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die Raben können fliegen

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18.01.2004
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die Raben können fliegen

Vor der Haustür sitzt ein Rabe, im Licht einer Laterne, und wartet auf etwas. Es steht jemand am Fenster und schaut auf die Straße, auf die Scheinwerfer, die sich den Weg beleuchten, die sich gegenseitig nicht ganz grün sind. Er überlegt sich, wo der Rabe schon überall gewesen sein könnte. Sein Blickwinkel, der ohne Zweifel ein Größerer ist. Er beneidet diesen Raben, weil er fliegen kann, weil er von Baum zu Baum springen kann, und über das Meer. Er kann sich auf Schornsteine setzen.
Nun steht da ein Herr an seinem Fenster, der auch auf den Schornsteinen sitzen will. Da will jemand in die Bäume!
Der Herr am Fenster heißt Reymund. Reymund will ein Rabe sein, weil Raben in Apfelbäume springen können. Unruhig geht er in seinem Zimmer auf und ab, sodass sein Holzfußboden knarrt. Wenn er an seinem Tisch vorbeigeht, wirft er ein paar flüchtige Blicke in sein Wasserglas. Der Boden bebt dann ein wenig von seinen Schritten, sodass kleine Erschütterungen auf dem Wasser deutlich zu sehen sind.
Am nächsten Morgen ist der Rabe verschwunden, und Reymund beschließt daraufhin auszugehen, um ihn zu suchen. Er bedenkt jedoch dabei nicht, dass der Rabe genau wegen der Gabe, um die er ihn so beineidete, schon sehr weit weg war. Der Rabe war über Nacht über die Felder geflogen, an den Windrädern von gestern vorbei, hin in die nahe gelegene Stadt, in die er an diesem Tag nicht fahren würde.
Nachdem er also beschlossen hat, ihn zu suchen, klappt er vorsichtig seine Wohnungstür zu und geht die Treppe hinab. Als er an der Stelle vorbeigeht, an der der Rabe am Tag zuvor gesessen hatte, schaut er genau dorthin, an diesen leeren Ort, den das Tier wohl Hals über Kopf verlassen hatte. Im Park angekommen, findet Reymund nicht den Raben, sondern nur Bäume, und ein Paar Sträucher. Und er sieht noch etwas. Er sieht hinüber zum See, und sein Blick ruht eine Weile auf einem Paar, das da steht und sich festhält. Es beginnt zu regnen, und er verliert einen Teil seiner Hoffnung, den Raben zu finden, denn selbst dieser würde bei diesem Wetter nicht in den Park fliegen, und sich von einem Menschen finden lassen.
Er schlägt seine Kapuze über den Kopf und beobachtet die beiden weiter. Sie haben auf den Regen nicht reagiert. Sie stehen da und küssen sich, lassen sich von dem Regen nicht nass machen. Sie fliegen, denkt er still bei sich. Da hat er sie gefunden, die Raben, hat sie bei ihrem Flug überrascht, hat sie beim träumen ertappt. Er erkennt einen lichten Fleck im Haar der Frau, in das sich die Hand des Mannes vergraben hat. Wie da das Licht reingekommen sei, denkt er sich, und findet die Antwort. Da hat sich das Licht der Laterne vom Vorabend drin eingesponnen, damit es ihm als Erkennungsmerkmal dient. Denn das er den Raben beneidete dürfte der Laterne auch aufgefallen sein.
Nachdem er sie als Raben enttarnt und ihr schönes Kleid betrachtet, ihr Gefieder, beschließt er zurück nach Hause zu gehen.
Am Abend sitzt er auf seinem Bett, es ist ganz still in seiner Wohnung, und da fallen ihm die Tiere wieder ein, die fliegen können, da fallen ihm die zwei Liebenden am See wieder ein. Er steht von seinem Bett auf, und geht zum Fenster. Es ist bereits dunkel, und da ist er wieder, der Rabe, sitzt im Licht der Laterne, und wartet auf etwas. Und Reymund denkt sich, er solle davon fliegen, in die Nacht hinaus, in die Bäume soll der Rabe springen. Er ist böse geworden, öffnet das Fenster und denkt, das will ich dir zeigen, dass ich auch ein Rabe bin, dass ich auch fliegen kann, und in die Bäume kann, und auf den Schornsteinen sitzen kann. Er stürzt sich in die Nacht und liegt kurze Zeit später da, wo der Rabe gesessen hatte, weil er sich getäuscht hatte, weil er nicht fliegen konnte. Das Einzige was er mit seinem Sturz erreicht hatte war, dass das schwarze Tier davon geflogen war.

(Sebastian Schönbeck ©2004)

 

Hi Sebastian,

Also ich muss schon sagen, deine Geschichte hats schon in sich. Dieser Reymond ist wirklich zu bemitleiden, was gegen Ende der Story besonders klar wird, wenn er so allein, "ohne Flügel" in seiner Wohnung sitzt. Aber den letzten Satz finde ich etwas pessimistisch, denn durch seinen missglückten Versuch, seinen diem zu carpen (höhö), zu deutsch - aus seinem tristen Alltag auszubrechen und sein Glück zu suchen, verschreckt er ja denjenigen, der es schon gefunden hat (den Raben).
Nicht sehr motivierend für angehende Flügelbesitzer ;-)

Aber trotzdem, dein Schreibstil gefällt mir und die Botschaft ist auch klar rübergekommen. Immer weiter so.

viele Grüsse
Gerrit

 

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