Die Rasierklinge
– gewidmet A.T., von seinem Vater zum Sparzwang bei Ankauf und Einsatz von Rasurprodukten angehalten
„Elvira, es ist soweit. Verfluchter Mist, es ist soweit. Unser Sohn bekommt sekundären Haarwuchs. Verdammte Scheiße, wir sind ruiniert.“, schimpfte Gerd. „Hast du ihm denn nicht mehr die Hormonstopper ins Essen gemischt?“, geiferte er seine Frau vorwurfsvoll an.
Gerd arbeitete in einer sehr überdurchschnittlich dotierten Position in der Pharmaindustrie, aber der Anblick der ersten aufkeimenden Oberlippenhärchen bei seinem Sohnemann Tom ließ ihn schreckensbleich werden und nächtelange Sitzungen über das zu rettende Haushaltsbudget vor seinem geistigen Auge rufen.
Seine Frau bestätigte die stetige Beigabe der Präparate, die Gerd gratis, da überschüssige Produktion, abstauben konnte und befand ihrerseits, dass die Hormone in ihrem 18jährigen Kind einfach einen entscheidenden Sieg gegen die Pillen errungen haben.
„Nun, ich weiß nur so viel“, sagte Gerd erbost. „Wir kaufen ihm mit 20 eine vierer Packung Klingen. Die muss dann aber gefälligst für die nächsten 20 Jahre reichen. Wir wollen doch nicht am Hungertuch nagen, nur weil unser Sohnemann neuerdings meint mit seinen Haarallüren uns ins Schleudern bringen zu wollen.“
Nach zweijähriger Leidensphase, während derer Tom in Schule und Ausbildung ob seines unbehandelten Bartsprießens sich mit Läster- und Mobbingattacken konfrontiert sehen musste, bekam er die besagte Klingenpackung geschenkt, die sein Vater zu einem reduzierten Sonderpreis in einem von der Einstampfung bedrohten Drogerie eingekauft hatte und nun in feierlicher Zeremonie vor dem heimischen Badezimmerspiegel geöffnet wurde.
Schon Wochen vor dem Großereignis hatte sein Vater Tom immer wieder eingebläut wie sorgsam und schonend dieser mit den Klingen umgehen solle. An diesem Tage entschied Gerd dennoch drei der Schneidinstrumente sicherheitshalber aus der Packung zu entfernen, mit dem Ziel die Bedeutsamkeit dieser einen verbleibenden heiligen Doppelklinge zu verstärken.
„Junge, für die nächsten 20 Jahre wird es nur diese Klinge geben. Ich betone: Es gibt keine anderen, denke nicht einmal daran“, fügte er bestimmend hinzu.
In stumpfer Hörigkeit hielt Tom sich an die Worte seines Vaters. Er behandelte sein Werkzeug so liebevoll und behütend, wie andere nur ihre eigenen Augäpfel pflegten.
Tom bastelte sich eine winzige Schatulle für sein Kleinod, da sein Vater der Ansicht war, das aggressives Tageslicht die Struktur des Stahls zusätzlich in unnötigem Maße zerstöre. Das Ritual der Rasur und Pflege des Messers dauerte allmählich etwa zwei Stunden. Eine gut investierte Zeit, da waren Vater und Sohn wieder einer Meinung. Zumal die Rasur noch nicht oft stattfand, also so etwa einmal pro Quartal.
Die Hormone, indes, jahrelang auf allen Fronten kläglich gegen chemische Kampfmittel machtlos gewesen, stockten auf und schickten die fünffache Heeresstärke von Haaren und marschierten munter nicht nur in das unerforschte Gesichtsland ein, sondern auch nach Intimzonien und in das Rückenreich gleich hinterm Buckel.
Und so musste Tom sich geschlagen geben und die Frequenz der Rodung erhöhen, wollte er nicht auf seiner Arbeitsstelle bei Kunden und Kollegen als berbernder Triebtäter gelten. Und damit nahm das Schicksal endgültig sein Lauf:
Trotz des intensiven Pflegeprogrammes mit dem Tom seinem Rasierzeug aufwartete, machte dieses das, was das Gewissen eines durchschnittlichen Terroristen gleichsam in dessen Lebenszeit mit steigendem Alter erfährt: Es stumpfte mehr und mehr ab.
Dem Umstand der besagten massiven Infiltration in Intimzonien und dem Rückenreich dankend, verschärfte sich die Problematik zusehends, denn er benutzte selbstverständlich die Klinge für den GANZEN Körper.
Tom tat indes alles: er wetzte und schliff, massierte und rubbelte, feilte und hobelte. Doch irgendwann waren die Lippen nur noch 0,4 Millimeter dünn und der lebensbedrohliche Lamellenbruch drohte kurz bevorzustehen.
Dünner Stahl bleibt nun mal dünner Stahl und leider gab es hier keine Dauerschärfe wie bei einer nymphomanischen Pornodarstellerin.
Tom wusste weder ein noch aus. Seinem Vater, der unter einem schwachen Herz litt, hatte er die sich anbahnende Tragödie verschwiegen. In seiner Verzweiflung suchte er eine weit vom elterlichen Wohnort entfernte Drogerie auf. Als wäre er dem Wahn verfallen, steuerte er auf die Rasurabteilung zu, die Menschen um ihn herum und schon gar nicht die Stimme seines Vaters und Gewissens im Kopf wahrnehmend, die jämmerlich flehte: „Nein, tu es nicht. Kauf sie dir nicht. Noch 17 Jahre musst du durchstehen, du schaffst es!“
Und da stand er vor den Packungen und sie funkelten wie die Golddukaten eines versunkenen Schatzes und die in den Klingen gebrochenen Strahlen der Neonröhrenlampen blendeten sein Augwerk. Und in diesem Moment schienen sie mit spitzen Zungen wie mehrere dutzend Schlangen aus dem Garten Eden, die wirkten als hätten sie Jahrtausende nach dem Alten Testament Werbeverträge für nächtliche Sexhotlines abgeschlossen, im verführerischen Chor zu zischeln „Kauf unssss, Tom. Kauf unssss…, pack… unssss… ausss… Willige Rasierklingen aus deiner Umgebung wollen von dir benutzt werden. Wir ssssinddd scharf und spitzzzzz.“
„Neeiiiiiiiiiinnn. Ich kauf euch nicht. Haltet die Fresse, ich kaufe euch nicht.“, schrie Tom und die umstehenden Leute, die mit einer Mischung aus Ekel, Verachtung und Mitleid mit ansehen mussten wie ein halbrasierter Irrer auf das Regal einschlug, wichen, sich mit den Einkaufswagen schützend, vorsichtshalber in eine andere Regalreihe und dachten nur: „Noch so ein Verrückter in Hamburg.“
Tom kam irgendwann bei Sinnen und verließ ganz gemächlich den Laden ohne sich der Darbietung, die er gerade abgeliefert hatte, bewusst zu sein.
Auf der Arbeit googelte er einem Geistesblitz folgend den Begriff „Klingendoktor“. Und es gab ihn wirklich. Den Hamburger Klingendoktor in Barmbek. Den suchte er nun auf, seine einzige Hoffnung.
Als er den Laden betrat, erkannte er sofort an der Wand hinter der Theke, die vollbehangen war mit Urkunden und Auszeichnungen wie „1. Vorsitzender der Gilde angespitzter Stahl“ , „1. Platz im Auspolieren bei den „Sharp Knife: Sharper Life“-Masters in Wetzlar“ oder „Ehrenbürger der Stadt Solingen“, dass er hier an der richtigen Adresse geraten ist.
Doch so groß die Hoffnung, so brutal schlug ihm die Welle der Ernüchterung entgegen, als ihn der kleine gebückte Schärfmeister nach kurzer Bemusterung des auf ein Samtkissen aufgebahrten Gegenstandes ernst und traurig kopfschüttelnd ansah.
„Nein. Da kann man leider nichts mehr machen. Die ist tot!“, sagte er und versuchte die Worte ebenso schonend wie aufrüttelnd klingen zu lassen. Dass dies ein gleichsam schmaler Grat wie der der vor ihm liegenden im Todeskampf zitternden Lamellen war, ja dessen war er sich bewusst.
„Hören Sie, Sie müssen diese Klinge JETZT wegwerfen. Trennen Sie sich sofort davon, bevor sich Ihr Trauma vergrößert.“
Etwas verwundert über die psychologischen Ratschläge dieses Mannes war Tom doch, hatte er aber das Zertifikat der Weiterbildung in „Schärfenpsychologie“ übersehen.
Tom weinte und die Tränen flossen als habe er gerade seinen heißgeliebten Goldhamster verloren. Als er wieder ansprechbar war, bot der Herr der Klinge ihm eine psychologische Betreuung in 20 Sitzungen an, die Tom dankend annahm.
Nach etwa 10 Sitzungen schaffte Tom es schon sich eine Packung der sehr kostspieligen Sechsfachklingen zu kaufen. Sein Vater hielt ihn für verrückt und stand kurz davor ihn zwangseinweisen zu lassen. In den nächsten 10 Sitzungen wurde ihm klargemacht, dass der Kauf neuer Klingen (so oft wie möglich) die endgültige und längst überfällige Abnabelung von seinem Vater darstellt. Diese bittere Pille schluckte Tom nur sehr langsam, aber jetzt, fünf Jahre später, Gerd hatte seinerseits den Kontakt zu seinem einzigen Sohn komplett abgebrochen, fühlt er sich frei wie nie. Ja, man kann mit Fug und Recht sagen, er genießt stets frisch rasiert seinen Sieg über die Unabhängigkeit wie einst es die Damenwelt mit dem Tragen von Miniröcken feierte.
Jedoch, aber nicht zu Ehren seines Vaters, der unerwartet an einer Blutvergiftung verstorben ist, nachdem er sich mit einer rostigen Klinge versucht hatte die Pulsadern aufzuschneiden, nimmt Tom noch regelmäßig stille Trauer an der Gedenkstätte seines langjährigen Freundes, mit dem er sich stets durch dick und dünn geschnitten hatte: der Rasierklinge.