ihr trinken?"
Luki hatte offenbar mal wieder die Position des Drinkmixers eingenommen. Er stellte sich dabei zwar so ungeschickt an, dass auch an diesem Abend sein Shirt bereits von Vodka und Likören versaut war, aber die Drinks selbst waren immer perfekt.
"Cola Rum." Was einfaches, damit Luki sich nicht noch mehr einsaute.
"Nur 'ne Cola." Jenny war nicht sehr begeistert.
"Fahrer?", fragte Georg.
"Ja. Habe verloren", grinste Jenny.
"Habt ihr darum gepokert?", fragte Luki wiederum.
Jenny und Tom grinsten einander an. "So in der Art."
Während Luki wissend lachte, verzog Georg das Gesicht. Entweder verstand er nicht ganz, oder er mochte den Gedanken nicht. Irgendwie verständlich, im Vergleich zu ihm waren Tom und Jenny ja Kinder.
Nachdem sie alle mit ihren Drinks versorgt waren, schafften sie es, sich die Couch im Wohnzimmer unter den Nagel zu reißen.
"Was habt ihr heute so gemacht?", fragte Luki. "Abgesehen vom Pokern", fügte er grinsend hinzu.
"Das Übliche", erklärte Jenny. "Gechillt, gezockt - und darauf gewartet, dass sich die Prinzessin hier fertig stylt."
Alle vier lachten, vor allem Georg.
"Ist es denn schlimm, wenn ein Mann auf sein Äußeres achtet?", fragte Tom mit nach oben gestreckter Nase und einer möglichst hochnäsigen Stimme.
"Nicht, wenn er schwul ist", kam Lukis Antwort.
Tom und Luki lachten, Jenny lächelte kopfschüttelnd.
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Nachdem die erste Runde getrunken war, griff Georg ungefragt zu den Gläsern und machte sich auf, nachzuschenken. Als er außer Sicht war, setzte Luki ein ernsteres Gesicht auf, wandte sich dem Pärchen zu und meinte mit gesenkter Stimme: "Ihr solltet auf Onkel Georg aufpassen."
Jenny kicherte. "Warum das?"
Luki warf einen Blick in Richtung der Küche, als fürchtete er, Georg könnte dort mit einem Richtmikrophon stehen.
"Ich glaube, er steht auf dich, Jenny."
Einen Moment lang lachte Jenny lauthals, aber Luki behielt sein ernstes Gesicht. Sogar Tom musste bei diesem Gedanken grinsen. "Bevor sich Georg an Jenny ranmacht, werden Schweine frieren und die Hölle fliegen, oder so."
"Sei dir da nicht so sicher", sagte Luki, nun schon fast so leise, dass man ihn unter der Musik kaum hörte. "Er lädt euch immer zu meinen Partys ein, er freut sich über euch mehr als über andere Gäste, und wie er immer mit dir flirtet ... das sind Warnzeichen."
Jenny schüttelte ihren Kopf. "Das ist zwar lieb von dir, aber du musst dir wirklich keine Sorgen machen.", beruhigte sie. "Unser Flirten ist wirklich nur Spaß. Oder, Tom?"
Tom nickte energisch, auch wenn Lukis 'Warnzeichen' ihn doch ein wenig nachdenklich machten. Konnte er recht haben? War Georg wirklich hinter Jenny her? Unsinn. Er würde dem Sohn seines besten Freundes nicht das Mädchen ausspannen, unmöglich.
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Um ein Uhr wurde Tom langsam müde und schwindelig, letzteres wohl wegen dem halben Liter Rum, den er inzwischen intus hatte. Während Luki und Georg gerade in eine ihrer wöchentlichen Diskussionen über Bourbon und Scotch versunken waren, zupfte Jenny an Toms Schulter.
"Meine Leber, ich bin müde. Fahren wir dann mal?"
Tom seufzte. Ja, er war müde, aber er hatte auch seinen Spaß.
"Vielleicht noch 'ne Stunde, meine Schönheit?" Ein schwacher Versuch, aber Jenny war müde. Vielleicht würde sie darauf eingehen.
"Noch 'ne Stunde Bourbon versus Scotch und ich brauche Beide, um durchzuhalten." Also nicht.
"Hey, meine Wohnung ist nur zwei Blocks von hier", warf Georg, von der Whiskey-Diskussion offenbar gelangweilt, ein. "Tom kann bei mir schlafen."
Jenny sah Tom nachdenklich an. "Ich weiß nicht, ob ich ohne meine Leber ruhig schlafen kann."
"Glaub mir, seine Leber ist im Moment sowieso beschäftigt", lallte Luki.
Tom zuckte mit den Schultern. "Ich würde gern noch bleiben."
"Okay. Mach keine Dummheiten, ja?", grinste Jenny.
"Aber nein, mein Scherz. Herz. Herz!"
Jenny lachte, gab Tom einen schnellen Kuss - der ihren Blutalkohol gewiss erhöhen würde - und machte sich auf den Heimweg.
Und nur eine Runde Scotch (der die Diskussion diesmal für sich entscheiden konnte) später, lallte Tom Dinge, für die Jenny ihn nicht nur ohrfeigen, sondern wohl eher umbringen würde, sollte sie davon erfahren.
"Und wir haben heute gar nich gepokert, wisst ihr", erklärte Tom grinsend.
"Hör auf."
"Nein, es ging darum, wer zuerst kommt, ihr wisst schon." Morgen würde er sich dafür hassen.
"Ernsthaft, hör auf!", verlangte Georg, mit überraschend klarer Stimme.
Tom hob beschwichtigend die Arme. "Ich weiß, ich sollte nicht darüber reden. Es ist nur so ..."
Georg schüttelte den Kopf und trank noch ein Glas Scotch.
"... ich wollte nicht mal wirklich gewinnen, aber Jenny ... sie kommt fast immer zuerst. Egal, wie lange es dauert, ich komm immer erst nach Eeeeeeeeeeeee--"
"Komm zum Punkt", lachte Luki.
"--eeewigkeiten."
Luki verzog nachdenklich sein Gesicht. "Macht sie dich vielleicht nicht mehr so scharf wie früher?"
"Das isses nich", erklärte Tom. "'S war schon immer so. Bin da irgendwie ein Spätzünder."
Georg war nun ruhig und hörte aufmerksam zu, also war ihm das Thema dann doch nicht so unangenehm.
"Die Frauen stehen auf solche Standhaftigkeit", erklärte Luki. "Jenny wird sich noch nie darüber beschwert haben, oder?"
"Ne, das nich."
Georg schüttelte nun den Kopf. "Wenn Jenny dich hören würde ..."
"Würde sie mir den Po versohlen.", ergänzte Tom.
"Das würde ich für sie übernehmen, keine Angst", grinste Georg.
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Um drei Uhr verabschiedeten Tom und Georg sich von Luki. Während Tom bemerkte, dass der Boden bedenklich schwankte, ging Georg trotz der Menge, die er getrunken hatte, völlig mühelos voran.
"War 'ne nette Party, hm?", fragte er.
Tom nickte, was sich als Fehler erwies, als Folge kippte er nämlich zur Seite; Georg fing ihn noch auf, bevor er auf den Asphalt krachte.
"Mein guter Mann, du verträgst aber auch nicht viel, was?"
Jedenfalls nicht so viel wie Georg; dieser hatte drei Bier, eine halbe Flasche Scotch und eine Reihe von Cocktails getrunken und wirkte dennoch ziemlich nüchtern. Zumindest, soweit Tom dies noch beurteilen konnte.
"Gut, dass Jenny schon vorhin gefahren ist. So reiherst du wenigstens nicht ins Auto."
"Ich habe schon seit Jahren nich mehr gereihert, und ich hatt' schon schlimmere ... was ist die Mehrzahl von Rausch?"
Georg lachte, während er Tom auf der Treppe vor der Eingangstür von Georgs Wohnblock stützte.
"Räusche, würde ich meinen."
"Du bist so ... nüchtern. Wie machst du das?"
"Training", grinste Georg.
Tom war nicht sicher, wie das gemeint war. Zwar konnte es heißen, dass Georg das Trinken 'trainiert' hatte; andererseits spürte Tom auch durch das Hemd hindurch die ausgeprägten Muskeln auf Georgs Oberarm. Für sein Alter war er erstaunlich gut in Form. Wovon hatten sie gerade gesprochen?
Als sie nach der endlosen Qual, die die Stufen in den ersten Stock darstellten, dann vor Georgs Wohnung angekommen waren, lehnte sich Tom an die angenehm kühle Wand.
"Ich hab Hunger."
Georg sperrte lachend seine Wohnungstür auf. "Wenn du jetzt was isst, bereust du's."
Während Tom langsam die Wohnung betrat, meinte er: "Ich hätte nur gern irgendwas im Mund."
Einen Moment lang stockte Georg, und ein schiefes Lächeln trat auf sein Gesicht.
"Das hätte ich jetzt beinahe als Flirten missverstanden." Er gluckste. "Plumpes Flirten."
Tom ließ sich kichernd auf die nahegelegene Couch fallen. "Würde dir eh gefallen."
Georg zog kopfschüttelnd seine Schuhe aus.
"Gehst du oft trainieren? Du hast Muskeln", murmelte Tom, während er sein Shirt ablegte.
Rasch wandte sich Georg ab und meinte: "Zwei, dreimal die Woche. Ich hol dir schnell eine Decke, dann kannst du schon schlafen."
Tom schüttelte den Kopf. "Schlechter Gastgeber. Du hast doch ein großes Bett, da passen wir Beide rein."
"Ne, in mein Bett kommt keiner, der kein Kondom trägt." Einen Moment lang lachte Georg, dann gefror sein Grinsen; und er blickte Tom unsicher an.
"Wenn du eins da hast, streif's mir über!" Tom lachte lauthals. Im Vollrausch blödeln. Es gab nichts Schöneres.
Kopfschüttelnd holte Georg eine Decke und meinte: "Nein, du schläfst auf der Couch."
Tom nahm die Decke schulterzuckend entgegen, stand auf und legte seine Hand auf Georgs Schulter. Dieser wirkte zwar verunsichert, setzte aber doch ein seltsames Lächeln auf.
"Danke, Georg. Bist ein guter--"
Dann spürte Tom eine feuchte, warme Zunge in seinem Hals, und obwohl er überrascht war, presste er Georg fest an sich.
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Schon seit vier Jahren wachte Tom beinahe jeden Morgen an der Seite seiner Freundin auf; nicht so an jenem Sonntag.
Er spürte eine verschwitzte, warme Hand auf seiner Brust, und bevor er seine Augen öffnete, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Dann kam die Erinnerung zurück. Und einen lauten Schrei später sprang er aus dem Bett.
Georg öffnete langsam sein Augen, blickte Tom an, und flüsterte: "Verdammt."
"Verdammt trifft es nicht annähernd." Als Tom bemerkte, dass er nackt war, bedeckte er sich schnell mit seinen Händen. Dann sah er wieder Georg an und spie beinahe die Frage heraus: "Bist du schwul?"
Georg seufzte, setzte sich auf, und nickte. "Jep."
Toms Boxershorts lagen vor dem Bett. Schnell ging er hin und zog sie an.
"Du hast mich vergewaltigt!", brüllte er schließlich.
Georg sprang nun seinerseits aus dem Bett. "Mach mal halblang. Du hast dich nicht gerade gewehrt, du hast zwischendurch sogar das Kommando übernommen."
"Ich war besoffen!", brüllte Tom jetzt. "Eigentlich fällt das unter Kinderschändung!"
"Du bist dreiundzwanzig!"
"Und du bist alt genug, um mein Vater zu sein!", warf Tom Georg nun vor.
"Mag sein, aber vom Aussehen ginge ich als großer Bruder durch."
"Nicht hilfreich!" Tom schwitzte, in seinem Schädel pochte es - wahrscheinlich vom Kater und vom unguten Erwachen - und zudem wirkte Georg zwar ein wenig schuldbewusst, trug aber ein sanftes Lächeln, als wäre er erheitert. Oder befriedigt. Für Beides hätte Tom ihn am liebsten getötet.
"Wegen dir habe ich Jenny betrogen, mit dir ... Scheiße!"
Alles drehte sich, und er war nicht sicher, ob es am Kater oder an seiner Schuld lag. Was Georg als nächstes sagte, machte es nicht gerade besser: "Auch wenn es jetzt nicht so toll erscheint ... aber vielleicht hilft dir das hier, dir über etwas klar zu werden. Deine Sexualität."
Tom suchte seine Klamotten zusammen und begann, sich hektisch anzuziehen. Er wollt nur dort weg, sich besaufen, jemanden schlagen. Irgendetwas tun, um zu vergessen, was passiert war.
"Ich bin nicht schwul", knurrte er schließlich. "Ich war nur betrunken."
"Alkohol macht vieles, aber er macht niemanden schwul", konterte Georg.
"Woher willst du das wissen?", brüllte Tom. "Du bist sowieso 'ne Schwuchtel!"
Georgs sanftes Lächeln verblasste, und einen Moment lang schien er fast zu wanken; ehe er seufzte. "Es hätte vielleicht nicht passieren dürfen."
"Ganz bestimmt nicht!"
"Aber es ist passiert, und ich will dich nich nicht unter Druck setzen. Du musst dich damit auseinandersetzen, aber nicht unbedingt sofort." Obwohl er das wieder ruhig sagte, lag dennoch ein seltsam glasiger Ausdruck in seinen Augen. Aber Tom kümmerte das im Moment nicht. Er zog sich fertig an, griff zu seinem Handy und schrieb Jenny eine SMS.
-Bin wach und halbwegs nüchtern. Holst du mich ab?
Auf halbem Weg zur Wohnungstür rief ihm Georg noch nach: "Bitte erzähle es keinem! Auch Luki und deinem Vater nicht."
Tom ging schnaubend weiter. Den Teufel würde er tun, irgendjemandem davon zu erzählen.
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"Hast du dich gestern übernommen, meine Leber?", kicherte Jenny, während sie das Auto parkte. "Du warst die ganze Fahrt so still."
Tom nickte. "Habe eindeutig zu viel gesoffen. Mache ich nie wieder." Mit gesenktem Blick stieg er aus und machte sich auf den Weg in die Wohnung.
"Alles okay?", fragte Jenny, als sie ihn einholte.
"Habe nur Kopfweh", meinte Tom. Er sollte es ihr erzählen. Aber er wollte es nicht. Vielleicht konnte er es ja einfach vergessen? Aber selbst wenn, war es nicht richtig. Wäre er doch nur mit Jenny nach Hause gefahren, anstatt Georgs Angebot anzunehmen. Dann wäre das nie passiert.
Oder doch? Klar, Tom hatte schon ab und an Pornos gesehen und genossen, in denen der Fokus auf dem Mann lag. Aber das musste doch nichts bedeuten.
In der Wohnung angekommen, ging Tom schweigend duschen. Er bemerkte, dass Jenny ihn verwirrt beobachtete, auch wenn sie nichts sagte. Selbst nach schlimmeren Räuschen hatte er sich nie so benommen. Er musste wieder einen klaren Kopf bekommen, sich normal benehmen. Aber vor allem musste er duschen, die Schuld von sich abwaschen, den Schweiß von sich abwaschen, Georg von sich abwaschen.
Während er unter der Dusche stand, blitzten Bilder vor ihm auf. Georgs Gesicht. Sein Körper. Wie er sich vor ihm in Position brachte ... Tom schüttelte den Kopf. Nicht daran denken, es ignorieren und vergessen. Plötzlich regte sich etwas zwischen seinen Beinen.
"Das kann nicht dein Ernst sein!", brüllte er seinen Penis an. Das war nur von der Dusche, ganz bestimmt. Warmes Wasser, welches über seinen Körper lief, nur daher kam das. Es konnte gar nicht von etwas Anderem kommen.
Es klopfte an der Badezimmertür. "Hast du gerade geschrien?"
"Nein, Jenny. Mein Herz. Alles in Ordnung!" Eine glatte Lüge, aber er durfte ihr die Wahrheit nicht sagen. Sie würde ihn hassen, sie würde Georg hassen. Und sie würde Tom völlig zurecht verlassen.
"Sicher? Du stehst schon lange unter der Dusche." Jenny klang besorgt. Lieb von ihr, aber er hatte das nicht verdient.
"Ich komme gleich!", rief er, in schärferem Tonfall, als beabsichtigt.
Er wartete kurz auf eine Antwort, aber es kam nichts. Wahrscheinlich war sie ins Wohnzimmer gegangen. Tom stellte das Wasser ab, griff zu seinem Handtuch und trocknete sich ab. Aber er fühlte sich noch immer nicht sauber.
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Jenny war noch im Bad, als Tom bereits im Bett lag und den Abend so wie üblich ausklingen ließ.
Handy. Facebook.
Neben den üblichen Meldungen über die "geile Samstagnacht" war wieder nur das Übliche dabei. Witze, Motivationssprüche und dergleichen. Aber nichts mochte Tom wirklich ablenken.
"Meine Leber, ich bräuchte was von dir", klang ein zuckersüße Stimme vom Bad her.
"Was denn?", fragte Tom teilnahmslos, den Blick stur auf sein Handy gerichtet.
Zur Antwort räusperte Jenny sich kräftig, woraufhin Tom hinsah und unwillkürlich schluckte. Er hatte noch nie Reizwäsche gesehen, die so eng war. Oder so transparent. Oder die nur aus sowenig Stoff, aber sovielen hübschen Gedanken bestand.
"Oh, das", grinste Tom, als er seine Stimme wiederfand. Genau sowas brauchte er, das musste ihn einfach ablenken.
"Es wird noch besser", kicherte Jenny. Sie machte zwei schnelle Handbewegungen, und die Reizwäsche flog in Toms Richtung. Physikalisch eigentlich unmöglich, aber sowas von heiß. Und Jennys Körper ... hübsch geformt, gleichmäßig gebräunt.
"Der Anblick ist tatsächlich noch besser", flüsterte Tom.
Jenny ging langsam auf das Bett zu, ließ ihren Po bei jedem Schritt wackeln, und kniete sich schließlich auf das Bett.
"Du weißt, was jetzt zu tun ist?"
Tom nickte, setzte sich auf und wandte sich Jenny Oberkörper zu. Hier ein Kuss, dort ein Kitzeln, und die Zunge schön nach untern wandern lassen, wie gehabt. Als er schließlich am Ziel ankam, ließ er seine Zunge kreisen, Jennys Atmung beschleunigte sich ... ehe sie sich wieder räusperte.
"Was machst du?"
Tom hielt inne. Er hatte unwillkürlich begonnen, seinen Kopf rhythmisch vor und zurück zu bewegen.
"Nur ein Experiment. Tut leid." Während er wieder weitermachte, dachte er nach. Vielleicht würde er helfen, wenn er seine Zunge zu Jennys Hintern wandern ließ und dort weitermachte. Das hatten sie schon mal aneinander ausprobiert, und es hatte Beiden gefallen. Da tauchten in seinem Kopf gewisse Bilder auf ... attraktive Lippen ... spitze Nippel ... eine Erektion ... und schon prallte er wie vom Schlag getroffen zurück.
"Was ist denn jetzt?", fragte Jenny, von den Unterbrechungen offensichtlich genervt.
Tom schüttelte den Kopf. "Nichts, nichts. Machen wir weiter." Er strengte sich an, um ein Lächeln hervorzubringen, aber als er sich wieder um Jennys Unterleib kümmern wollte, zog sie sich von ihm zurück.
"Ist alles in Ordnung?" Sie sah ein wenig besorgt aus. Hatte sie etwas bemerkt?
"Ja, alles okay", flüsterte Tom, aber er merkte selbst, wie unglaubhaft das klang.
"Tom. Sag schon. Was ist los?" Jenny blickte ihm fest in die Augen.
"Gar nichts", knurrte er. Er durfte es ihr nicht sagen, aber wenn sie weiter nachfragen würde, könnte er nicht anders.
Jenny stand vom Bett auf, wobei ihr Gesichtsausdruck deutlich verriet, dass aus Sorge schon Ärger geworden war: "Wenn du spinnen willst, okay. Aber geh mir dabei nicht auf die Nüsse!"
"Du hast ja keine", antwortete er, wobei eine leise Stimme in seinem Kopf flüsterte: "Leider." Offenbar hatte die Nacht mit Georg eine Tür in Toms Kopf geöffnet, die sich nicht mehr schießen wollte.
Jenny schnaubte. "Ich glaube, im Moment habe ich mehr Nüsse als du."
Und damit ging sie ins Bad, die Tür mit einem lauten Knall zuwerfend.
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Die nächsten Tage waren glücklicherweise normale Arbeitstage, so dass Tom untertags genügend Ablenkung hatte. Jenny sah er kaum (sie hatte drei Nachtschichten in Folge), und so lenkte er sich abendlich mit Facebook und jeder Menge Pornos ab. Sinnvollerweise Lesbenpornos, damit er auch ja nichts sah, was ihn an die Nacht mit Georg erinnern könnte.
Am Donnerstagabend hatte Jenny wieder frei, und sie hatte offenbar beschlossen, den Sonntagabend nicht mehr zu erwähnen.
"Ich fahre morgen mit ein paar Freunden ins Cafe, also wundere dich nicht, wenn du heimkommst und ich noch nicht zuhause bin, meine Leber." Sie lächelte, während sie weiterhin SMS schrieb.
"Kein Problem. Mit wem denn?" Tom hatte es geschafft, den ganzen Tag nicht zu genau an die letzte Samstagnacht zu denken. Vielleicht konnte er es ja wirklich vergessen.
"Mit Luki, Georg und ein paar Kollegen." Und dahin war es mit dem Vergessen. Was, wenn Georg ihr etwas erzählte? Wenn er sich schuldig fühlte und es ihr gestand? Einerseits war es auf diesem Weg vielleicht besser, denn wie hieß es so schön? Der Bote stirbt zuerst.
Andererseits hatte Georg auch gemeint, dass sich Tom sich nun über seine Sexualität klar werden könne. Was, wenn er Jenny erzählte, dass Tom ihn verführt habe? Was, wenn er sie auseinanderbringen wollte, um Tom für sich zu haben? Dieser Gedanke war es, der Tom zum nächsten Fehler trieb.
"Warum bleibst du nicht zuhause und ... erholst dich?" In seiner Stimme lag erneut eine Aggressivität, die er nicht beabsichtigt hatte.
Jenny wirkte aber weder verängstigt noch verärgert, sondern schlicht verwirrt. Dann lächelte sie.
"Ist es wegen dem Blödsinn, den Luki verzapft hat?"
"Was?"
"Dass Georg mich dir ausspannen wollen würde." Sie lächelte nach wie vor und blickte Tom mit geradezu mitleidserfüllten Augen an.
"Nein, das ist Blödsinn", erklärte Tom, bevor ihm klar wurde, dass das vielleicht der einzig gute Ausweg aus dieser Situation gewesen wäre.
"Natürlich ist es das. Aber seit er das gesagt hat, bist du so komisch", meinte Jenny. "So schweigsam. Reizbar. Und denk nicht, ich hätte deinen Internetverlauf nicht gesehen."
Verdammt, den wollte er noch löschen.
"Ich denke nur, du hättest dir ein wenig Ruhe und Erholung verdient", murmelte Tom. Das würde sie ihm nie abkaufen, aber mit ein wenig Glück würde sie es dabei belassen.
"Weil die Fahrt ins Cafe so anstrengend ist, oder wie?" Natürlich machte sie es ihm nicht so einfach.
"Ich meine, damit du mehr Energie hast ... damit ich das nachholen kann, was uns am Sonntag entging."
Einen Moment lang sah es so aus, als würde Jenny jeden Moment in schallendes Gelächter ausbrechen. Dann jedoch rief sie mit lauter Stimme: "Ich soll meinen Freunden absagen, damit du mich durchbürsten kannst?"
Und Tom gab die dümmste Antwort darauf.
"Ja."
"Meine heißgeliebte Leber", knurrte Jenny, "ich war aus reiner Herzensgüte bereit, deinen sonntäglichen Schlaganfall - oder was auch immer der Grund für deine Impotenz war - zu vergessen. Aber wenn du mir jetzt den Umgang mit meinen Freunden verbieten willst, nur um mich mit deiner Männlichkeit zu überschütten - wofür du eh immer ewig brauchst - dann schwöre ich dir, werde ich dich durchbürsten." Auf Toms verwirrten Blick hin fügte sie hinzu: "Mit einer Drahtbürste."
Tom hob beschwichtigend seine Arme und sagte: "Tut mir leid ... nicht schlagen?"
Und auf diese letzte Bemerkung hin brach Jenny in schallendes Gelächter aus.
"Wir beide wissen ja, dass ich jede Schlägerei gewinnen würde", lachte sie. "Und du hättest jetzt wirklich dein Gesicht sehen sollen!"
Einen Moment lang war Tom verdutzt, dann musste er selber kichern. Jennys Humor war zweifelsohne eigenwillig.
Nachdem Jennys Gelächter schließlich verstummt war, legte sie ihr Handy zur Seite und meinte: "Ich gehe dann mal ins Bett. Gute Nacht, mein Herz."
Auf dem Weg ins Schlafzimmer rief Tom ihr noch nach: "Wegen morgen ..."
"... ich bring dir 'ne Tasse mit."
Er konnte sie also nicht davon abbringen. Und er sorgte sich noch immer wegen Georg.
Tom musste das klären, und zwar sofort.
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Eine halbe Stunde später stand Tom vor Georgs Wohnung. Er hämmerte an die Tür, die Türglocke bewusst ignorierend.
"Komme gleich", tönte es heraus.
Ein paar Schritte, dann wurde das Schloss aufgesperrt, und die Tür öffnete sich. Georg, lediglich in einem Shirt und einer Unterhose. Er sah aus, als hätte er schon geschlafen.
"Wir müssen es klären", sagte Tom in bewusst scharfem Tonfall.
Georg ließ ihn eintreten, machte die Tür wieder zu und bot Tom an, sich hinzusetzen. Was dieser ignorierte.
"Ich will nur sichergehen, dass du Jenny nichts von der Rauschaktion erzählst."
Georg seufzte. "Du bist dir noch immer sicher, dass es am Rausch lag?"
"Es lag am Rausch", knurrte Tom. Er würde sich nichts einreden lassen.
"Ich werde Jenny nichts erzählen", sagte Georg in seinem üblichen, ruhigen Tonfall. "Ich fühle mich zwar schuldig - ihr gegenüber - aber ich werde eure Beziehung nicht ruinieren."
Tom nickte. "Gut. Und nur ums klarzustellen: Ich bin nicht schwul, werde nie schwul sein. Und Bisexuell oder sowas schon gar nicht."
Georg lächelte schwach. "Dann muss ich dich etwas fragen: Liebst du Jenny?"
Tom schnaubte. "Natürlich."
"Und hast du ihr das schon einmal gesagt? Nicht nur 'ich dich auch' oder so, sondern wirklich 'Jenny, ich liebe dich?'" Georg blickte Tom genau an.
Und Tom schwieg. Er dachte nach. So oft hatte sie gesagt "Ich liebe dich". Und seine Antwort war stets "Ich dich auch". Oder "Ich weiß", wenn er den Coolen spielen wollte.
"Das heißt aber nichts", murmelte er schließlich.
"Ich will dich weder drängen noch zu etwas überreden." Georg atmete tief durch. "Aber es bedeutet sehr wohl etwas."
Tom schüttelte den Kopf. "Ich bin nicht schwul!"
"Denk einfach darüber nach."
"Nein!", brüllte er. "Ich bin seit vier Jahren mit Jenny zusammen. Vier Jahre, die ich nicht für eine Rauschaktion oder eine Fantasie wegwerfe!"
Und erst, als Georg eine Augenbraue hochzog, bemerkte Tom, was er da gesagt hatte. Eine Fantasie.
Unwillkürlich setzte Tom sich auf die Couch. Georg setzte sich langsam neben ihn.
"Ich wünschte wirklich, du wärst hetero." Georg schüttelte den Kopf. "Aber sosehr ich das wünsche, ich freue mich ebenso sehr, dass du es nicht bist."
Tom warf ihm einen Seitenblick zu. Und da fielen ihm Lukis "Warnzeichen" wieder ein.
"Er lädt euch immer zu meinen Partys ein, er freut sich über euch mehr als über andere Gäste ..."
Er stand auf, entfernte sich ein paar Schritte.
"Du stehst auf mich?"
Georg sah ihn aus müden Augen an. "Unglücklicherweise, jep."
Tom fuhr sich mit den Händen durch seine Haare. Mehrmals. Das durfte einfach nicht war sein.
"Aber ich bin nicht schwul", flüsterte er erneut, mit einer Stimme, die seine eigenen Zweifel deutlich hörbar machte.
Georg stand auf. "Du brauchst Zeit, um das sicher zu wissen. Und es tut mir leid, dass es ... dass du auf diese Art darauf gestoßen wurdest."
"Hör auf mit deinen Anspielungen!"
"Das war keine." Georg lächelte schwach. "Wäre aber 'ne gute."
Und aus Gründen außerhalb seines Verständnisses, musste Tom lachen; ehe er verstummte und seinen Blick senkte.
Georg ging zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter.
"Geh nach Hause. Schlaf darüber, und denk darüber nach."
Tom sah ihm in die Augen, sah sein sanftes Lächeln. Und dieses Lächeln küsste er. Einen Moment später standen sie eng umschlungen, ihre Zungen in einem leidenschaftlichen Tanz gefangen, während Georg nebenbei die Knöpfe an Toms Hemd öffnete.
Und plötzlich brannten Tränen auf Toms Gesicht, und er schob Georg von sich; wenn auch nur ein paar Zentimeter.
"Ich kann nicht."
Georg seufzte, und auch sein Gesicht begann, mit Tränen zu glänzen. "Und ich kann nicht anders."
Tom begann zu zittern, und in seinem Inneren wirbelte alles durcheinander. Erregung, Schuld, Abscheu. Es war so falsch und doch so wunderbar.
"Wenn du wenigstens jünger wärst, kein Freund meines Vaters. Oder zumindest eine Frau."
Georg seufzte. "Oh, Tom. Kaum habe ich eine Sekunde Hoffnung ..."
Und schon musste Tom ihn wieder küssen, nur um sich sofort wieder zurückzuziehen. Dann stieß er Georg mit aller Kraft von sich, und dieser fiel rücklings zu Boden.
Tom weinte. "Es tut mir leid." Er dreht sich um, lief aus der Wohnung, knallte die Tür zu. Dann lehnte er sich an die kühle Wand, und atmete tief durch.
"Tom? Was ist los?"
Er blickte zur Seite. Jenny stand am Fuß der Treppe. "Du kamst nicht ins Bett und hast nicht auf die SMS geantwortet, also bin ich herumgefahren und hab dein Auto vor der Tür stehen sehen ...."
Da fiel ihr Blick auf das geöffnete Hemd, die verwirbelten Haare. Ihre Augen wanderten kurz zu Georgs Tür. Und Jenny stolperte einen Schritt zurück.
Tom lief die Treppe hinunter, aber Jenny lief hinaus, lief zu ihrem Auto.
"Warte!"
Er holte sie ein, ergriff ihren Arm, bevor sie ins Auto einsteigen konnte.
"Es ist nicht so, wie es vielleicht aussah."
Jenny schnaubte. "Du kamst mit offenem Hemd aus der Wohnung meines Lieblingsschwulen", flüsterte sie mit erstickter Stimme. "Du hast mit ihm geschlafen, oder?"
Tom seufzte, ehe er Jenny verwirrt ansah. "Woher weißt du, dass er schwul ist?"
"Das war doch klar!", rief Jenny. "Denkst du, ich hätte in deiner Gegenwart mit einem Hetero geflirtet?"
Tom schnaubte. Jenny hatte ein Gespür für sowas. Ihm hätte klar sein müssen, dass sie es weiß.
Jenny riss ihren Arm aus Toms Griff.
"Hast du mit Georg geschlafen?"
Tom ließ seinen Kopf hängen. "Samstagnacht, im Vollrausch."
Jenny begann zu weinen. Tom sah noch, wie sie eine Faust ballte, ausholte. Aber er machte keinerlei Anstalten, sich zu wehren. Der Schlag traf seine linke Wange, und er fiel hin. Jenny stieg in ihr Auto, knallte die Fahrertür zu und fuhr mit Vollgas davon.
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Als Tom schließlich in seiner Wohnung ankam, lagen ein Kissen und eine Decke auf der Wohnzimmercouch. An der Schlafzimmertür hing ein Zettel: "Tritt ein und du stirbst."
Er konnte Jenny verstehen. Was er getan hatte, war ihm selbst zuwider. Weil es mit einem Mann war, weil es mit einem Freund seines Vaters war, und weil es Jenny verletzt hatte. Alles zusammen.
Er setzte sich auf die Couch. Am liebsten wollte er schlafen, einfach alles vergessen. Aber wie die letzten Tage gezeigt hatten, war vergessen nicht so einfach.
Und an Schlaf war ohnehin nicht zu denken. Jenny würde mit ihm schlussmachen, ganz bestimmt. Georg aber ... er war ein alter Freund von Toms Vater, ein Kindheitsfreund sogar. Und er war ein Mann. Tom wollte nicht mit einem Mann zusammen sein. Vielleicht fände er ja einen Mittelweg. Einen Moment lang dachte er ernsthaft an eine Transe.
Diesen Gedanken schüttelte er schnell wieder ab. Auch wenn er Georg gerne gehasst hätte, ihm wurde warm ums Herz, wenn er an ihn dachte.
Tom wusste nicht, was er tun sollte, oder tun könnte.
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Eine Fahrt noch, und Tom hätte all sein Zeug zu Luki gebracht. Er holte gerade den letzten Karton aus dem Schlafzimmer. Jenny saß auf dem Bett, blickte stetig zu Boden, und Tom wusste, dass sie mit den Tränen kämpfte.
Als Tom die Schachtel hochhob, flüsterte er: "Die Letzte."
Jenny hob ihren Blick und nickte. Tom wartete, ob sie noch etwas sagte, aber es kam nichts. Er dreht sich um, ging los, blieb aber in der Tür stehen.
"Ich weiß, das macht es nicht besser. Aber es tut mir leid."
Jenny schnaubte und flüsterte mit erstickter Stimme: "Mir auch. Wenn du irgendwann weißt, ob du schwul bist oder sonst was, schreib mir 'ne SMS." Sie räusperte sich, vermutlich, um ihre Tränen noch einmal zurückzuhalten. "Nur nicht in den nächsten paar Wochen."
Tom nickte, und als er ging, meinte er, noch ein schwaches "Ich liebe dich" zu hören.
Bei seinem Auto angekommen, stellte er die Schachtel neben die anderen auf der Rückbank und fuhr los.
Als er eine knappe halbe Stunde später bei Luki ankam, wartete schon jemand vor der Eingangstür des Wohnblocks.
"Soll ich dir tragen helfen?", fragte Georg, als Tom ausstieg.
Tom hielt kurz inne und wollte schon ablehnen, stimmte dann aber schulterzuckend zu.
"Es tut mir wirklich leid", sagte Georg, als Tom ihm den ersten Karton in die Hand drückte.
Tom nickte. "Ich glaube, für Jenny ist es schlimmer. Ich wünschte, ich könnte ihr irgendwie helfen."
Auf dem Weg zur Wohnung meinte Georg: "Kannst du. Sieh zu, dass du glücklich wirst."
Tom schnaubte. "Fünf Euro ins Phrasenschwein."
"Ernsthaft. Jenny empfindet viel für dich, und wenn du glücklich wirst, wird es ihr vielleicht helfen, mit eurer Trennung klarzukommen."
Tom zuckte mit den Schultern. "Ich hoffe es. Zunächst muss ich aber selbst erst wissen, was ich will."
"Wenn du Fragen hast ...", bot Georg seine Hilfe an.
"Danke", flüsterte Tom, auch wenn er nicht beabsichtigte, diese Hilfe in nächster Zeit anzunehmen.
Als sie die Tür zu Lukis Wohnung öffneten, wechselte Tom das Thema: "Du weißt nicht zufällig, ob in der Gegend irgendwo eine Wohnung frei ist?"
"Nein", lächelte Georg, "aber Luki hat ja gesagt, dass du solange bleiben kannst, bis du was findest. Und zur Not kannst du zu mir ziehen."
"Nichts für ungut, aber nach den letzten Besuchen in deiner Wohnung ... naja, ich sollte mich von deiner Wohnung fernhalten."
Georg zuckte mit den Schultern, während er den Karton abstellte; dann streckte er sich und gähnte herzhaft.
Dabei bemerkte Tom wieder die Muskeln, die unter dem Shirt hervortraten.
"Tom? Du starrst."
Egal, ob er nun schwul war oder nicht, dieser Anblick gefiel ihm. Eigentlich schon immer.
Und der Gedanke, zu Georg zu ziehen, war nüchtern betrachtet eigentlich nicht einmal so schlimm.