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- 05.06.2018
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Die Rückkehr der Füchse
Das überraschendste am Ende der Welt ist die Rückkehr der Füchse. Sie waren beinahe ausgestorben, weil wir sie gejagt haben. Vielleicht kommen sie nun zurück um sich zu rächen, als wir uns nicht mehr wehren können. Vielleicht. Aber wahrscheinlicher ist, dass die vielen Leichen sie anlocken. Manchmal, wenn es kalt genug ist, dann ist der Geruch erträglich. Aber wenn es Sommer wird und die Fliegen summen, dann beißt der Gestank in der Nase und in den Augen. Zu viele von uns sind krank geworden, nicht alle konnten wir begraben. Ich versuche nicht darüber nachzudenken wie viele Menschen über der Erde liegen geblieben sind und nie in den Himmel kommen werden.
Ich sitze auf der Lichtung vor meiner kleinen Hütte, als ich zum ersten Mal rot huste. Es ist ein winziger Tropfen auf meiner Handfläche, ich kann mir einreden, dass ich mir nur auf die Zunge gebissen habe. Aber ich weiß, dass mir die Zeit davonläuft. Ich kann nicht auf den Frühling warten, muss aufbrechen, sobald ich kann, Mama und Isa suchen, Kieselsteine unter ihre toten Zungen legen.
Das Kaninchen, das ich am Morgen in einer meiner Fallen gefunden habe, habe ich sauber gehäutet und ausgeblutet. Es hängt an einem Stück Wäscheleine von einem Ast. Ich habe solchen Hunger, ungeduldig warte ich darauf, dass das Feuer hoch genug brennt, damit ich das Fleisch darüber braten kann. Das Feuer wärmt meine steifen Finger. Die Nächte werden bereits kälter, bald kommt der Winter mit seiner Stille, mit Hunger und schwarzen, tauben Flecken auf den Zehen. Während ich warte, stecke ich mir ein paar Blaubeeren in den Mund, saftig und frisch zerplatzen sie auf meiner Zunge. Das Wasser, das ich aus dem Bach geschöpft habe, schmeckt nach Schnee.
Als ich das Kaninchen endlich vom Feuer nehmen kann, höre ich ein klägliches Wimmern im Gebüsch. Ich ziehe mein Messer aus dem Gürtel, schleiche in die Richtung der Geräusche. Das Wimmern klingt nicht menschlich, klingt nicht wie Mama und Isa und all die anderen, bevor ich allein war. Das Gebüsch raschelt wieder und ein winziger roter Fuchs humpelt auf die Lichtung. Sein linkes Vorderbein ist ganz verdreht. Er sieht mich ängstlich an, hebt die Nase in die Luft und schnuppert. Der Duft von gebratenem Fleisch muss ihn angelockt haben.
„Hallo“, sage ich so sanft ich kann. Meine Stimme klingt seltsam, es ist eine Weile her, dass ich sie benutzt habe. Das Fuchskind bleibt zitternd stehen.
„Hast du auch Hunger?“, frage ich. Es antwortet nicht.
Ich setze mich wieder neben das Feuer und ziehe ein Stück weiches Fleisch von meinem Kaninchen ab. Es zerfällt in meinen Fingern und ich muss schlucken, weil ich solchen Hunger habe.
„Hier“, sage ich und lege das Fleisch neben mich auf den Boden. Ich lecke meine Finger ab und warte. Der Fuchs macht keine Anstalten näher zu kommen. Ich nehme mir selbst ein Stück Kaninchen und stecke es mir in den Mund. Die ledrige Kruste und das zähe Muskelfleisch schmecken herrlich. Ich kaue und reiße mir direkt noch ein Stück ab.
Jetzt, wo ich ihn nicht mehr ansehe, wagt der kleine Fuchs sich vor. Immer wieder packt ihn die Angst und er bleibt stehen, aber der Hunger ist größer. Das kann ich verstehen. Er schnuppert am Fleisch und verschlingt es dann in einem Bissen. Erwartungsvoll sieht er mich an.
„Wie heißt du?“, frage ich den Kleinen. „Ich heiße Lennja.“
Ich ziehe noch ein Stück vom Kaninchen ab, einen weichen Teil von seinem Rücken, damit der Kleine nicht zu sehr kauen muss. „Ich nenne dich Toive, okay?“
Wir teilen uns das Kaninchen und ich gieße etwas Bachwasser in ein Stück Baumrinde, damit Toive daraus trinken kann. Kleine Tropfen bleiben in dem roten Fell seiner Schnauze hängen, sie glitzern im Licht des Feuers. „Es tut mir leid, dass dein Bein gebrochen ist“, sage ich.
Als das Kaninchen verspeist ist, gebe ich noch etwas trockenes Holz in das Feuer und lege mich auf die Decke im Eingang meines Verschlags. Sie riecht nach Rauch und Schweiß. Ich mache Platz für Toive, der sich neben mir zusammenrollt. Er streckt das verletzte Bein aus, ich wünschte ich könnte etwas tun, damit er keine Schmerzen mehr hat. Es rasselt in meiner Brust, wenn ich einatme.
„Wir gehen bald auf eine Reise.“, sage ich. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Toive kuschelt sich an mich. Ich huste und schmecke Rost.
In den beiden Wochen, in denen Toives Bein langsam heilt, fällt der erste Schnee. Ich sammle so viele Beeren und Nüsse, wie ich kann, wickle sie in Decken und hänge sie an einer Leine in die Bäume, damit die großen Tiere nicht angelockt werden. Es ist so lang her, dass ich Mama und Isa zurückgelassen habe, aber ich erinnere mich an die lange Strecke, die ich zurückgelegt habe, um den vielen Leichen zu entkommen. Ich werde noch mehr Proviant brauchen. Ich weiß nicht, ob ich den Weg wirklich noch wiederfinden kann, aber darüber versuche ich nicht nachzudenken.
Als der Schnee sich wie eine Decke über die Bäume legt, wird die Welt noch stiller. Auf meiner Suche nach Proviant begegne ich immer mehr Füchsen, sie sind wahrlich in die Wälder zurückgekehrt. Ihr rotes Fell leuchtet vor dem Weiß des Schnees. Ich wünschte, ich könnte mehr Nüsse sammeln, noch ein paar Fallen auslegen, aber meine Brust tut weh und in der Nacht ist meine Haut zu warm, die Zeit läuft mir davon. Toive kann sein Bein schon wieder ein wenig belasten, auch wenn es noch immer schief aussieht. Ich hole vier runde Kieselsteine aus dem Bach, weiß und kühl auf meiner Hand, zwei für Mamas Mund und zwei für Isas. Wegzoll für den Fährmann. Meinen Proviant und die Decken verschnüre ich gut und binde sie mir auf den Rücken. Dann lösche ich zum letzten Mal das Feuer vor meinem zu Hause.
„Auf Wiedersehen“, sage ich zu meinem Verschlag in den Fichten. Ich sehe in den grauen, wolkenverhangenen Himmel und bedanke mich bei der Mondmutter und dem Donnervater dafür, dass sie mir Toive geschickt haben, damit ich nicht mehr so allein bin.
„Bereit?“, frage ich Toive. Er sieht mich aufgeregt an, den buschigen Schwanz aufgestellt. „Ich weiß“, sage ich, „ich habe auch Angst.“
Wir folgen seit einigen Wochen den Bächen aus meinem Wald hinaus, als ich das Mädchen mit den langen roten Haaren entdecke. Toive und ich sind erschöpft, hungrig und müde, die Sonne steht schon tief am Himmel und ich bin dabei Feuerholz für die Nacht zu sammeln. Vielleicht ist es das Rot ihrer Haare, das ich zuerst sehe, es leuchtet in der Dämmerung. Vielleicht ist es auch der saftig aussehende tote Luchs, den sie über den Schultern trägt.
Bevor ich mich zwischen meinem Hunger und meiner Angst entscheiden kann, entdeckt das Mädchen mich. Ihre Augen weiten sich, dann läuft sie auf mich zu, so schnell ihre Last es zulässt. Ich schiebe mich vor Toive, ziehe mein Messer. Das Mädchen bleibt ein paar Schritte entfernt stehen, ihre Haut ist beinahe so weiß wie der Wald um uns herum, ihre Haare Fuchsrot.
„Ich wusste es“, sagt sie mit heiserer Stimme. „Ich wusste, dass ich jemanden finden würde.“ Sie lächelt breit. Ich versuche nicht zu sehr auf den Luchs zu starren, auf seine muskulösen Beine, die sicher herrlich schmecken, wenn sie gebraten sind. Toive schiebt sich an mir vorbei nach vorn und schnuppert in die Luft.
„Ich bin Elina“, sagt das Mädchen mit den roten Haaren.
„Ich heiße Lennja“, sage ich. Ich möchte sie bitten, ihren Fang mit uns zu teilen, mit mir an einem Feuer zu sitzen, damit wir beide nicht mehr so allein sind. Aber nie würde ich das Rasseln in meiner Brust verschweigen. Ich ziehe den Zeigefinger von meinem Haaransatz über den Nasenrücken bis auf mein Kinn. Elinas Lächeln verschwindet, sie sieht auf ihre Füße hinab. „Ich habe ihn auch“, sagt sie so leise, dass ich sie beinahe nicht verstehe. „Die Hitze ist noch nicht gekommen, aber ich kann das Blut schmecken, wenn ich huste.“ Ihre Augen wandern von meinen Stiefeln bis zu meinen Haaren und wieder zurück. Eine Weile lang stehen wir uns einfach in der Stille des Winterwalds gegenüber.
„Wer ist dein Freund?“, fragt Elina schließlich. Ich stelle ihr Toive vor.
„Habt ihr Hunger, Lennja und Toive?“, fragt sie.
Wir sammeln zusammen Holz, es ist zu feucht und das Feuer ist rußig und klein. Das Luchsfleisch brät in den Flammen, während wir aus meinen Decken und Elinas Fellen ein kleines Lager machen. Wir spannen zwei Decken auf, damit sie uns vor dem eisigen Nordwind schützen. Elina ist seit einem Winter allein in den Wäldern, zuvor hat sie mit sieben Erwachsenen weiter die Flüsse hinab am großen Meer gelebt. Sie hatten lange überlebt, hatten Hütten gebaut und begonnen Vieh zu züchten. Das erste Ziegenkitz wurden in dem Frühling geboren, in dem der erste von ihnen krank wurde. Der rote Husten tötete sie alle innerhalb weniger Wochen, nur Elina blieb übrig.
„Ich habe mich auf die Suche nach anderen Menschen gemacht“, sagt sie, während sie die Luchshaut säubert und ich das Fleisch im Feuer drehe. „Ich bin allen Flüssen gefolgt, ich bin weit gelaufen, aber ich habe niemanden getroffen.“ Elina legt eine getrocknete Beere auf ihre Handfläche und hält sie Toive hin. Toive nimmt sie ganz vorsichtig von ihrer Hand und versteckt sich dann schnell hinter meinem Rücken. „Als das Rasseln in meiner Brust angefangen hat, wusste ich, dass ich nicht weitersuchen konnte. Ich wollte niemandem den roten Husten bringen.“ Elina reibt sich die Haare aus dem Gesicht und sieht mich nachdenklich an. „Ich dachte, dass ich nie wieder einen anderen Menschen sehen würde.“ Weil sie hier am Bach geblieben ist, um allein zu sterben.
Wir teilen uns das Fleisch, meine Beeren und Nüsse. Lange nachdem es dunkel geworden ist, sitzen wir noch zusammen am Feuer.
Zwei Tage und Nächte machen Elina und ich gemeinsam Rast. Toive spielt im Schnee, froh darüber, dass wir eine Weile nicht weitergehen. Füchse kommen uns besuchen, ihr Fell leuchtend rot. Elina und ich erzählen einander von Dingen, die wir erlebt haben. Erst am zweiten Abend, als der Mond bereits aufgegangen ist und die Funken des Feuers in der Dunkelheit leuchten wie Sterne, erzähle ich Elina schließlich von Mama und Isa. Dass ich zu jung war um ein Grab für sie auszuheben, von meinen blutigen Händen, den Tränen, den Fliegen, die sich auf ihre aufgeblähten Leiber gesetzt haben. Meinetwegen sind sie noch immer auf der Lichtung gefangen, auf der ich sie zurückgelassen habe, statt im Himmel. Elina schaut ins Feuer, als meine Stimme nicht mehr funktionieren will, lange sagt sie nichts. Dann legt sie einen Arm um mich, ihren Kopf auf meine Schulter. Gemeinsam sitzen wir im Schein der Flammen, mehr eins als zwei. Die Haut ihres Gesichts ist rau von der Winterkälte, aber sie ist warm. Aus der Nähe kann ich die einzelnen Wimpern sehen, die Halbmondschatten auf ihre Wangen werfen.
Am nächsten Morgen wache ich in Elinas Armen auf. Toive hat sich zwischen uns zusammengerollt und hebt die Schnauze, als ich mich rege. Ich schmecke Blut und das Atmen ist schmerzhafter als noch am Vorabend. Ich muss weitergehen, muss sie finden, kann mich nicht länger ausruhen. Elina hilft mir dabei meine Sachen wieder auf den Rücken zu binden. Als wir es geschafft haben, beginnt sie ihre Felle zusammenzuschnüren.
„Ich komme mit dir. Ich will nicht allein sein“, sagt sie. Ich möchte auch nicht allein sterben.
Das Gehen ist schwer, der tiefe Schnee hält die Füße fest. Meine Lunge funktioniert nicht mehr gut, jeder Atemzug brennt in der Brust. Wir folgen dem Bach aus dem Wald hinaus, wenden uns nach Westen, als er in einen breiteren Fluss fließt. Ich erinnere mich an die Gabelung und den kahlen Birkenwald, auf den wir einen halben Tag später stoßen. Bald schon werden unsere Vorräte knapp und ohne lange Rast können wir keine Fallen auslegen. Zwischen den verschneiten Birken finden wir viele Tote. Ihre Knochen schauen aus dem Schnee, zeigen in den Himmel, in den ihre Seele nie aufgestiegen ist. Ich zähle sie nicht, dennoch ist es überwältigend, wie viele blanke Knochen unseren Weg säumen. Füchse spielen zwischen den Überresten. Hier und da haben größere Tiere verwesende Leichen aus zu flachen Gräbern gezerrt, ich versuche nicht hinzusehen und doch sehe ich Bisspuren in totem Fleisch, Maden in klebrigen Augenhöhlen. Elina nimmt meine Hand, als sie mein Entsetzen sieht. Fest drückt sie meine Finger. Obwohl es weh tut, singen wir alte Lieder, um die unheimliche Stille der Wintergräber zu verscheuchen. Wir erzählen uns von alten Erinnerungen und Träumen. Träumen, die alle nicht mehr wahr werden können. Toive folgt uns durch den Schnee, an Bächen entlang, durch dichte Nadelwälder, vorbei an kahlen Laubbäumen. Er begrüßt die Füchse, die uns begegnen, immer mehr werden es, sie erobern die Wälder zurück. Nachts schlafen Elina, Toive und ich zusammengekuschelt auf Decken und Fellen, alles ist weicher und wärmer, weil ich nicht mehr allein bin.
Wochen vergehen, bis wir auf die erste zerstörte Straße stoßen. Früher wurden sie zum Transport genutzt, jetzt haben Wurzeln sie aufgegraben, nur Bruchstücke sind übriggeblieben. Wir umgehen die alte Stadt in riesigem Bogen, von der wir Schreckliches gehört haben. Dort ist alles giftig, nicht einmal die Füchse wagen sich hinein. Selbst in der kalten Winterluft können wir den Gestank der Stadt riechen.
„Vielleicht gibt es an anderen Orten der Welt noch Menschen“, sagt Elina, als der Duft von Fichten uns wieder umgibt. „An den Orten, an denen es keinen Wald gibt, sondern nur Sand. Oder hoch in den Bergen.“ Ich erinnere mich kaum mehr an die Bilder, die ich als kleines Mädchen gesehen habe, Fotos von Steppen, Wüsten, Bergen und Ozeanen. Ich sage nichts, wir wissen beide, dass es dem roten Husten egal war, wo die Menschen gelebt haben, über die er hergefallen ist.
Plötzlich höre ich ein Rauschen, das mit jedem Schritt lauter wird. Der Weg neben dem Fluss, dem wir gefolgt sind, endet am Rande einer steilen Klippe. Das Rauschen des Wassers, das darüber stürzt, ist ohrenbetäubend.
„Nein“, sage ich erstickt. „Nein, nein, nein.“ Wir müssen dem falschen Fluss gefolgt sein, wir müssen eine Abzweigung verpasst haben. Sicher würde ich mich an einen so imposanten Wasserfall erinnern, an Felsen, in denen ich klettern musste. Sind wir bereits seit Tagen dem falschen Flusslauf gefolgt? Panisch schnappe ich nach Luft, aber meine Lunge gibt nur ein feuchtes Geräusch von sich und die Welt dreht sich. Nein. Nein, nein, nein. Ich habe mich zu spät auf die Suche gemacht, ich hätte nie so lang warten dürfen. Ich huste rot, wieder und wieder. Eine Fuchsfamilie beobachtet uns aus den Schatten des Waldes.
„Hey!“ Elina kniet vor mir im Schnee, sie legt die Hände auf meine Wangen, sieht mir in die Augen. „Du musst versuchen ruhig zu atmen“, sagt sie. „Wir finden sie ganz sicher.“ Ihre Lippen sind ebenso rot wie ihre Haare, wie die Füchse. Elinas Fingerspitzen streicheln über meinen Nasenrücken, mein Kinn, meine Wange. Sie legt den Daumen auf meinen Hals, wo er weich und verletzlich ist, vergäbt die Finger in meinen Haaren. „Wir finden sie“, sagt sie noch einmal, „versprochen.“ Mein Atem beruhigt sich ein wenig.
Es ist bereits zu dunkel und zu kalt um umzukehren, also machen wir in der Nähe des Wasserfalls Rast. Unser Feuer will nicht so recht brennen, es qualmt in den Himmel und verdeckt die Sterne. Elina schläft erschöpft ein, als wir endlich auf unseren Decken liegen. Doch meine Lunge schmerzt zu sehr, meine Haut ist zu warm und feucht, der Husten zu quälend, um an Schlaf zu denken. Also sehe ich Elina beim schwachen Schein des Feuers dabei zu, wie sie träumt. Ihre Augen bewegen sich hastig hinter ihren dünnen Lidern, ihre Lippen murmeln Worte, die ich nicht ausmachen kann. Ich streichle Elinas Stirn, die zu heiß ist, berühre ihre Schultern und Arme, ihre Finger auf der Decke, die sich zuckend im Traum bewegen. Toive rollt sich in meiner Kniekehle zusammen, die Nase trocken und warm.
Ein lautes Knacken weckt mich aus meinem unruhigen Schlaf. Das Feuer ist so weit heruntergebrannt, dass ich ihn in der Dunkelheit beinahe nicht ausmachen kann. Ich kann ihn riechen, kann seinen Atem hören, der viel zu nah ist.
„Elina.“ Elina blinzelt schlaftrunken. „Elina!“ Toive kauert sich an mich, stocksteif und still. Als Elina endlich die Augen aufschlägt, deute ich über ihre Schulter. „Bär“, flüstere ich. Elinas Atem ist feucht auf meiner überhitzten Haut. Wir liegen so still wir können, machen keinen Laut, in der Hoffnung, dass er uns nicht bemerkt. Die letzten Reste unseres Proviants hängen an einer Leine in den Bäumen. Der Bär sucht danach, richtet sich auf seine Hinterläufe auf und wittert. Mein Herz schlägt so schnell, dass meine blutige Lunge nicht mithalten kann, mir wird schwindelig, kleine Sterne blitzen hinter meinen Augenlidern auf, wenn ich blinzle. Ich bete zu dem Donnervater und der Mondmutter, dass sie den Bären ablenken und vorbeiziehen lassen, ohne dass er uns bemerkt. Doch auf seiner Suche nach Nahrung wittert er uns schließlich in unserem kläglichen Lager neben dem toten Feuer. Seine Pranken wirbeln feinen Pulverschnee auf, er nähert sich, die Nase auf den Boden gerichtet.
„Zu spät, er hat uns gesehen“, flüstere ich und Elina nickt. Wir stehen beide auf, nicht ruckartig, aber schnell genug, um nicht lang wehrlos und klein zu wirken. Wir richten uns so hoch auf, wie wir können, breiten Decken hinter uns aus um größer zu wirken.
„Verschwinde“, sage ich laut und deutlich. Wenn wir jetzt weglaufen, wird er uns verfolgen, wenn wir uns wie Beute verhalten, wird er Jagd auf uns machen.
Der Bär bleibt stehen und richtet sich auf. Sein lautes Brüllen dröhnt in meinen Ohren, ist so furchteinflößend, dass ich beinahe trotz besseren Wissens auf der Stelle kehrtmache und laufe, so schnell ich kann. Toive steht zitternd hinter Elina und mir, ich kann sein Wimmern hören.
„Verschwinde von hier“, sage ich noch einmal laut und bestimmt. Ich versuche furchteinflößend auszusehen, ein ebenbürtiger Gegner, gefährlich und bereit sich zu verteidigen. Wieder brüllt der Bär, lässt sich zurück auf alle viere fallen und neigt den Kopf. Ich ziehe mein Messer, sehe wie Elina es mir nachtut.
Der Bär schnaubt, ich habe nicht einmal mehr Zeit mein Gebet zu beenden, da stürzt er schon auf uns zu, die Zähne weiß im Mondlicht.
Ich nehme Elinas Hand, halte sie fest, damit ich selbst nicht weglaufen kann. Es ist unsere einzige Chance weiter Stellung zu halten, stark zu wirken, aber ich habe solche Angst, dass ich mir in die Hose mache. Mein Bein wird warm und feucht. Mit ohrenbetäubendem Brüllen greift der Bär an. Es tut mir leid, Mama, es tut mir leid, Isa. Ich hätte nicht so lang warten dürfen. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid.
Der Bär bleibt stehen, kurz bevor er uns erreicht hat. Ich kann seinen widerlichen Atem riechen. Noch einmal brüllt er laut, dann dreht er sich um und verschwindet zwischen den Fichten.
Die Tränen laufen erst über meine Wangen, als das Knacken der Äste nicht mehr zu hören ist. Zitternd huste ich Blut in den Schnee unter meinen Füßen. Es riecht nach Schweiß, Rauch und Ammoniak. Ich kann nicht aufhören zu weinen, meine Finger immer noch fest um Elinas Hand geschlossen. Ich drehe mich zu ihr um, sehe in ihre weit aufgerissenen Augen. Ihre Brust hebt und senkt sich rasend schnell, ich kann das nasse Rasseln hören. Wir wissen den Weg nicht, wir haben beinahe nichts mehr zu essen, der Winter wird kälter, bald werden die Nordstürme aufziehen, aber noch sind wir am Leben. Ich drücke mein Gesicht an Elinas, atme den Geruch ihrer Haut ein. Blut. Ihre Lippen sind warm und feucht unter meinen, ich lasse mein Messer fallen und halte ihren Kopf fest, damit ich sie richtig küssen kann. Elina wischt die Tränen von meinen Wangen, legt die Arme um mich, vertieft den Kuss. Alles ist fieberwarm, nah, lebendig.
*
Am nächsten Morgen folgen wir Hand in Hand dem Fluss zurück. Jeder Schritt ist schwer, der Wind ist eisig kalt, doch das Fieber hält uns warm. Toive läuft dicht hinter meinen Beinen, um sich vor dem umherwirbelnden Eis zu schützen. Wenn wir nicht mehr weiter gehen können, wickeln wir uns alle gemeinsam in Decken und Felle, dann tauschen Elina und ich Küsse und geflüsterte Geheimnisse. Ich habe so viele Menschen sterben sehen, weiß genau was uns erwartet: Nach dem Fieber kommen die roten Augen, das Blut, das aus Nase und Ohren läuft, die blauen Flecken an den weichen Körperstellen. Wenn die Haut rot schwitzt, dann ist es nicht mehr lang bis zum Tod.
Wir trauen uns kaum mehr in der Dunkelheit Rast zu machen, ich weiß, dass die Zeit knapp wird, und noch immer haben wir den Weg nicht gefunden. Füchse huschen durch das Dickicht, durch das wir uns kämpfen, immer dem Fluss folgend. Es ist Tage her, dass wir dem Bären entkommen sind, als ich endlich den Wald um uns herum wiedererkenne.
„Es ist nicht mehr weit, hier habe ich früher Wasser geschöpft“, krächze ich erleichtert. Meine Stimme hat Schwierigkeiten Worte zu formen, so oft muss ich mich vornüberbeugen und husten. Die Wintersonne steht tief am Himmel, in ihrem kalten Licht suche ich den Weg hinein in den Wald, in dem ich aufgewachsen bin. So viele kahlgefressene Brustkörbe ragen aus dem Schnee, ich weine blutige Tränen, muss immer öfter blinzeln um etwas zu sehen. Elina zieht mich fest an sich. Auch wenn das Gehen dadurch noch schwerer wird, lege ich einen Arm um ihre Schulter und zusammen folgen wir den Pfaden durch die verfallenen Hütten, in denen schon längst niemand mehr lebt. Ich habe Mama und Isas Namen in den Baum geschnitten, an dem ich sie verlassen habe. Von dem lächerlich kleinen Loch, das ich mit Kinderhänden gegraben habe, ist nichts mehr zu sehen. Aber sie liegen noch da, nichts als Knochen übrig von den Armen, die mich gehalten haben, wenn ich mich gefürchtet habe. Nichts als Knochen übrig von meiner kleinen Schwester, die gerade alt genug war, dass Mama sie nicht mehr mit einem Tuch auf ihren Rücken binden musste, als sie zum ersten Mal Blut in ihre kleinen Fäuste gespuckt hat. Eine Fuchsfamilie nennt die Lichtung jetzt ihr zu Hause, sie sehen uns interessiert dabei zu, wie wir die Decken von unseren Schultern nehmen. Der Wald wimmelt von ihnen, überall kann ich ihr rotes Fell leuchten sehen.
Elina sieht auf Mama und Isa hinunter. „Das sind sie?“, fragt sie, ich nicke. Sie legt die Kapuze zurück, ihr Haar ergießt sich über ihre Schultern, so lang, dass es beinahe ihre Hüften erreicht. Sie legt ihre Stirn an meine, hält mich einen Augenblick lang fest.
Wir graben die ganze Nacht hindurch, bis unsere Hände bluten und ich meine Finger nicht mehr spüren kann. Meine Lungen brennen, ich kann warmes Blut fühlen, das aus meiner Nase tropft. Immer wieder müssen wir Halt machen, weil wir drohen ohnmächtig zu werden. Alles ist unwirklich, heiß, verschwommen, als wäre die Welt ein Fiebertraum. Und weiter graben wir, tiefer und tiefer. Die oberste Schichte Erde ist bereits gefroren, sie zerrt an unserer Haut.
Die Sonne ist zweimal unter und wieder aufgegangen, als das Grab endlich tief genug ist. Schweiß und Blut tropfen in das nasse Erdreich, ich kann kaum noch etwas sehen. Elina kniet im Schnee neben Mama und Isa, das Haar ausgebreitet. Toive stupst sie mit seiner weichen Schnauze an, versucht sie zu einem Spiel zu ermuntern, für das sie nie wieder die Kraft haben wird.
Wir betten Mama und Isa in die Erde, ich lege ihnen die runden Flusskiesel in den Mund, hoffe, dass der Fährmann sie finden wird, auch wenn sie keine Zungen mehr haben. Ich kann nicht mehr laut auf Wiedersehen sagen, weil meine Stimme nicht mehr funktioniert, aber ich spreche ein stilles Gebet.
Wir schieben die Erde zurück, decken die beiden zu. Erst als das Grab geschlossen ist, weine ich vor Erleichterung. Elina zieht mich zu sich in den Schnee. Sie sieht mich aus blutigen Augen an. Gluckernd atmet sie ein, legt die heißen Finger auf meine fiebernasse Wange. Wir haben es geschafft. Mama und Isa sind im Himmel. Elina lehnt die Stirn gehen meine, die Welt kippt. Ich will nicht zusehen müssen, wie sie stirbt. Bitte, bete ich, lasst Elina am Leben. Aber ich habe so viele Menschen sterben sehen, weiß genau was uns erwartet: Es beginnt mit blutigem Husten, der in der Brust rasselt. Dann kommen das Fieber und die Halluzinationen. Die roten Augen, das Blut, das aus Nase und Ohren läuft, die blauen Flecken an den weichen Körperstellen. Wenn die Haut rot schwitzt, dann ist es nicht mehr lang bis zum Tod.
Die Füchse um uns herum sonnen sich im Winterlicht. Toive schnuppert aufgeregt nach Beute. Elina und ich legen uns in den herrlich kalten Schnee, der unsere fieberheiße Haut ein wenig kühlt. Ich zittere vor Erleichterung, nehme Elina in den Arm und drücke sie an mich. Ihr rotes Haar läuft über mein Gesicht. Ich schwitze Blut. Elina küsst meinen Hals, meine Wange. Halluzinationen. Zumindest die sind mir erspart geblieben. Ich blinzle und liege allein neben dem Grab meiner Familie, mein Blut grell und leuchtend rot im weißen Schnee. So rot wie das Fell von Füchsen. Wie Elinas Haar. Ich kann nicht mehr atmen, die Welt verschwimmt. Mein Gesicht wird nass. Ich blinzle noch einmal und Elinas Haare sind auf dem Schnee um uns herum ausgebreitet wie eine Decke, die Füchse spielen in der Sonne, Toive kuschelt sich in meine Kniekehlen. Ich halte Elina fest und schließe die Augen.