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Die Rückseite von Allem
Währenddessen, am anderen Ende des Universums, sitzt ein Mann alleine in einer Bar.
In der Hand hält er ein Glas, das mit einer grünlich schimmernden Flüssigkeit gefüllt ist, auf deren Oberfläche sich konzentrische Wellen bilden. Die Hand zittert, der Mann ist nervös. Die andere Hand fährt schweißnass durch seine spärlichen weißen Haare und bringt diese noch weiter durcheinander.
Der Mann stellt das Glas auf den Tisch und holt eine Karte aus seiner Manteltasche. Er liest den Namen, die Adresse und die Uhrzeit, vergleicht letztere mit der Anzeige an seinem Handgelenk und schüttelt den Kopf. Da er auf keinen Fall zu spät kommen wollte, sitzt er seit über einer Stunde an diesem Tisch. Immer wieder wendet er seinen Blick prüfend Richtung Fenster, den Atem angehalten, nur um die Luft danach mit einem erleichterten Seufzer aus seiner Lunge zu pressen. Der Mann verflucht die Entscheidung seiner Jugend, nie mit dem Rauchen angefangen zu haben. Dies wäre eigentlich der richtige Zeitpunkt für eine Zigarette.
In seiner anderen Manteltasche steckt übrigens eine Pistole mit genau einer Kugel.
Ich betrete die Bar, nicke dem Wirt hinter dem Tresen kurz zu und setze mich dann an den Tisch zu meiner Verabredung. Auf die Sekunde pünktlich, natürlich.
"Sie sind spät", begrüßt er mich mit tadelndem Unterton in seiner Stimme, den ich zu ignorieren beschließe.
"Sie sind früh", antworte ich stattdessen ruhig.
"Ja. Ja, das ist vermutlich richtig."
"Also, lassen Sie hören." Smalltalk ist mir suspekt. Schon immer gewesen, wird es immer sein. Ich mag es nicht, wenn Menschen sinnlose kreative Energien in Gespräche über das Wetter stecken. Wenn man sich etwas zu sagen hat, soll man es sagen, wenn nicht, dann nicht.
"Was soll ich hören lassen?" Meine Direktheit irritiert ihn. Er greift nach der Brille auf seiner Nase und prüft ihren korrekten Sitz.
"Sie haben mich um dieses Treffen gebeten und ich brenne darauf, den Grund zu erfahren."
"Okay", beginnt er und nimmt noch einen Schluck aus dem Glas. "Wissen Sie, wer ich bin?"
"Offenbar ein Mann mit noch mehr Geduld als ich."
"Verzeihen Sie. Wenn ich nervös bin, neige ich ein wenig zum Schwafeln. Dabei ist so wenig Zeit." Er stoppt, wirft einen Blick auf seine Uhr und lässt ihn danach einmal durch die Bar schweifen. "Ich bin Erfinder", sagt er schließlich. "Ich erfinde Sachen."
"Sachen."
"Ganz genau. Sachen. Alles mögliche - flauschige Sachen, runde Sachen, scharfkantige, eckige und manchmal grüne. Polierte Sachen, verworrene, unschuldige, gefährliche, klitzekleine, überraschende und traurige Sachen. Kontrollierte, gigantische Sachen, ununterbro..."
"Ja, verstehe", sage ich ungeduldig, denn die Liste scheint noch ziemlich lang zu sein. Auch wenn ich natürlich alle Zeit der Welt habe, muss ich sie nicht unbedingt hier verbringen. "Jede Menge Zeug."
"Sie sind zielgerichtet. Genau so, wie ich es mir vorgestellt habe." Er nimmt einen weiteren Schluck, danach ist das Glas leer. "Mein Chef, wie so ein Chef nunmal so ist, der war nie ganz zufrieden. Karl, hat er immer gesagt, denn das ist mein Name, Karl sagte er also, da müssen Sie nochmal ran. Da fehlt das gewisse Etwas, hat er gesagt. Also, der Chef fand meine Sachen immer ganz okay, aber nie... groß genug." Der Mann fuchtelt mit den Händen, um seinen Worten Ausdruck zu verleihen und ich überlege, in wieviele Scherben das Glas wohl zerspringen würde, würde er es jetzt fallenlassen. "Um nicht zu sagen, unspektakulär."
"Waren sie das denn?"
"Natürlich waren sie das", erklärt er. "Jede Sache ist am Anfang unspektakulär. Es ist der Mythos, der Dinge groß erscheinen lässt."
"Welcher Mythos?"
"Jeder Mythos." Er schließt für einen Moment die Augen, versucht, den Faden wiederzufinden. "Auf jeden Fall habe ich mich dann eines Tages in meine Werkstatt gesetzt und etwas erfunden. Etwas Großes. Etwas so unvorstellbar Großes, dass niemand, nicht einmal mein Chef, die Dimensionen begreifen konnte." Der Mann erhebt seinen Zeigefinger und senkt seine Stimme um eine Nuance. Nicht viel, nur eine Nuance. "Möchten Sie wissen, was schlimmer ist, als ein Mensch mit Macht? Ein Mensch mit Macht und Angst. Und mein Chef hat Angst bekommen, jede Menge Angst. Weil er es nicht verstanden hat. Er wusste nicht, was er darüber denken sollte. Also hat er mir befohlen, etwas zu erfinden, um es wieder zu zerstören." Eine weitere kurze Pause, die mein Gesprächspartner vermutlich der Frage widmet, ob er mir trauen kann. Dabei spielt das keine Rolle, denn er hat keine Wahl. "Und das habe ich getan. Ich habe ein Monster erschaffen, dessen einziger Zweck darin besteht, meine andere Erfindung zu zerstören."
"Die große."
"Richtig."
"Was haben Sie erfunden, Karl?"
"Das Universum", sagt mein Gegenüber. "Ich habe das Universum erfunden."
"Das ganze?", frage ich einen Moment später. Mal im Ernst, was soll man auf so etwas schon groß erwidern? Der Barkeeper grinst, aber wir beide nehmen es nicht wahr.
"Selbstverständlich. Das komplette Universum, mit Planeten, Sonnen und ganz viel Leere drumherum. Die Leere gehört dazu, verstehen Sie? Viele wissen das nicht zu schätzen, aber ohne die Leere wäre der Rest bedeutungslos. Und jetzt... jetzt ist das Monster auf dem Weg und niemand kann es aufhalten."
"Es will also das Universum zerstören." Niemand soll hinterher behaupten können, ich hätte mir nicht zumindest Mühe gegeben, unter den vielen Worten des Fremden den Anschluss nicht zu verlieren. Aber ich bin mir nicht sicher, darum frage ich lieber nochmal nach. "Richtig?"
"Nicht einfach nur zerstören." Seine Stimme ist wieder lauter geworden, etwas panisch, zitternd. "Es wird dafür sorgen, dass nichts von meiner Erfindung übrig bleibt, keine noch so winzige Idee." Er nimmt seine Brille ab und lässt sie zwischen seinen Fingern rotieren. "Ansonsten könnte ja einfach jemand ein neues bauen. Nein, das Monster wird jede Spur des Universums vernichten, jede einzelne Information." Der Mann sieht mir direkt in die Augen. Vielleicht ist er verrückt, auf jeden Fall ein wenig wahnsinnig, aber sein Blick ist klar. "Und sein Weg wird es direkt zu mir führen."
"Okay, dieses Monster gehört vermutlich nicht zu Ihren besten Ideen, oder? Ich meine, es ist ja nicht so, dass die Folgen nicht absehbar gewesen wären."
"Nein, im Nachhinein vermutlich nicht", lacht er humorlos. "Aber ich habe es damals einfach nicht erkannt, verstehen Sie? Ich habe nur etwas geschaffen, um etwas Anderes zu zerstören. So etwas passiert ständig in meinem Beruf. Man erfindet etwas, und wenn es nicht funktioniert, zerstört man es wieder. Ich habe nicht gesehen, dass dieses bestimmte Etwas so groß geworden ist, so unvorstellbar groß, dass es alles in sich vereint. Alles. Mich, Sie, diese Bar, einfach alles." Er legt die Brille auf den Tisch und fährt mit den Handballen über seinen Nasenrücken. Einen Moment fürchte ich, er würde eine Träne wegwischen. Ich kann Männer nicht weinen sehen. Aber der Mann ist einfach nur erschöpft. Er versucht, sich durch leichten Druck auf seine Schläfe zu beruhigen. "Ich habe das Monster so entwickelt, dass es nach einer bestimmten Methode vorgeht. Als erstes wird es die Baupläne zerstören. Danach den Rest. Und um die Pläne zu bekommen, wird es seinen Weg bei mir beginnen."
"Sie haben Baupläne für das Universum?"
"Wie hätte ich es sonst bauen können?"
"Okay", sage ich. "Mal angenommen, ich glaube diese Geschichte. Nein, angenommen, ich verstehe sie irgendwann, um mir zu überlegen, ob ich sie glauben kann. Was wollen Sie nun von mir?"
"Die ganze Sache ist mir einfach über den Kopf gewachsen, verstehen Sie? Ich kann einfach nicht verantworten, dass ich für das Ende von Allem verantwortlich bin. Es muss aufgehalten werden. Und darum brauche ich Ihre Hilfe." Der Mann setzt seine Brille wieder auf und versucht erfolglos, einen letzten Tropfen Flüssigkeit in seinem Glas zusammenzukratzen. "Sie müssen meine Pläne retten. Gehen Sie in meine Werkstatt, holen die Pläne und bringen sie so weit weg, wie Sie nur können. Weit genug, damit das Monster sie nicht findet." Der Mann beginnt in seiner Hosentasche zu nesteln und zieht einen Schlüssel hervor, den er nun auf den Tisch zwischen uns legt. "Für das Rolltor."
"Was macht Sie so sicher, dass ich der richtige Mann für so etwas bin?"
"Ich weiß, wer Sie sind", sagt er. "Man kann nicht ein Universum erfinden und dann nicht irgendwann über jemanden wie Sie stolpern. Ich kenne Ihr Geheimnis, besser als Sie selbst vermutlich, und daher weiß ich, dass Sie der Richtige sind. Ich weiß zum Beispiel auch, dass Sie nicht für Geld arbeiten." Das stimmt. Nichts könnte mich weniger interessieren als Geld.
Eigentlich wollte ich an dieser Stelle antworten, wollte sagen, dass ich den Job übernehme und er sich keine Sorgen machen muss. Doch ich schaffe es gerade noch, den Schlüssel an mich zu nehmen. Der Grund ist folgender:
Glas splittert.
Die Fensterscheibe neben unserem Tisch explodiert in einem Regen aus messerscharfen Scherben, die binnen Sekundenbruchteilen die Bar in einem Meer aus glitzerndem Staub ertrinken lassen. Ohne die kitschige Poesie dieses Vorgangs zu würdigen, nehme ich also den Schlüssel und mache einen Satz weg von unserem Tisch.
"Gehen Sie!", sagt der Mann. "Gehen Sie und retten Sie das Universum."
Das Monster landet dort, wo eben noch ein Tisch gestanden hatte, der inzwischen einem Haufen Sägespäne und Zahnstocher gewichen ist, und damit nur wenige Zentimeter vor dem Gesicht meines Auftraggebers. Der greift mit zitternder Hand in seine Manteltasche und zieht die Pistole hervor. "Ich weiß, was zu tun ist."
"Sie werden sicher mehr als die eine Kugel brauchen."
"Die Kugel ist nicht für das Monster", antwortet er. "Jetzt gehen Sie!"
Ich helfe dem Barkeeper auf, der vor Schreck das Gleichgewicht verloren hat und zusammen sprinten wir Richtung Tür. Wenige Augenblicke, nachdem die Tür sich hinter uns geschlossen hat, höre ich einen Schuss.
...
Ich hätte etwas Anderes erwartet. Eine Selbstschussanlage vielleicht. Piepende Geräte, die einem erst die Iris und die DNA scannen müssen, bevor sie die Tür öffnen. Hunde auf jeden Fall und Wachleute, die mit ebendiesen Hunden um den Zaun patrouillieren. Einen Zaun. Nichts davon gibt es hier.
Das hier ist einfach nur ein weites Feld mitten im Nirgendwo, auf dem zwei Häuser stehen. Eine unwahrscheinlich große und unglaublich vergammelt aussehende Lagerhalle mit blinden Fenstern, verrosteten Stahlträgern und mit Graffiti verzierten Wänden und daneben ein kleines Häuschen, dessen Tür mit vergoldeten Lettern beschriftet ist. "Werksleitung" steht dort.
Ich gehe zu der Lagerhalle und dort Richtung Eingangstor. Das Schloss hängt schief in seiner Fassung und kann sich vermutlich vor lauter Wehmut kaum noch an seine letzte Berührung mit einem Schlüssel erinnern. Stattdessen ist der Griff des Rolltores mit einem alten Fahrradschloss an den Rahmen gekettet. Ich probiere den Schlüssel aus der Bar und öffne das quietschende Tor.
Drinnen herrscht Chaos. Im Gegensatz zum unerwarteten äußeren Eindruck wirkt die Halle von Innen exakt so, wie man sich die Werkstatt eines echten Erfinders nun einmal so vorstellt. Unachtsam abgestellte Kisten voller skurriler Gegenstände, die Wände behangen mit irrwitzigen Zeichnungen und Skizzen von noch viel skurrileren Gegenständen, von denen mir einige irgendwie bekannt vorkommen, andere mir aber bei der bloßen Vorstellung die Hirnwindungen umkrempeln. Dimensionen sind offenbar Dinge, die meinen Auftraggeber nicht sonderlich interessiert hatten.
Neben dem Schreibtisch endlose Reihen Regale, wiederum vollgestellt mit noch viel endloseren Kisten, die mit Filzstift und mehr als krakeliger Handschrift beschriftet wurden. "Mechanische Dinge ohne Kurbel 7-9" steht auf einer. Oder "Quantenregulatordesintegrator dritte Stufe", "Nietenklammern Härte B, Ohren und Rundzwecken", "Alte Sandwiches - NICHT essen". Auf einem Karton steht "Filzstifte zur Kistenbeschriftung", auf einem anderen schlicht "Vier". Dieser ist leer.
Noch bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, der sich mit der Frage beschäftigen sollte, wie um alles in der Welt ich in solch einem Chaos die Baupläne finden sollte, fällt mein Blick auf zwei Skizzen direkt über dem Schreibtisch. Skizzen voller Klarheit, jeweils bestehend aus nicht mehr als einer handvoll geschwungener Linien, deren Schlichtheit mich einen Moment zum Lächeln bringt. Nur, weil etwas groß ist, muss es nicht unbedingt kompliziert sein.
Dann nehme ich die Bilder von der Wand, falte sie ordentlich zusammen und stecke sie in meinen Rucksack. Teil eins der Aufgabe erledigt.
Nun muss ich die Pläne nur noch ans andere Ende des Universums bringen. Dies ist der leichtere Teil. Ich brauche dazu nur eine Decke, die Beschwörungsformel und ein Lorbeerblatt. Die Decke habe ich in meinem Rucksack, die Formel in meinem Kopf und den Lorbeer finde ich im Karton "Gewürze und schmackhaftes Blattwerk", drittes Regal links, siebtes Fach.
Dann breite ich die Decke, zwei mal zwei Meter, auf dem Boden aus, lege das Blatt genau in die Mitte und murmele die Formel. Und genau in den Moment, in dem ich bei "reihgew rebatztej" angekommen bin, beginnt die Decke zu glühen. Erst grün, dann leicht gelblich und dann, als das Lorbeerblatt sich auflöst und ein tatsächlich sehr schmackhaftes Aroma versprüht, schließlich orange.
Der Boden unter ihr löst sich auf und weicht einer Art Loch. "Loch" deshalb, weil es dort ziemlich tief runter geht, "eine Art", weil es zugleich auch in jede andere Richtung geht. Unendlich weit, um genau zu sein. Das gesamte Universum breitet sich vor meinen Augen aus, endlose Schwärze, die ich durch ein vier Quadratmeter großes Fenster betrachte. Keine Sterne, keine Sonnensysteme, keine Galaxien, nur Schwärze. Dies ist die dunkle, die Rückseite des Universums.
BAMM macht das rostige Rolltor, RUMMS macht der Körper des Monsters, als es auf dem Boden landet und daraufhin ein markerschütterndes Geräusch erklingen lässt, das meine Ohren wünschen lässt, sie würden sich auf der Innenseite meines Schädels befinden. Das Monster baut sich zu seiner vollen Größe vor mir auf und nimmt eine Drohgebärde ein. Ich nehme an, dass es eine Drohgebärde ist, denn in mir macht sich das ungute Gefühl breit, dass ich die nächsten Sekunden vermutlich nicht mit meinem Kopf auf den Schultern verbringen werde. Deshalb tue ich das einzig Richtige und springe durch das Loch in das Universum.
...
Nichts.
...
Ich lande mit den Füßen voraus in einem Baum. Eine Eiche, wenn mich meine botanischen Kenntnisse nicht täuschen. Vermutlich wäre ich ungebremst auf den Rasen unter mir gefallen, wenn ich denn nicht auf diesem Ast gelandet wäre. Der etwas ungewohnte Gedanke, dass es nun wieder ein "unter mir" gibt, fechtet mit dem Schmerz in meiner Brust einen Kampf um meine ungeteilte Aufmerksamkeit aus, der schließlich von einer dritten Partei gewonnen wird: Ein Mann in einem grauen Ganzkörperanzug, auf dessen Brust ein gelbes E prangt. Anstelle eines Gesichtes trägt er eine ebenfalls grau glänzende Maske. Nein, das stimmt nicht. Die Maske trägt er über dem Gesicht. Mein Kopf ist noch ein wenig durcheinander.
"Was machen Sie in meinem Baum?", fragt Harry Ostermann von unten herauf. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass er solch einen Satz sagt, aber man merkt ihm die mangelnde Übung nicht an.
"Backen", antworte ich, da mir nichts Intelligentes einfällt.
"Kommen Sie sofort da runter! Das hier ist ein Privatgrundstück. Ich könnte Sie verklagen, wissen Sie das?"
"Darf ich noch kurz nachsehen, ob mein Körper noch da ist?" Beine, Arme, Kopf, check. Erleichtert klettere ich den Baum hinab.
"Also", fragt der Mann in Grau, als ich ihm gegenüber stehe, "was machen Sie in meinem Baum?"
"Wo bin ich hier? Warum sehen Sie so albern aus?" Ich halte mir den Kopf, während meine Augen versuchen, nicht aus den Höhlen zu fallen.
"Ich habe zuerst gefragt. Und das hier ist mein Garten."
"Ja, guter Punkt", gebe ich auf. "Ich bin durch das Universum gefallen. Mitten durch, geradewegs dran vorbei und hinten über den Rand. Alles gleichzeitig. Und schließlich hier gelandet. Warum sehen Sie so albern aus?"
"Albern? Ich muss doch sehr bitten." Harry Ostermann muss innerlich zugeben, dass ihn das doch ein wenig gekränkt hat. Also wirft er sich theatralisch in Pose, Brust raus, Blick stolz geradeaus. "Ich bin Easterman." Und als er merkt, dass diese Enthüllung bei mir keinerlei Wirkung zeigt, fügt er erklärend hinzu: "Ein Superheld."
"Superheld? Wie in einem Comic? Aber Sie sind dick. Und alt."
"Ich wurde als Kind von einem Meteoriten getroffen", erklärt er. "Seitdem habe ich Superkräfte."
"Und Haarausfall."
"Der hat nichts damit zu tun, das sind die Gene. Schon mein Opa hatte..." Er beendet seinen Satz abrupt. "Hey, das geht Sie gar nichts an."
"Was für Superkräfte?"
"Bitte? Oh, ach so." Er sieht sich verstohlen um und als er sicher ist, dass uns niemand beobachtet, flüstert er: "Kommen Sie in mein Versteck. Hier ist es nicht sicher."
Endlich habe ich einen kurzen Moment, mich umzusehen. Ich befinde ich mich im Garten eines kleinen Einfamilienhauses. Weißer Gartenzaun, sauber getrimmte Hecke, Wäscheleine zwischen Eiche und Mauerwerk, gemähter Rasen, das ganze Programm. Da hinten kann ich ein Rosenbeet sehen, einen winzigenTeich und einen abgesteckten Bereich für Kartoffeln.
Der Mann führt mich vorbei an zwei alten Tannenbäumen in ein Gartenhäuschen. Einer dieser Geräteschuppen, in denen der passionierte Hobbygärtner von Welt seine Spaten und den Rasenmäher lagert. Und einen Knopf, der, wenn man ihn drückt, eine Geheimtür öffnet, die zehn Meter nach unten führt in einen unterirdischen, mit Stahl verkleideten Raum, in dem sich wiederum ein Schreibtisch, ein Aktenschrank und zwei sehr gemütliche Ohrensessel befinden. Easterman drückt diesen Knopf und wir steigen die Treppe hinab.
"Entschuldigen Sie die Geheimhaltung. Aber meine Frau sieht es nicht gerne, wenn ich auf Verbrecherjagd gehe", grinst er und macht eine ausladene Geste. "Willkommen in meinem Versteck."
"Ihre Frau?"
"Seit diesem Vorfall in der Bank ist meine Elisabeth sehr um mich besorgt. Ich sage immer, Elisabeth, sage ich, mir kann nichts passieren. Ich bin Easterman. Du weißt, dass ich kugelsicher bin. Aber sie will mir das nicht glauben. Können Sie sich das vorstellen?"
"Was ist in der Bank passiert?" Mein Kopf ist immer noch ein wenig durcheinander. So ein Gehirn ist ein interessantes Gebilde. Manchmal reicht ein kleiner Schlag an die richtige Stelle und es vergisst im Rausch der Informationen, welche davon wichtig sind.
"Ich bin böse gestolpert und hab mir den Fuß verstaucht. Musste ihn zwei Tage lang auf Eis legen. Meine Frau hat mir dann so ein Kamillenbad gemacht. Sehr wohltuend." Er setzt sich in einen der Sessel, der die Anwesenheit mit einem leisen Knarzen zur Kenntnis nimmt, und deutet mir, im anderen Platz zu nehmen. "Es ist schön, mal wieder Gesellschaft zu haben. Was ist Ihre Geschichte?"
"Meine Geschichte ist lang", beginne ich. "Glaube ich. Ich weiß nicht genau, aber wenn ich mich zurückerinnere, sehe ich viele Fragmente. Dinge, Personen, Orte, Zeiten. Das meiste davon würden Sie mir nicht glauben. Und die Teile, die Sie glauben würden, kann ich nicht erzählen."
"Aber Sie sind kein Superschurke, oder so?" Er drückt auf einen in seinem Sessel versteckten Knopf und ein Tisch fährt aus dem Boden. Darauf eine Kanne und zwei Tassen. "Tee?"
"Nein. Nein, ich bin kein Superschurke."
"Das ist gut. Ich hätte auch gar keine Lust, heute zu arbeiten. Es ist schließlich Sonntag."
"Warum tragen Sie dann Ihren Anzug?"
"Wissen Sie, ich liebe meine Frau." Er lächelt, wie man das nun einmal so macht, wenn man solche Dinge sagt und sie auch so meint. "Wirklich. Aber ich genieße diese Stunden, wenn sie sich zu ihrem Mittagsschlaf hinlegt und ich hier ein paar Erinnerungen pflegen kann."
...
Zur selben Zeit ist das Monster irritiert.
Noch nie zuvor hat es ein Tor zur Rückseite des Universums gesehen. Generell hat es noch nicht so viele Dinge gesehen, da es noch nicht sonderlich lange existiert. Aber solch ein Tor ist auf jeden Fall das Ungewöhnlichste, was es bisher noch nicht gesehen hat. Seit ich hindurch gesprungen bin, ist es geschrumpft und es schrumpft noch immer. So sind diese Tore konzipiert, keine Spuren hinterlassen.
Das Monster passt nicht hindurch. Aber es kann und wird natürlich nicht aufgeben. Ein Zweck und dem muss es folgen. Immer mehr Einzelteile fallen von seinem Körper, landen auf dem Boden der Lagerhalle und bewegen sich autonom Richtung Loch. Und dann, Stück für Stück, folgt das Monster mir.
...
"Sie kommen also vom anderen Ende des Universums?"
"Ganz genau." Würde man das Universum auf ein Blatt Papier zeichnen und dort, wo die Erde ist, einen Punkt setzen, dann wäre mein Herkunftsort der Punkt, der am weitesten davon entfernt ist. Das behalte ich für mich, Geometrie ist langweilig.
"Dann sind Sie ein Alien, richtig? Aber Sie sehen gar nicht so aus."
"Nein, kein Alien. Ich komme nur nicht von hier." Irgendwo in meinem Kopf spüre ich ein leises Kratzen. Nicht schlimm, nur so ein Gedanke. Einer dieser Gedanken, die einem die ganze Zeit ins Ohr flüstern, dass man irgendwas vergessen hätte. Etwas Wichtiges. "Haben Sie Zucker?" Ja, das muss es gewesen sein. In einen ordentlichen Tee gehört schließlich Zucker.
Während ich also mit einem irdischen Superhelden mit deutlichem Bauchansatz, spärlichem Haar und Dreitagebart Tee trinke, während Elisabeth Ostermann ihren Mittagsschlaf hält, während zwei Eichhörnchen sich um eine Haselnuss streiten, fallen Monsterteile von Himmel, verfangen sich in den Ästen der Bäume, landen auf dem Rasen und im Rosenbeet, mäandern über die Wiese, bis sie sich schließlich irgendwo in der Mitte treffen und das Monster sich Stück für Stück wieder zusammensetzt.
Es nimmt seine Umgebung in sich auf, verarbeitet seine Eindrücke und nimmt am Ende mit einem seiner Sinne meine Gegenwart wahr. Und dann setzt es sich mit einem Rumpeln in Bewegung. Dieses Geräusch endlich bricht die Kruste über meinem Gehirn und ich erinnere mich.
"Wir müssen weg hier", sage ich und stelle meine Tasse auf den Tisch.
"Warum diese Hektik?"
"Ich habe einen Fehler gemacht", sage ich. Das ist neu, ich mache niemals Fehler. Ich springe allerdings auch niemals ans andere Ende von Allem. "Das Monster ist da." Harry Ostermann und ich springen aus unseren Sesseln und steigen die Treppe hinauf. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie das Monster die Rosen plättet.
"Das wird Elisabeth nicht gefallen", grummelt Easterman und lässt seine Schultern hängen.
"Sieht so aus, als würden Sie heute doch noch arbeiten müssen."
"Ja, sieht ganz so aus." Er rückt seine Maske gerade, prüft den korrekten Sitz seiner Superheldenhose und wirft sich dann mit Gebrüll dem Monster entgegen. "Raus aus meinem Garten!" Er drischt auf das Monster ein, das jeden seiner Schläge mit einem kurzen Grollen quittiert und seinerseits versucht, den Helden abzuschütteln. Aber eines muss man Easterman lassen, er ist sehr anhänglich.
Nun geschehen Dinge und sie geschehen schnell. Ich nutze nämlich diese Ablenkung und renne ins Haus. Die Tür ist zum Glück nicht abgeschlossen. Die kleine Treppe rauf, in die Küche. Schränke durchwühlen, über dem Herd, unter dem Herd, neben dem Herd. Die Dose aufreissen, den Inhalt an mich nehmen. Dann ab ins Schlafzimmer. Auf Zehenspitzen an der nach wie vor schlafenden Frau vorbei, den Wäscheschrank öffnen, ein Bettlaken herausholen, die Sicherheitsnadel von der Kommode nehmen. Zurück in den Garten, das Bettlaken auf die Wäscheleine hängen, das Lorbeerblatt aus der Küche mit der Sicherheitsnadel in die Mitte heften und die Formel murmeln. Grün, gelblich, Lorbeerblattdampf, orange. Geschafft.
Der Superheld ist immer noch in seinen Kampf vertieft, hat sich fest an das Monster gekrallt und geht inzwischen dazu über, saftige Tritte zu verteilen. Das Monster schafft es schließlich, Easterman abzuwerfen, der in hohem Bogen in eine der Tannen fällt. Es nimmt mich wahr und kommt auf mich zu. Ich nehme mir die Zeit, kurz dreckig zu grinsen, da auch in meinem Geschäft Klappern zum Handwerk gehört und stelle mich direkt vor das Bettlaken.
Der Rest ist dann eine Mischung aus verschiedenen Tatsachen. Erstens: Monster sind dumm, haben auffallend schlechte Reflexe und kein Kurzzeitgedächtnis. Zweitens: Ich bin ziemlich gut darin, im letzten Moment zur Seite zu springen. Drittens: Dimensionstore funktionieren nur in eine Richtung.
"Was ist das?", fragt Harry Ostermann hinterher, während er sich die Tannennadeln vom Anzug klopft, und deutet auf das Bettlaken.
"Die Rückseite."
"Von was?"
"Keine Ahnung. Von Allem, schätze ich."
"Sieht leer aus."
"Ja. Das Monster wird am anderen Ende des Universums wieder rauskommen. Das Tor wird sich schließen und das Monster kann nicht zurückkehren. Wir sollten sicher sein."
"Und Sie?"
"Ich habe noch etwas zu erledigen. Ich muss die Baupläne des Universums verstecken."
"Ja, tun Sie das", sagt Easterman tonlos. "Augenblick, haben Sie gerade gesagt..."
"Ich denke schon."
"Wer zum Geier sind Sie?"
...
Das Monster denkt.
Es weiß, wo ich bin, hat die Pläne wahrgenommen.
Der Weg zurück ist weit, aber Monster sterben nicht. Sie haben alle Zeit der Welt.
Und so macht es sich auf den Weg.