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Die Räder drehen sich
Auf der Leinwand der Erinnerung zeigen sich bewegte Bilder längst vergangener Tage. Ich finde mich wieder im großen Mohnfeld hinter dem Haus. Zwischen den roten Blüten erforsche ich mit meinen Händen und Lippen den warmen weichen Körper Rachels. Ich gehe über das Feld und fühle das Korn zwischen meinen Fingern, weiß, dass alles gut ist. Ich sehe meinen Jungen im Sonnenlicht über die Wiese laufen. Lachend springt er in den See. Das Wasser spritzt auf. Löst sich aus meinen Augen. Das Sommerlächeln meines Sohnes zerfließt auf meinem Gesicht und ich berge die letzten Spuren meiner Gedankenreise in meinem Hemdsärmel.
Rachel ist tot. Es macht mir Mühe es zu begreifen.
Gemeinsamkeit entweicht durch die Mauerritzen. Ich nehme mich erstmals nach so vielen Jahren als einzelnen Menschen wahr. Das Zimmer ist erfüllt von ihrer Zärtlichkeit. Immer noch. Ich nehme ihre kalten Hände in die meinen. Streichelnd betrachte ich sie. Ist der Zauber noch da? Ihre Sanftheit, ihre Träume, ihr leidenschaftlicher Geist? Wo ist ihre Liebe nun hin? Ist auch sie gestorben? Der Wind heult im Kamin. Ich lege mein Gesicht auf ihre Brust, fühle den groben Stoff auf meiner Haut, spüre ihrem entwichenen Leben nach. Mit zittriger Hand streiche ich vorsichtig eine graue Haarsträhne aus ihrem Gesicht. "Schlaf jetzt mein Mädchen" flüstere ich ihr zu. Ihre braunen Augen, deren sinnliches Funkeln mich oft um den Verstand gebracht hatten, sind glanzlos. Immer noch halte ich ihre eiskalten Hände. Wärmen kann ich sie nicht.
Von der atemlosen Endgültigkeit ihres Fortgehens übermannt, stürze ich hinaus in den verschneiten Garten. Mit tiefen Zügen sauge ich die eisige Luft ein. So als könnte ich dadurch zu ihrem Atem werden. Nie war mir die Landschaft schweigsamer, nie leerer erschienen. Nie habe ich mich so sehr auf mich selbst zurückgeworfen gefühlt wie in diesen Stunden.
Ich hole aus dem Verschlag hinter dem Haus einen Spaten, grabe mich damit durch den hart gefrorenen Boden. Als das Grab tief genug scheint, setze ich mich erschöpft auf die kleine Bank vorm Haus. Verweht vom Eiswind legt sich der Schnee auf den Boden des Erdloches.
Dann betrete ich zum letzten Mal unser Haus. Ich hebe Rachel aus dem Bett und wundere mich wie leicht sie wiegt. An mich gepresst trage ich sie hinaus. Meine inneren Schreie sind nur ein stummes Aufbegehren, bedeutungslos für die Welt. Vorsichtig lasse ich einen großen Teil meines Lebens mit ihr in die schneebedeckte Erde sinken. Ein weißes Daunenbett für ewigen Schlaf. Wie es Brauch ist, verstreue ich graue Mohnkörner und die getrockneten roten Blüten. Sehe zu, wie der Wind beides davonträgt. Dann schiebe ich mit Schaufelhänden die Erde über sie und schichte Steine auf den entstandenen Hügel.
Langsam kriecht die Dämmerung durch das Geäst. Die Bäume zeichnen sich wie schwarze Tuschmalerei vom dunkelblauen Himmel ab. Unser kleines altes Haus ist leer. Der Sohn ist längst seinen eigenen Spuren gefolgt. Die Fenster des Hauses stehen weit offen um Rachels Seele nicht unwissentlich einzusperren. Es scheint als würde das alte Gemäuer aus großen schwarzen Augen in den Wald hinausblicken. Der Frost wird sich nun in ihm einnisten. Dort wo Rachels Zärtlichkeit mein bloßes Existieren in Leben verwandelt hat, werden nun die Waldgeister wohnen. Ein altes jiddisches Lied durchwandert meinen Geist. Vom greisen Mann der mit seinem Wägelchen einsam seinen letzten Weg beschreitet, begleitet nur von Erinnerung. "Die Räder drehen sich ..."
Ein fahler Lichtschein ist im Osten erkennbar. Ich schultere meinen Rucksack. Raben fliegen auf, krächzen vorwurfsvoll. Auf der Bank vorm Haus liegt die alte Geige. Ich hülle sie in billiges Tuch, drücke sie an mich. Wohl um sie vor Nässe zu schützen. Oder bin ich es der Schutz sucht? Wohin? Unsicher wende ich mich dem erwachenden Tageslicht zu. Zurück blicke ich nicht mehr. Habe alles in meinem Herzen. Sind die ersten Schritte noch zögerlich und verhalten, schreiten meine betagten Beine bald weit aus. So als könnte allein die Entfernung meinen Schmerz lindern.
Die weiße Landschaft lässt die Tage alle gleich erscheinen. Stille begleitet mich. Der Weg ist holprig, erfroren unter dem Schnee. Der Himmel über mir ist ohne Ende. Dort wo sich keine Grenzen mehr breit machen, braucht es auch kein Niemandsland. Sie wird glücklich sein an diesem Ort.
Irgendwann dringen Worte an mein Ohr. Ich erkenne etwas abseits vom Weg Menschen die sich um ein kleines Feuer scharen. Einer sieht herüber, bietet mir schwarzen Tee an. Es sind Holzfäller auf dem Weg zu den Nadelwäldern am Talausgang. Ob ich mitfahren wolle. "Ja" sage ich. Bald darauf verlasse ich in einem von Pferden gezogenen Heuwagen den vertrauten Waldboden, verlasse das was war, ohne es zu verlieren.
"Nimm deine Fidel Alter. Komm, spiel uns ein Lied" sagt der, welcher die Zügel in den Händen hält. Ich nehme das Tuch von der Geige, setze sie unter das Kinn. Die Wintersonne durchbricht zaghaft die dichte Wolkendecke und ich spiele. Es sind fröhliche Weisen die der Bogen hervorholt. Ich wirble meine Rachel über den Tanzboden und sie lacht meine Tränen fort, während die Räder sich immer weiterdrehen.