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Die Quellenfrau
„Diese Wanderung dürfen Sie auf keinen Fall versäumen!. . .“ Benedikta fand, dieser Empfehlung müsse man nicht unbedingt folgen. Schließlich sah man vom Strand aus die Berge sehr schön. Doch Rebecca und Anton sowie ihr Mann Peter teilten ihre Ansicht nicht. Die beiden Paare verbrachten ihre Ferien gemeinsam, seit die Kinder flügge waren.
Der schweißtreibende Aufstieg zu dem Bergdorf zog sich endlos hin. Benedikta hätte eine gemütliche Bootsfahrt oder einen Besuch in der Eisdiele dieser Strapaze vorgezogen.
Der Anblick der alten, grauen Häuser traf sie wie ein Blitz. Die engen Gassen, das Kirchlein, die ummauerten Gärten - alles schien ihr vertraut. „Gleich um die Ecke ist das Backhaus. Und dort, hinter dem Friedhof beginnt der Weg. - Wieso weiß ich das?“ Wie im Traum durchquerte sie den winzigen Ort und schlug den Wanderweg ein, während ihre Begleiter nach Wegmarkierungen suchten. Sie besuchte diese Gegend zum ersten Mal, hatte weder einen Reiseführer studiert, noch ein Foto betrachtet. Dennoch fühlte sie sich, als sei sie zu Hause, und mit jedem Schritt wuchs ihre Freude.
Der Wandersteig bot atemberaubende Ausblicke auf das Meer und die felsige Küste. Immer wieder hielten die Wanderer inne und bestaunten die traumhafte Landschaft. Benedikta bewegte sich immer langsamer. Schließlich rührte sie sich nicht mehr vom Fleck. Rechts des Pfades fiel steil der Berg ab, und der Blick verlor sich im Blau des Meeres. Auf der anderen Seite raschelte ein Wäldchen vor einer blühenden Wiese. Im Hintergrund erhob sich eine Felswand. Dieser Platz empfing sie wie eine ersehnte Heimat.
„Ich bleibe hier! Geht ruhig weiter! Heute Abend treffen wir uns im Ferienhaus“, erklärte sie.
„Ja, es ist herrlich hier! Aber wir werden noch an vielen schönen Ecken vorbeikommen.“
„Sollen wir Rast machen?“
Die Freunde legten die Rucksäcke ab und legten eine kleine Pause ein. Nur widerwillig setzte Benedikta die Wanderung fort. Den ganzen Weg lang blieb sie schweigsam.
Den folgenden Tag verbrachten die vier am Strand. Benedikta gab sich große Mühe, den wunderbaren Ort aus ihren Gedanken zu verbannen und nicht darüber zu grübeln weshalb er ihr so bekannt und vertraut war. Sie stürzte sich in belanglose Diskussionen, schwamm bis zur Erschöpfung und schaufelte am Abend im Restaurant jeden Bissen des üppigen Menüs in sich hinein. Dazu genoss sie zu viel von dem schweren Wein. Ermattet sank sie ins Bett. Im Traum mühte und quälte sie sich ab, den Höhenweg zu erklimmen, um an der bewussten Stelle endlich Ruhe zu finden. Doch sie rutschte und stürzte immer wieder ab. Wie gerädert erwachte sie im Morgengrauen. Sie setzte sich auf die Terrasse und beobachtete wie das Licht der aufgehenden Sonne das dunstige Grau in die kräftigen Farben des Südens verwandelte. Vielleicht wäre es nicht verkehrt, noch einmal diese Stelle aufzusuchen. Wahrscheinlich verlor sich dann der seltsame Zauber. Peter und die Freunde mochten bestimmt nicht wieder denselben Weg machen. Der Gedanke, den Pfad allein und ungestört zu gehen, gefiel ihr sehr. Und warum nicht gleich heute? Je eher, desto besser.
Auf den für heute geplanten Ausflug hatte sich Benedikta gefreut. Jetzt schien ihr der Besuch der Stadt unsinnig. Sie täuschte Übelkeit vor und bat um Verständnis, wenn sie nicht mitkomme. Den Vorschlag, den Ausflug zu verschieben, lehnte sie energisch ab. Ebenso Peters Angebot, bei ihr zu bleiben. Benedikta packte eine Flasche Wasser in den Rucksack und vom Bäcker neben der Bushaltestelle etwas Gebäck. Ungeduldig und aufgeregt, als verpasse sie etwas Wichtiges, wartete sie auf den Bus, der die abgelegenen Dörfer mit den größeren Orten an der Küste verband. Als sie in dem Bergdorf stand, fielen Aufregung und schlechtes Gewissen von ihr ab. Sie fühlte sich frei und unbeschwert. In der Eile hatte sie vergessen, ihre Sandalen mit den Wanderstiefeln zu tauschen, doch das beeinträchtigte sie keineswegs. Leichtfüßig folgte sie dem holprigen Pfad, ohne auf Steine und Wurzeln zu achten, als ob sich ein englischer Rasen unter ihren Füßen ausbreite. Sie genoss das Zwitschern der Vögel, das ihr so lieblich erschien wie nie zuvor und erreichte in weniger als einer Stunde das Ziel ihrer Wünsche. Glücklich breitete sie die Arme aus, drehte sich im Kreis, und ließ sie sich unter einem Baum ins Gras sinken. Die Sonne leuchtete golden durch die Blätter, die sich sachte im leisen Wind bewegten, tief unten glitzerte das Meer, ringsum dufteten Blumen und Kräuter, umschwirrt von eifrigen Bienen. Das gleichmäßige Zirpen einer Zikade drang an ihr Ohr und schläferte sie ein.Im Traum befand sie sich an derselben Stelle, wo sie gerade ruhte. Müde und zerschlagen durchquerte sie die Baumgruppe. Sie trat zu einer Quelle und trank. Augenblicklich schwanden Müdigkeit und Schmerzen.
Indessen wanderte die Sonne weiter, ihre Strahlen trafen das Gesicht der Schlummernden. Erfrischt und frohgemut erwachte sie. Es drängte sie, die Umgebung des Traumes in Augenschein zu nehmen. Sie wanderte durch das Wäldchen und gelangte auf eine schmale, von Steinen und Felsbrocken übersäte Wiese, die vor dem Berg endete. Unter einer mächtigen Pinie duckten sich überwucherte Mauern, Reste eines kleinen Hauses. „Da möchte ich wohnen.“ Sie näherte sich der Felswand. Hier leuchtete das Gras frischer und grüner als auf der Wiese vor dem Wäldchen. „Also gibt es Wasser“, folgerte sie, fand jedoch nichts. Ein Blick auf die Uhr mahnte zur Umkehr. Wieder fiel es ihr schwer, das herrliche Fleckchen Erde zu verlassen. Mit schweren Beinen stolperte sie ins Dorf und verpasste den Bus. Der Abstieg auf dem steilen, ausgetretenen Pfad und den zerbrochenen Stufen erwies sich viel schwieriger als der Aufstieg vor zwei Tagen. Es dunkelte bereits, als sie die Ferienwohnung aufschloss. Besorgte und vorwurfsvolle Gesichter erwarteten sie. Weder Peter noch die Freunde verstanden, was Benedikta bewogen hatte, diesen Platz wieder aufzusuchen. Sie verzichtete auf eine Erklärung, sie begriff es ja selbst nicht. Und erst recht nicht, als sie am nächsten Morgen verkündete, sie werde noch einmal einen Tag dort oben verbringen. Peter ärgerte sich über ihr befremdliches Verhalten. Rebecca versuchte, die Wogen zu glätten. Sie versprach, die Freundin zu begleiten und darauf zu achten, dass sie den Abendbus nicht verpassten.
Rebecca hatte Mühe, dem beschwingten Schritt der Freundin zu folgen. Sie fand die Gegend hier oben auch herrlich, konnte aber Benediktas Glücksgefühl nicht nachvollziehen. Sie machte es sich auf einer Decke bequem und vertiefte sich in ein Buch. Benedikta eilte zu dem Steinhaufen vor der Felswand. Wild entschlossen die Quelle zu finden, wuchtete sie einen Stein nach dem anderen auf die Seite. Sie verlor jedes Zeitgefühl, arbeitete wie in Trance. Erst als Rebecca sie energisch am Arm packte, erwachte sie wieder in der Realität.
„Falls hier tatsächlich eine Quelle existiert, weshalb musst ausgerechnet du danach suchen? Warum tun dies nicht die Einheimischen? – Und jetzt komm, unser Picknick wartet!“
Benediktas ganzer Körper schmerzte, ihre Hände waren zerschrammt von der ungewohnten Arbeit. Dennoch ließ sie sich nach einer kurzen Pause nicht abhalten, wieder zu der „Baustelle“ zu gehen. Sie sah, wie viel Steine sich noch türmten, und ihr Vorhaben erschien ihr auf einmal aussichtslos. Müde kauerte sie auf einen großen Stein. „Ich gebe auf – es ist irrsinnig“, murmelte sie und beobachtete einen Schmetterling, der über die Wiese schwebte. Sie sollte sich neben Rebecca ausstrecken. Stattdessen hockte sie da wie angewachsen, vernahm das Gesumm der Bienen und das Vogelgezwitscher und – Benedikta hielt die Luft an – ein fernes Rauschen! Sie beugte sich vor. Es kam unter den verbliebenen Steinen hervor. Mit Aufbietung aller Kräfte schob sie den Gesteinsbrocken, der am nächsten vor der Felswand lag, zur Seite. Spärliches Nass sickerte hervor! Ziemlich weit unten entsprang die Quelle dem Felsen. Benedikta grub ein paar weitere Steine aus. Endlich tauchten ihre Hände in ein gluckerndes Rinnsal. Doch wohin floss das Wasser? Offensichtlich in eine Felsspalte und suchte sich seinen Weg unter der Erde. Es gab noch viele Steine zu schleppen. Heute bewältigte sie diese Arbeit nicht mehr. Immerhin, die Quelle existierte und war gefunden.
Rebecca zeigte sich wenig beeindruckt.
„Überall in den Bergen entspringen Wasserfälle und Quellen, und viele werden durch einen Erdrutsch begraben, warum also nicht auch hier?“
Aber diese Quelle war etwas Besonderes, davon war Benedikta überzeugt.
Die restlichen Ferientage boten ihr keine Gelegenheit mehr, die Quelle aufzusuchen. Da sie nicht mehr davon sprach, nahmen Peter und ihre Freunde an, ihre „Besessenheit“ habe sich gelegt. Aber sie träumte nach wie vor von dem Ort, sie empfand Heimweh, das sich auch nach Wochen nicht legte. Peter fand keine Erklärung für die zunehmende Entfremdung zwischen ihnen. Er quälte sich mit allen möglichen Befürchtungen. Doch als sie ihre Sehnsucht nach dem Platz an der Quelle gestand, hielt es für Unsinn, übersteigerte Phantasie.
„Das Gefühl, dass ich nicht mehr hier her gehöre, und es mich zu diesem Platz zieht, lässt mich nicht los. Monate lang habe ich vergeblich dagegen gekämpft“, sagte sie an einem Frühlingstag zu Peter. „Nun muss ich es wagen.“ Peter wollte nichts mehr davon hören. „Komm endlich wieder zur Vernunft und begreife, dass du dich verrannt hast!“
Benedikta kündigte ihre Arbeit in der Kita. Sie packte die Campingausrüstung aus den frühen Tagen ihrer Ehe. Sie verabschiedete sich von Rebecca und schrieb Peter einen Brief. Natürlich war es nicht fair. Doch sie glaubte, es sei sinnlos, noch einmal mit ihm zu diskutieren. Er würde, er konnte sie nicht verstehen. Seine Enttäuschung und seinen Zorn musste sich hinnehmen.
Als Benedikta das kleine Bergdorf hinter sich ließ, verlor sie die letzten Bedenken. Und - wie Peter sagen würde, das letzte bisschen Vernunft. Ihr bisheriges Leben lag hinter ihr, sie fühlte weder Reue noch Angst. Und sie grübelte nicht mehr darüber nach, warum sie hier und nirgends anders leben wollte. Neben den Resten des Häuschens schlug sie ihr Zelt auf. Sie verspürte kein Bedürfnis, sich auszuruhen, nie war sie sich so lebendig vorgekommen. Benedikta fand das Rinnsal wie sie es im Jahr zuvor verlassen hatte. Stein um Stein schichtete sie neben der Felswand auf, und legte die Stelle frei, wo die Quelle entsprang. Triumphierend wusch sie Hände und Gesicht und trank davon. Sie mochte den Geschmack, würzig, ein bisschen metallisch. Die einsame Camperin genoss einen grandiosen Sonnenuntergang, bestaunte den Sternenhimmel und schlief zufrieden und traumlos in dem winzigen Zelt.
Am nächsten Morgen kreiste sie um die Ruine. Bestimmt könnte man das Gebäude wieder instand setzen und darin wohnen. Steine lagen genügend ringsum. Balken, Dachziegel, Fenster und Türe und natürlich sämtliche Einrichtungsgegenstände fehlten. Alles musste vom Dorf her geschleppt werden, denn dieser Ort war nur zu Fuß erreichbar. Sie brauchte Hilfe, zumindest einen Maurer und einen Zimmermann. Sie fing an, das Gestrüpp um die Ruine mangels anderem Werkzeug mit dem Messer abzuschneiden.
Auf dem Wanderweg hinkte, auf einen Stock gestützt ein Mann heran. In der Hand trug er einen Stiefel. Sein linker Fuß war nackt und geschwollen. Benedikta lud ihn ein zu rasten, bot ihm einen Becher Wasser an. Der Fremde hieß John. Er verbrachte seinen Urlaub bei Freunden in der Nähe. Benedikta betrachtete den verletzten Knöchel. „Das Wasser“, dachte sie, „Es tut bestimmt gut.“ Als sie mit einer Schüssel Quellwasser zurücklief, kroch eine weiße Schlange vor ihre Füße und blickte sie aus grünen Augen an. Benedikta blieb stehen und sah, wie sich das Tier zu einer Pflanze mit handgroßen Blättern wand. Dort verharrte es und hob ihr das Köpfchen entgegen. Sie gehorchte der Aufforderung und pflückte einige Blätter. Die Schlange verschwand im Gras. Benedikta badete den verletzten Fuß des Wanderers und verband ihn mit den Blättern. Müde legte sich John ins Gras. Zwei Stunden später betastete er überrascht seinen Fuß – er spürte keine Schmerzen mehr, und die Schwellung war zurückgegangen. Der Stiefel passte wieder. Erfreut dankte er seiner „Sanitäterin“. Die unglaublich schnelle Besserung nahm Benedikta ohne große Verwunderung hin.
Ob sie denn länger hier zelte, wollte John wissen. Ja, entgegnete sie, und sie werde dieses kleine Haus bewohnen, sobald es gerichtet sei.
„Ich möchte gern etwas für dich tun – ich komme wieder“, versprach John.
Einige Tage danach erschien der junge Mann mit zwei Freunden und vollkommen geheiltem Knöchel. Sie brachten Zement und Werkzeug mit und opferten drei Tage ihrer Ferien. Einmal fiel Paolo ein schwerer Stein auf den großen Zeh. Benedikta behandelte ihn mit Wasser und Blättern. Die Verletzung heilte über Nacht. Die Mauern erhoben sich mannshoch, als sich die Helfer verabschiedeten. Um das Haus fertig zu stellen, benötigte man nun ein Gerüst oder zumindest eine Leiter. Auch das würde sich finden. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis sie einziehen konnte. Das, daran glaubte sie fest, würde noch vor dem Winter geschehen. Hin und wieder marschierte Benedikta ins Dorf, um Lebensmittel zu kaufen. Obwohl sie sparsam, ja kärglich aß, ging ihr Geld zur Neige. Merkwürdigerweise sorgte sie sich darob nicht, sie machte sich überhaupt keine Sorgen.
Die Kunde von Johns und Paolos wundersamer Heilung verbreitete sich offensichtlich, denn immer häufiger kamen Menschen mit mancherlei Gebrechen. Das wichtigste Heilmittel war das Wasser. Nachdem sie die breiten Blätter als hilfreich erwiesen, beschäftige sie sich mit den Gewächsen, die hier gediehen. Bei manchen Kräutern und Beeren hatte sie das Gefühl, sie seien gut gegen ein Leiden. Diese sammelte sie. Als zuverlässige Beraterin blieb die Schlange an ihrer Seite. Benedikta bot ihr kleine Leckerbissen an, Brot, Käse, Obst. Schließlich nistete sich das Tier neben dem Zelt ein und verstärkte den Glauben an die geheimnisvollen Kräfte der „Quellenfrau“, wie die sie die Dorfbewohner nannten. Einmal in der Woche ging sie in das Backhaus, das seit langem nicht mehr benutzt wurde. Dorthin brachten die Leute ihre kranken oder verletzten Angehörigen, die den Weg zu der Quelle nicht bewältigten. Die Geheilten dankten ihr oft mit Lebensmitteln, Geld oder halfen beim Bau des Häuschens. Nur selten dachte sie an ihr voriges Leben zurück, sie vermisste nichts und niemand und vergaß ihr Versprechen, zu schreiben. Eigentlich dachte sie überhaupt nicht mehr nach.
Enttäuscht und traurig zerbrach sich Peter den Kopf über den Grund von Benediktas Verschwinden. Was hatte sie zu diesem Schritt bewogen? Was sie gesagt und versucht hatte, in dem Brief zu erklären, konnte er weder begreifen noch glauben.
„Besuche sie“, riet Rebecca. „Sieh wie sie lebt und sprich mit ihr. Vielleicht kannst du sie dann verstehen und quälst dich nicht mehr mit Befürchtungen und Vorwürfen. Möglicherweise bereut sie ihren Auszug inzwischen.“
„Nein.“
Im Herbst erschien ihm Rebeccas Vorschlag nicht mehr ganz abwegig.
Anstelle seiner einst molligen Gefährtin traf er auf der Wiese eine gertenschlanke, in ein loses Leinengewand gehüllte Frau an. Ihre rotbraunen Locken, einst flott und kurz geschnitten, trug sie nachlässig hochgesteckt. Und sie ging barfuß. Benedikta freute sich sich über seinen Besuch.
"Komm' und schau dir mein in mein nagelneues Heim an!"
Das Häuschen umfasste nur einen Raum. Durch drei kleine Fenster fiel Tageslicht herein. Einfache, glatt gehobelte Bretter bedeckten den Fußboden. Ein gemauerter Herd, ein mit Fellen belegtes Lager, ein Tisch, zwei Stühle, ein alter Bauernschrank und einige Regale bildeten die Einrichtung. An den Deckenbalken hingen Kräuterbündel. Sie bewirtete ihren Gast mit Quellwasser, selbst gebackenem Fladenbrot und Käse. Peter hielt respektvollen Abstand zu der weißen Schlange und versuchte, seine Verwirrung zu verbergen. Seine Frau erschien ihm wie eine Fremde. Sie verhielt sich herzlich und liebenswürdig, doch sie zeigte keinerlei Interesse an Familie und Heimat. Über ihre Tochter meinte sie nur: „Ich würde mich freuen, sie zu sehen. Aber sie ist erwachsen und braucht mich nicht mehr.“ Zu sehen, wie weit sich Benedikta von ihrem gemeinsamen Leben entfernt hatte, schmerzte ihn. Seine Warnungen von Winter, Kälte, Krankheit und Einsamkeit wies sie lächelnd zurück. Am Morgen vernahm er leisen Gesang. Peter kroch unter den Fellen hervor und spähte hinaus. Benedikta stand vor der Quelle und wusch sich. Dann breitete sie die Arme aus und sang in einer unverständlichen Sprache. Peter rieb sich die Augen. Früher brachte sie am Morgen kaum den Mund auf, man ließ sie besser in Ruhe. Jetzt wusch sie sich in aller Frühe mit kaltem Wasser und sang noch dazu! Schließlich wandte sie sich um und winkte Peter zu sich.
„Nimm ein Bad! Dort ist meine Badewanne", befahl sie und wies auf das schön gearbeitete, steinerne Becken, in dem sich das Wasser der Quelle staute, bevor es durch eine kleine Öffnung floss und in einer Felsspalte verschwand. "Ein Steinmetz hat es zum Dank für seine Heilung gefertigt."
„In dem kalten Wasser! Nein!“
„Es tut dir gut und heilt dich von deinen chronischen Rückenschmerzen.“ Nach einigem Hin und Her ließ Peter sich dazu nötigen. "Hm, ganz angenehm", gab er zu.
Anschließend gab es Kräutertee und Pfannkuchen zum Frühstück.
„Ich komme mir vor wie in einem Historienschinken, in dem du eine heidnische Göttin spielst“, stellte Peter fest.
Benedikta lachte. „Ich spiele nichts. Schon gar keine Göttin. Eher eine Priesterin. Ich diene der heiligen Quelle. Die Leute nennen mich Quellenfrau.“
Peter blieb einige Tage und erlebte, wie Benedikta verschiedene Besucher von ihren Leiden heilte. Seine Einladung in ein Restaurant lehnte sie ebenso ab, wie das Angebot, ihr neue Kleider und Schuhe zu kaufen. Er verspürte keine Wut mehr. Verstehen konnte er sie nicht, aber er begriff, dass ihre Flucht aus dem gemeinsamen Leben keiner plötzlicher Laune entsprang. Sie war glücklich, fand ihre Erfüllung hier. Die Frau, die er geliebt hatte und mit der er alt werden wollte, existierte nicht mehr.