Die Rückkehrer von Tauklus IV
-„In der Flüstertüte
buddelt Geschichte“- Paul Celan
1. Die letzten Sekunden oder kann Staub denken
Er war ein großer Mann. Körperlich gesehen. Jetzt würde er am liebsten von der Bildfläche verschwinden. Allerdings in einem anderen Sinn, als es ihm bevorsteht. Der Kontrollraum, in dem er sitzt, ist der einzige Raum, der noch eine Zuflucht bietet. Wahrscheinlich aber nicht mehr für lange Zeit.
Den Notruf hatte er noch absetzen können, dann fiel die Energieversorgung aus. Einige wenige Bildschirme flackern noch. Das Notstromaggregat hält sie in Gang. Es ist tatsächlich Zeit, sich seine letzten Gedanken zu machen. Schon oft hat er sich überlegt, wie es sei, wenn ein Lebewesen stirbt. Er hat nun Angst davor, dass es qualvoll oder niederträchtig sein könne, was er zuletzt erleben werde. Panik durchzuckt ihn und der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Wäre ohne sein Zutun alles anders geworden? Er lehnt sich in den Sitz und atmet tief durch. Ein Grollen läuft durch die Raumhafenstation.
Es wehrt sich noch jemand. Hoffnung steigt auf und versickert wieder.
Sie hatten hier ein friedliches Leben geführt, und dementsprechend keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Waren sorglos gewesen. Auf Tauklus IV. Tauklus IV umlief die Sonne XZ-0168. Seinen Namenszusatz IV verdankte der Planet nicht der Tatsache, dass er der vierte Planet dieses Sonnensystems war, sondern das er der vierte Namensvorschlag der ersten Siedler gewesen war. Die Besiedlung des Planeten ist immer gering geblieben. Etwa 400 Ex-Terraner und Nachkömmlinge der ersten Siedler leben heute auf Tauklus. Nicht viel mehr waren es in der Vergangenheit gewesen. Und sekündlich werden es weniger. Einige können vielleicht noch fliehen. In die Berge oder die weiten Steppen mit dem orangefarbenen Gras. Er wird einer der letzten sein, der durch einen Desintegrator in Gas und Staub zerfällt. Ein entropisches Stürmchen ... Darauf läuft es hinaus.
„Werden angegriffen, Systeme fallen aus, bitten um Hilfe“, war der Text des Notrufes gewesen. Aber jetzt ist kein Durchkommen mehr zur Waffenkammer.
Es war ein Plan. Von Anfang an. Mit Beginn der unnatürlichen Ereignisse auf Tauklus hätte er vorsichtiger sein müssen. Er ist der Kommandant, Julian Templor. Er lacht sarkastisch auf. Der Kommandant, der für die Katastrophe sorgt. Wie im Fieber sieht er auf die restlichen Bildschirme. Doch er vergisst sogleich, was er gesehen hat. Will es nicht sehen. Die Rückkehrer von Tauklus IV halten eine blutige - nein -, zerstörerische Rückkehr. Und kaum etwas hält sie auf. Ist er nicht zu vorschnell? Eine Chance! Aber welche? Seit jemand den Großalarm ausgelöst hat, ist der Kontrollraum abgeschottet. Nur er war zu diesem Zeitpunkt hier. Nur von Innen kann das Schott gewaltlos geöffnet werden.
Ich bin ein Feigling, denkt er. Ich hätte ...schon längst ... heraus müssen.
Den Kampf aufnehmen. Doch darin ist er nicht geschult! Er war Techniker gewesen, bevor er zum Kommandanten ernannt wurde. Nervös beisst er sich auf die Unterlippe. Fast so fest, dass Blut aufquillt. Unruhig blickt er im Raum herum. Nichts da, um sich zu töten. Dem Verhängnis ein Schnippchen zu schlagen. Wenigstens den Feinden aus der Hand nehmen, wie er stirbt. Er hört auf zu denken. Es scheppert gegen das Schott. Sie sind da!
„Komm heraus Kommandant, es ist vorbei“, quakt es aus dem Lautsprecher. Er erhebt sich aus seinem Sitz. Geht langsam zu dem Schott hinüber und betätigt gedankenverloren den Öffnungsmechanismus. Ein Desintegratorstrahl prasselt aus dem Gang auf ihn zu, hüllt ihn ein und lässt ihn in eine Wolke aus Staub und Gas zerplatzen.
2. Die Rückkehrer
2.1. Der Spaziergang und der missglückte Fang
Der Kommandant Julian Templor hatte Lust auf einen Spaziergang. Sie hatten vor, den Stützpunkt auf Tauklus IV zu vergrößern und Templor wollte es sich nicht nehmen lassen, per Fuß das Gebiet zu sondieren, das für die Erweiterung in Frage kam. Tauklus IV kreiste um eine Blaue Sonne innerhalb zweier Tauklus-Tage und hatte die 12-fache Größe der Erde. Diese langsame Rotation des Planeten, gemessen an der außerordentlich schnellen Bewegung um seine Sonne, führte zu drastisch wechselnden Wetterphänomenen, weshalb diese Welt auch häufig von den Siedlern als Schmetterlingsplanet bezeichnet wurde. Templor trug eine All-Wetter-Kombi mit verstellbarer Wärmeregulation, Gravitationsregulator und eigener Sauerstoffversorgung mit aufklappbarem Raumhelm. Als Templor die Siedlung südwärts verließ, war der Helm zurückgeklappt. Der Himmel war bedeckt, und den bläulichen Schimmer der Sonne ahnte man hinter den Wolken. Sein Schritt trug ihn schnell über einen Hügel hinweg auf eine der Grassteppen zu, die überall auf Tauklus den Grossteil der Vegetation ausmachten. Sonst gab es, außer einer kleinen echsenähnlichen Art, die sich von calciumhaltigen Steinen ernährten, kein weiteres Leben. Vor etwa 100 Terrajahren ist der Planet besiedelt worden, dachte Templor entzückt. Es war, was die Besiedlung betraf, eine junge Welt, die sich die Terraner erschlossen hatten. Auch er, Templor, war auf Terra geboren. Hatte sich aber nach seinem Studium entschieden, auf einer neuen Welt sein Glück zu suchen. Er war als Techniker nach Tauklus gekommen und nun seit zwei Jahren Kommandant der Besiedlung. Er lächelte bei diesem Gedanken; ja, es war seine Welt geworden. Die ca. vierhundert Siedler kannte er alle. Es ging familiär zu auf Tauklus IV. Er betrat die Grassteppe und verharrte einen Augenblick. Bis zum Horizont zog sich die Steppe hin. Er genoss den Ausblick und dachte daran, dass bei den Siedlern das orangefarbene Gras hoch im Kurs stand. Rauchte man davon, traten augenblicklich halluzinatorische Wirkungen ein, die als Unterhaltungsmittel geschätzt wurden.
Er hatte noch nie von dem Gras einen Zug getan, und nun erschien es ihm der Würde eines Kommandanten abträglich zu sein, Drogen zu nehmen. Das Gras unter seinen Stiefeln bog sich und knirschte dabei. Es war biegsamer und zugleich fester als auf Terra. Ein Blitz zuckte aus dem Himmel herab und ein leichter Wind kam auf. Er zögerte kurz, entschied sich dann aber doch dazu, den Raumhelm nicht zuzuklappen. Er war etwa eine Stunde Terrazeit unterwegs, als er eines der kleinen echsenartigen Tiere sah. Das Tier blickte auf und seine roten Pupillen vergrößerten sich. Es würgte gerade einen kleinen Stein herunter und musterte müde den sich nähernden Kommandanten. Diese Tiere sind sehr scheu, aber vielleicht gelingt es mir, dieses hier zu fangen, dachte Templor. „Na, du Kleiner!“, er trat weiter in Richtung des Tieres vor. „Wirst doch brav bleiben und nicht davon rennen.“ Vorsichtig näherte sich Templor dem Tier. Die Echse schien uneins zu sein, ob sie fliehen oder in Ruhe den Stein verdauen sollte. Als der Kommandant noch etwa einen Meter von dem Tier entfernt war, sprang er los, um mit seinen Händen die Echse zu fangen. Blitzschnell jagte die Echse davon und Templor stürzte auf den Boden. Mit dem Kopf schlug er so heftig auf, dass er für einige Minuten das Bewusstsein verlor. Das Gras schlug dem Bewusstlosen, vom stärker werdenden Wind bewegt, ins Gesicht. Langsam erwachte er. Ein leichter Kopfschmerz durchwehte sein Gehirn und da war noch etwas. Er horchte auf.
Wispern vernahm er. Aber es schien nicht von Außen zu kommen, sondern direkt in seinem Gehirn aufzuklingen. Er versuchte den Kopfschmerz und das Wispern abzuschütteln, doch während sein Kopfschmerz verhallte, blieb das Wispern weiter bestehen. Er rappelte sich auf und ging ein paar Meter in Richtung der Siedlung und das Wispern wurde schwächer. Er blieb stehen und lauschte. Er schritt zu der Stelle wieder zurück, an der die Echse gegessen hatte. Das Wispern wurde wieder lauter. Offenbar hatte das Wispern nichts mit seinem Sturz zu tun. Aber warum hatte er es nicht vorher gehört. Wieder ging er in Richtung der Siedlung und wieder ließ das Wispern nach. Bildete er sich dieses Geräusch nur ein. Zur Überprüfung ging er noch einmal zurück und tatsächlich, das Wispern wurde wieder lauter. Er blieb stehen und hörte in sich hinein. Dann setzte er seine Schritte bedächtig in die Richtung,
aus der das Wispern zu kommen schien. Nach einer halben Stunde war das Geräusch so stark, das er den Wind nicht mehr hörte. Er zweifelte an seinem Verstand. Hatte der Sturz solch gravierende Wirkung entfaltet. Musste er auf die Medo-Station. Er stand vor einer Senke, die etwa 100 x 50 Meter maß. Sie war mit Gras bewachsen. Plötzlich begann das Gras in der Mitte der Senke innerhalb eines kleinen Kreises im Boden zu verschwinden. Templor begann nun auch seinen Augen nicht mehr zu trauen. Templor hielt den Atem an. Als der grasfreie Bereich sich schon auf die Hälfte der Größe der Senke ausgedehnt hatte, hörte dieser Vorgang auf. Auch das Wispern war mit einem Mal verklungen. Templor näherte sich der kahlen Stelle. Als er in deren Mitte stand, kniete er sich nieder und legte eine Hand flach auf den Boden. Er merkte leichte Vibrationen. Der Boden schien sich zu senken und gleichzeitig auch zu heben. War das alles wirklich geschehen oder lag er noch bewusstlos an dem Ort, an dem er die Echse zu fangen versucht hatte. Er griff in eine Tasche seiner Kombi und holte einen stiftlangen Gegenstand heraus, den er in den Boden steckte und mit einem Andruck aktivierte. Es war ein Sender. Und war dies wirklich alles geschehen, so musste er den Ort jederzeit wieder anpeilen und auffinden können. Dann machte er sich auf den Weg zurück zur Station.
2.2. Der Mord und das Vergessen danach
Neunzig Jahre bevor Julian Templor seinen Spaziergang tat, um wenige Monate danach sein Leben zu verlieren, herrschte Egbert O´Brian auf Tauklus IV. Er war ein machtbesessener, tyrannisch veranlagter Mensch. O´Brian wollte mit aller Kraft den Stützpunkt auf Tauklus IV weiter ausbauen. Dabei gab es nicht nur Befürworter des Ausbaus. Eine Gruppe von etwa 60 Siedlern votierte dagegen. Die Gegner verwiesen darauf, dass die Naturgegebenheiten auf Tauklus IV viel zu unerforscht seien, als dass die Erweiterung hemmungslos vorangetrieben werden könne. O´Brian, der sich und sein Machtstreben durch diese Gruppe bedroht sah, fasste einen mörderischen Plan. Er sandte an Terra eine Meldung, dass auf Tauklus IV eine Seuche ausgebrochen sei und verbreitete diese Meldung auch innerhalb der Kolonie. Er internierte die Gruppe der Ausbaugegner und setzte einen Virus aus, der mit 20% - iger Wirkung tödlich war. Er allein wusste um die Wirkung des Virus und schützte sich davor. Als Ansteckungsherd bezeichnete er die inzwischen Internierten. In einer anscheinend verzweifelten Aktion trieben die Siedler die Internierten tief in die Grassteppe und erschossen sie. Dabei verwendeten sie Projektil-Waffen, wie sie teils auf einigen Planeten noch zur Jagd auf Tiere verwandt wurden. In den Log-Files stand, dass die 60 Siedler an dem Virus gestorben seien. Nach Ende der Seuche wurde O´Brian abgesetzt. Er verschwand mit einem Schiff in Richtung eines anderen Sonnensystems.
2.3. Tauklus IV - ein Grab
Julian Templor hatte schlecht geschlafen. Er hatte von Geschehnissen in der Grassteppe geträumt. Ob er dies alles nur geträumt hatte, würde sich heute erweisen. Als er den Empfänger auf den Peilsender einstellte, erschien ein roter pulsierender Lichtpunkt auf einem dargestellten Kartenausschnitt. Sein Entschluss stand nach kurzem Nachdenken fest. Er würde diesen Ort heute noch einmal aufsuchen. Konnte es sein, dass er absichtlich durch das Wispern an diesen Ort geführt worden war. Er würde diesem Geheimnis auf die Spur kommen. „Ikarius Domit und Lia Charlton sollen sich für einen Außeneinsatz bereit machen. Abflug in dreißig Einheiten.“, rief er in die Sprechanlage. Den ausgewählten Gleiter ließ er noch mit zwei Baurobotern bestücken. Während der Vorbereitungen auf den Einsatz vergaß er, dass er Angst empfand. Angst so tief wie das Weltall selber.
In kurzer Zeit hatten sie die Senke erreicht und landeten auf einem sie begrenzenden Hügelrücken. Mühsam schälten sich die Bauroboter aus dem Gleiter heraus. Ike, Lia und Templor trugen Arbeitskombinationen. „Da, seht ihr diesen grasfreien Bereich, dort ist etwas.“, sagte Templor. „Dann sollten die Bauroboter den Bereich freilegen.“, antwortete Ike.
Templor, Ike und Lia standen am Rand der Senke, während die Roboter begannen, im grasfreien Bereich zu graben. Sie starrten auf die Ausgrabungsstelle. Und was sie plötzlich zu sehen bekamen, war so fantastisch und grauenvoll, dass sie fast vergaßen, zu atmen. Ein Arm kam zum Vorschein, der sich ungelenk bewegte und zu winken schien. „Roboter!, vorsichtig weiter graben.“, befahl Templor. Körper wurden von den Robotern freigelegt, die sich langsam anfingen zu bewegen. Wie Maden in einer verfaulten, schwärenden Wunde. Diese Wunde war die Erde von Tauklus IV und die unergründliche Vergangenheit. Hastige Atemzüge aus erschreckten, groß geöffneten Augen. Wie lange hatten sie nicht mehr den Himmel gesehen. Es war ein Grab für einige Dutzend Menschen. „Das ist unglaublich!“, stöhnte Ike. „Ich will das nicht sehen!“, rief Lia aus.
Und nun standen Einige von ihnen auf, zitternd, liefen über die Körper der darunterliegend sich Bewegenden und erreichten den Rand der Senke. Lia wandte sich ab und übergab sich. Ike und Templor tränten die Augen. Auf wackeligen Beinen mit zerfetzter Kombination kam ihnen einer der Auferstandenen entgegen.
„Ich grüße euch. Ich war Hank Osbourne. Anführer der sogenannten Abtrünnigen.“
Templor musste sich zusammenreißen, um dieser Situation gerecht zu werden. „Was ist mit euch geschehen?“, Templor schluckte. „Wir wurden getötet vor wahrscheinlich langer Zeit, ... erschossen.“ Warum lebt ihr, wollte Templor fragen, doch er kam nicht mehr dazu. „Lebt Egbert O’ Brian noch?“, fragte der Mann, der sich als Hank Osbourne vorgestellt hatte. Templor wusste um die Historie der Kommandanten auf Tauklus IV. „Egbert O’Brian ist nicht mehr auf diesem Planeten, wahrscheinlich ist er schon lange tot.“, antwortete er. „Das ist schon etwas.“, sagte Osbourne und streckte Templor die noch erdige Hand entgegen. „Von wem wurdet ihr erschossen.“, fragte Templor, während er die Hand Osbourne reichte. Es schossen ihm dabei folgende Gedanken durch den Kopf. Ein Verbrechen. Der Planet hat sie den Tod überstehen lassen und sie am Leben erhalten. Der Planet ist lebendig, auf eine unvorstellbare Art! Osbourne blickte offen in die Augen Templors. „Dies ist eine lange und traurige Geschichte. Wir sind verwaist im Gewittertrog, wie ein terranischer Dichter einmal geschrieben hat.“, lachte er. „Was immer auch passiert ist, ich nenne euch die Rückkehrer von Tauklus IV!“, Templor grinste sorgenvoll bei diesen Worten.
Epilog und Herbeigewehte
Vier Rückkehrer standen um den Platz, an dem vor kurzem noch der Kommandant Julian Templor gestanden hatte. Eine kleine Gaswolke verrauchte, während am Boden die letzten Staubüberreste des Kommandanten lagen. Einer der Rückkehrer nahm einen durchsichtigen Beutel von seinem Gürtel, bückte sich und schob die „Staubasche“ des Kommandanten in den Beutel. „So!, wir werden sie begraben auf Tauklus IV. Und warten, was Tauklus aus ihnen machen wird. “, sagte der Rückkehrer.
Und das orangefarbene Gras wogte auf dem Land im Wind.