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Die Ratte
Als es am Morgen graute und der Wecker klingelte, vermisste Stefan seinen rechten langen Arm, um den Wecker wie gewöhnlich auszustellen. Er vermisste auch den anderen Arm, mit der er die Brille auf seinem linken Beistelltischchen normalerweise an sich zog, um die Welt mit scharfer Sicht zu betrachten. Die scharfe Sicht fehlte Stefan nun, trotzdem konnte er kaum glauben was er sah. Seine langen Arme hatten sich in kurze fellbewachsene Gliedmaßen verwandelt, die in Krallen endeten. Zitternd betrachtete er seine Beine, seine Krallen, die jetzt an Stelle der Hände, seiner schönen Hände saßen. Er hatte sich in ein kleines Nagetier verwandelt, eine Ratte! In seiner Verzweiflung sprang er hinunter vom Bett, um sein Zimmer zu verlassen, womöglich seine Tochter zu warnen. Vielleicht würde auch sie sich in eine Ratte verwandeln, oder dies war bereits geschehen. Doch leider war die Tür fest verschlossen. Ratlos stellte er sich auf seine Hinterbeine und sinnierte vor sich hin. Die meisten Einrichtungsgegenstände waren ihm unerreichbar. Die Schränke, die Wände, das Bild seiner Tochter, ja sogar die Nachttische samt zugehörigen Bett, alles erhob sich vor ihm so steil, dass ihm schwindelig wurde. "Wenn man wüsste, dass sich manche Menschen in Ratten verwandelten, sobald sie die Mitte ihres Lebensalters erreicht haben, dann würde man das bei der Gestaltung der Räume dieser Menschen berücksichtigen..", dachte er sich. Denn er war beinahe 40, ein Tag fehlte noch, dass der Vierziger vollendet wurde. Was konnte er nur machen, um nun endlich das Zimmer zu verlassen und zu seiner Tochter eilen zu können? Doch er musste nicht mehr lange überlegen, als ihn etwas am Bauch streifte. Es war ein Fuß, menschlicher Fuß, der in einem Ballerinaschuh steckte: er gehörte wohl einer Frau.
„Wer bist du?“ zischte er leise. Die Aufregung am Anfang des Tages in Folge der Entdeckung seiner Verwandlung und die kurze Exkursion durchs Zimmer hatten ihn erschöpft. Er war schließlich kein D-Zug mehr.
„Ich bin, ja, wer bin ich..?“ säuselte es von weiter ferne. Die Frau wollte sich zu ihm hinbeugen und versuchte ihn aufzunehmen. Doch er wollte von Gleich zu Gleich, das heißt vom Boden, mit ihr sprechen und wich ihr aus.
„Hast du was damit zu tun, dass ich jetzt eine Ratte bin?“ fragte Stefan im Ansatz ergrollt.
„Wünscht du dir etwas, Stefan? Ach nein, du hast ja erst Morgen Geburtstag.“
Stefan wiederholte seine Frage nun etwas lauter, aber deutlich grollend.
„Darüber, warum du eine Ratte bist, müssen wir erst noch reden.“ sagte sie „Das ist nämlich nicht so einfach zu beantworten. Jeder könnte etwas dazu sagen: deine Kollegen, deine Exfrau, deine Tochter sogar.“
„Was? Wagst du es zu sagen, dass ich charakterlich ...“
„Nein, nein, nein,“ beschwichigte sie ihn: „Aber was würdest du dazu sagen, wenn du einen Kollegen hättest, der vorzugsweise das teuerste Modell verkauft und dabei im Gespräch mit Kunden unterschlägt, dass es durchaus nützlichere für einen günstigeren Preis gibt? Wäre das nicht eine ….“
„Ratte?“ flüsterte Stefan
„Ja, genau, also doch das was du meinst. Jetzt kommen wir dem ganzen näher. Und solche Leute wie du sorgen dafür, dass deine Firma in Verruf gerät, nur weil du deinen persönlichen Vorteil siehst."
Stefan schwieg, er verstand nicht worauf sie hinaus wollte. Das tat er wirklich - aber das vor allem im Ausland, also vor allem da, wo es nicht darauf ankam schlechte Publicity zu ernten. Das kapierte diese Frau nicht - er tat doch niemandem in seiner Firma mit seiner Einstellung weh!
"So bald aber deine Kunden Wind davon bekommen, dass es billigere Maschinen gibt, übergibst du den Auftrag an deine Kollegen, die den Scherbenhaufen der lügnerischen Übertreibungen übernehmen müssen und egal wann und wo sie sich gerade befinden, sie müssen dem Herrn jederzeit Rapport erstatten. Die Prämien für die teuren Maschinen, die streicht der Herr für sich ein, weil er es kann. Das nenne ich eine Ratte!"
"Aber mit dem Gebahren eines Löwen," gab er an.
"Ein Löwe? Du bist eine Ratte, die Mäusen anschafft. Bei Löwen hättest du nichts mehr zu sagen."
"Was soll ich denn jetzt tun. Was verlangst du von mir?" fragte er notgedrungen, weil er das ganze Geplapper abkürzen wollte.
"Du sollst mit deiner Tochter reden."
"Was hat meine Tochter zu sagen," fragte er, es ging ihm rein um sachliche Informationsbeschaffung.
"Das fragt sie sich auch. Du behandelst sie wie einen Jungen, seit sie auf der Welt ist und hast noch immer nicht begriffen, dass femininer Lebensstil nicht nur der Unterdrückung dient, sobald er auf die Bedürfnisse einer Frau eingeht und selbst gewählt ist. Sie will nicht mehr länger mit dir gezwungenermaßen Basketballspielen gehen und als unsportliche Trophäe eines Vater dienen, der zufälligerweise ein Ass in dieser Sportart ist, und einen Ball nach dem Anderen im Netz versenkt wenn sie mit dir unterwegs ist. Auch will sie andere Klamotten tragen, als Jeans und unscheinbare T-shirts, nur weil der Herr Vater seine Sparwut an ihr austobt. Sie will auch Make-up tragen. Aber das soll sie dir selber sagen."
Mit diesen Worten ging die Tür auf und seine Tochter - schüchtern und selbstbeherrscht- trat herein. "Ingrid, du bist es, " frohlockte das Mädchen als sie sie sah und fiel der rothaarigen Frau mit der lockigen Mähne um den Hals.
"Und dich wollte ich warnen," entfleuchte es der Ratte von den Lippen: "Dabei hast du das ganze mit ihr ausgemacht, um mir eine Falle zu stellen! Eine Unverschämtheit sage ich dir. Eine Unverschämtheit!" Die Ratte redete sich in Rage, was dazu führte, dass die Stimme immer höher und höher wurde und er sich am Ende wie Mickey Mouse anhörte.
Das Mädchen sah ihn nur an, und erwiderte mit den angewinkelten Armen an ihrer Seite: "Wir wollen, dass du dich änderst."
"Ja, ich habe auch andere schon in Ratten verwandelt." erklärte die Frau mit den roten Haaren, die sich Ingrid nannte.
Sie hatte Fotos mitgebracht und zeigte sie ihm. Es waren lauter Blitzlichtaufnahmen von verängstigten Nagetieren mit roten Augen. Die Ratte konnte es nicht fassen, irgendwas stimmte hier doch nicht! Er erkannte in den felligen Tieren mit den Krallen und den Schnurbarthaaren Leute... Sein Chef z.B. der gerne mit ihm golfen ging und sein Verhalten in der Firma ganz und gar billigte, sein Nachbar, mit dem er gerne in den Nachtclub ging und mit dem zusammen er sich an den Mädels aufgeilte. Auch seine Off-on Freundin erkannte er, Jackeline. Sie machte einen viel entspannteren Eindruck als die anderen, hatte es sich sogar in einem Großraumkäfig gemütlich gemacht und saß auf dem Foto auf einem Ast.
"Was hat Jackeline gemacht?" wollte er wissen. Bei den anderen konnte er es sich zumindest denken.
Ingrid lächelte breit und öffnete die Arme. "Jackeline? Nichts, gar nichts. Sie hat es niccht verdient, sondern die Erfahrung als bewusstseinserweiterndes Residuum begriffen, in der sie endlich einmal ausspannen konnte. Du musst nämlich wissen: die Ratte ist Jackelines Totem."
"Dann steckt also Jacky auch mit dir unter einer Decke." Er stöhnte
"Sie hat mir deine Tochter vorgestellt, das ist richtig. Und ich will jetzt, dass du mit deiner Tochter von Nagetier zu Mensch redest. Dann lass ich dich für immer in Frieden."
Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und machte ganz sachte hinter sich die Tür zu.
ENDE