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Die Quelle, die alles heilt
Es war einmal ein König, der hatte zwei Töchter. Die ältere war ein großes, schönes Mädchen, und als sie ins heiratsfähige Alter gekommen war, fehlte es nicht an Bewerbern um ihre Hand. Sie wählte schließlich einen reichen, mächtigen König, und es gab eine prächtige Hochzeit.
Nun wollte der Vater auch die jüngere Tochter verheiraten, aber das war nicht so leicht. Sie war klein und dünn, blaß, mit strähnigen Haaren, und wieviel Mühe ihre Kammerfrauen sich auch mit ihr gaben, ihre Kleider hingen stets so an ihr, als paßten sie ihr nicht recht. Überdies war sie schüchtern und machte kaum den Mund auf. Der Vater sah wohl, daß er sich bei ihr mit einem bescheideneren Schwiegersohn zufriedengeben mußte. Er lud also die Prinzen und ledigen Könige der kleineren, ärmeren Reiche ein und fragte sie, ob sie nicht seine Tochter heiraten wollten. Da sie eine ganz gute Mitgift bekam, waren einige durchaus bereit dazu. Die Prinzessin lehnte sie aber alle ab. Da suchte der Vater unter den Grafen und Edelleuten einen passenden Mann für sie, aber auch von denen wollte sie keinen zum Mann haben. Endlich versuchte es der König mit den angesehensten Großgrundbesitzern seines Reiches, aber die Prinzessin weigerte sich auch, einen von diesen zu heiraten. Es half nichts, daß der Vater ihr befahl, einen zu nehmen, sie sagte, nichts könne sie dazu bringen, vor dem Traualtar “ja” zu sagen.
Da wurde der König schließlich zornig. “Wenn du keinen Mann nehmen willst, wie es sich für eine gehorsame Tochter gehört, und für eine Prinzessin ganz besonders, will ich dich nicht länger bei mir am Hof haben. Du machst mir bloß Schande mit deinen häßlichen Kleidern und deiner sauertöpfischen Miene. Geh, wohin du willst, aber laß dich bei mir nicht mehr blicken!”
Die Prinzessin tat traurig ihren Mantel um und packte etwas zu essen in ein Bündel. Aber ehe sie das Schloß verließ, rief die Königin, ihre Mutter, sie zu sich. „Mein liebes Kind,“ sprach sie, „es ist der Wille deines Vaters, daß du von hier fort gehst, und ich kann nichts tun, um ihn umzustimmen. Aber ich will dir drei Dinge mitgeben, die dir vielleicht draußen in der Welt nützlich sein können. Hier ist ein goldener Schlüssel, mit dem kannst du alle Türen und Tore aufschließen. Mit dieser goldenen Kette hier kannst du alles binden, was du binden willst. Und in diesem goldenen Fläschchen sind drei Tropfen meines eigenen Blutes, mit denen kannst du alles lösen, was du lösen willst.“
Das Mädchen verwahrte die drei Dinge sorgfältig in einer Tasche ihres Unterkleides, küßte ihre Mutter und machte sich auf den Weg.
Sie ging einfach geradeaus, viele Tage. Die Nahrung, die sie mitgenommen hatte, war bald aufgegessen, und sie fand nur wenige Beeren und Nüsse, um ihren Hunger zu stillen. Weiter, immer weiter ging sie, ohne eine Stadt oder auch bloß ein Dorf zu sehen. Sie merkte, wie sie schwächer wurde, bald fühlte sie sich krank und elend. Endlich erblickte sie in der Ferne ein kleines Häuschen. Dorthin schleppte sie sich mit letzter Kraft, pochte an die Tür und fiel dann ohnmächtig nieder.
Die Tür wurde geöffnet, und ein kleiner alter Mann trat heraus. „Wer ist da?“ fragte er, denn er war blind. Keine Antwort kam, aber als er einen Schritt weiter tat, stieß er mit dem Fuß an etwas Weiches. Er beugte sich nieder und tastete. Ein Mensch lag da! Der alte Mann hob das Mädchen auf, trug sie ins Haus und legte sie aufs Bett. Nach einigen Minuten erwachte sie aus ihrer Ohnmacht. „Oh, lieber Herr, bitte schickt mich nicht fort. Ich bin so schwach, weil ich seit Tagen nichts gegessen habe, und kann keinen Schritt weiter gehen.“ - „Du brauchst keine Angst zu haben,“ antwortete der alte Mann. „Bleib hier, solange du willst. Zu essen gibt es genug, denn ich habe einen Gemüsegarten, eine Ziege und ein paar Hühner. Du kannst mir in manchen Arbeiten ein wenig zur Hand gehen, die schwierig für einen Blinden sind, so werden wir sicher gut miteinander auskommen, ein schönes junges Mädchen und ein alter blinder Greis.“
So blieb denn das Mädchen bei dem Alten, und sie haushalteten gemeinsam. Zuerst war sie beinahe froh, daß er blind war und nicht sehen konnte, daß sie gar nicht schön war, wie er glaubte. Er schien auch gar nicht unter seiner Blindheit zu leiden, in Haus und Garten kannte er sich wohl aus. Aber nach einiger Zeit tat es ihr leid, daß er die bunten Blumen nicht sehen konnte, die Wolken, die am blauen Himmel hinzogen, und die putzigen Vögel, die täglich zur Tränke kamen. Daher fragte sie ihn eines Tages: „Bist du denn schon lange blind, alter Vater?“ Er seufzte. „Schon sehr lange, sehr, sehr lange.“ - „Gibt es denn kein Mittel, dich wieder sehend zu machen? Könnten dir nicht geschickte Ärzte helfen?“ - „Nein, kein Arzt kann mir helfen, selbst wenn ich das Geld hätte, einen zu bezahlen. Das einzige, was mir helfen könnte, ist Wasser von der Quelle die alles heilt.“ Das Mädchen forschte weiter. „Warum gehst du nicht zu der Quelle?“ - „Ach, liebes Kind, wie sollte ich denn den Weg dorthin finden? Auch ist es eine Reise von vielen, vielen Tagen, dafür sind meine Beine zu schwach.“
Das Mädchen lag die ganze Nacht wach und dachte nach. Am Morgen teilte sie dem Alten mit, daß sie für ihn Wasser von der Quelle die alles heilt holen wollte. Sie vergewisserte sich, daß die drei goldenen Geschenke ihrer Mutter in der Tasche waren, nahm etwas Brot und Käse als Wegzehrung mit sowie einen Becher, und verabschiedete sich von dem alten Mann. Zwar wußte sie nicht, wo sie die Quelle finden würde, vertraute aber darauf, daß der liebe Gott ihr helfen würde.
Nach einiger Zeit kam sie an einen Kreuzweg. Da war guter Rat teuer. In welche Richtung sollte sie hier gehen? Da kam von ungefähr eine Hexe daher, die jedoch nichts Böses im Sinn hatte. Das Mädchen fragte sie: „Mütterchen, kannst du mir sagen, auf welchem Weg ich zu der Quelle die alles heilt komme?“ - „Das kann ich dir schon sagen, aber du mußt mir dafür deinen Mantel geben es ist kalt und ich friere.“ Das Mädchen nahm den Mantel von der Schulter und legte ihn der Hexe um. Diese wies ihr den Weg nach Osten, und mit frohem Mut schritt sie dahin.
Wieder einige Tage später kam sie an eine Stelle, wo drei Wege sich trafen. Welchen sollte sie nehmen? Da sah sie einen Zwerg, der am Wegrand saß und seine wehen Füße rieb. „Lieber Zwerg, weißt du, welcher dieser Wege zur Quelle die alles heilt führt?“ - „Das weiß ich wohl, aber ich sage es dir nur, wenn du mir deine Schuhe gibst.“ Sie zog die Schuhe aus und half dem Zwerg, hineinzuschlüpfen, und er wies ihr den Weg nach Norden. Diesen ging sie nun mit frischer Kraft entlang.
Und wieder nach einiger Zeit kam sie an eine Stelle, wo sich der Weg gabelte. Als sie noch stand und überlegte, kam eine Elfe herangeflattert. Aber wie sah die aus! Ihr schönes Schleiergewand war ganz in Fetzen gerissen, kaum konnte man es noch als Gewand bezeichnen. „Liebe kleine Elfe, ich suche den Weg zur Quelle die alles heilt. Kannst du mir vielleicht helfen?“ - „Aber gewiß, nur mußt du mir dein schönes Kleid geben, damit ich mich wieder bei den Meinen sehen lassen kann.“ Das Mädchen zog das Kleid aus und reichte es der Elfe. Nun trug sie nichts mehr als ihr wollenes Unterkleid. „Der linke Weg, der nach Westen, wird dich zur Quelle bringen,“ sagte die Elfe und flog fort.
Es war seit Tagen immer kälter geworden, aber die Prinzessin merkte das kaum, da sie so voller Hoffnung war, bald zu der Quelle zu gelangen, und dort Wasser für den lieben alten Mann zu schöpfen. Endlich kam sie an eine hohe Mauer, die sich auf beiden Seiten hinzog soweit das Auge reichte. Es war aber ein Tor da, und so zog die Prinzessin den goldenen Schlüssel aus der Tasche, schloß das Tor auf und schritt hindurch. Ein Wald mit schönen Bäumen lag dahinter, durch den ein Pfad führte. Sie ging diesen entlang, doch da sprang plötzlich ein Löwe hinter einem Baum hervor und versperrte ihr den Weg. Sie überlegte nicht lange, zog die goldene Kette aus der Tasche, schlang sie dem Löwen rasch um den Hals und band ihn damit an den Baum. Wenige Schritte weiter sah sie ein paar Felsen und schloß, dies müsse sein, wo die Quelle entsprang. Ihr Herz klopfte in freudiger Erregung. Sie trat näher, aber was sah sie? Das Wasser der Quelle war steinhart gefroren! „Es wird auftauen, wenn es wärmer wird, aber wann wird das sein?“ Sie ging zurück zu dem Baum, an den der Löwe gebunden war. „Löwe, sag mir, wie lange wird es dauern, bis das Wasser der Quelle die alles heilt wieder fließen wird?“ Der Löwe, der nun ganz zahm war, antwortete: „Es ist schon seit langer Zeit nicht mehr geflossen, Erst wenn es einem Menschen, der ohne Eigensucht kommt, gelingt, das Eis zum Schmelzen zu bringen, wird die Quelle wieder sprudeln.“ Da setzte sich das Mädchen auf die Erde und weinte. So weit war sie gegangen, mit so großer Hoffnung, daß sie helfen könne, den gütigen alten Mann von seiner Blindheit zu heilen, und nun war alles vergebens gewesen!
Doch plötzlich entsann sie sich des goldenen Fläschchens. Sie sprang auf, eilte zur Quelle, und träufelte das Blut auf das gefrorene Wasser. Und siehe da, im Nu sprudelte die Quelle wieder, und sie konnte den Becher füllen. Da sie sehr durstig war, trank sie zuerst ein paar Züge daraus, ließ ihn dann wieder vollaufen und machte sich auf den Heimweg. Sie vergaß nicht, dem Löwen die Kette abzunehmen, das Tor ließ sie jedoch unverschlossen.
Viel kürzer schien ihr der Rückweg zu sein als der Herweg. Als sie dorthin kam, wo die beiden Wege zu einem zusammenliefen, war da die kleine Elfe. „Hier hast du dein Kleid wieder, ich habe nun ein neues aus Elfenseide.“
Wo die drei Wege sich trafen, wartete der Zwerg. „Ich habe dir deine Schuhe zurückgebracht. Der Schuhmacher in der Zwergenwerkstatt hat neue Stiefel für mich angefertigt.“
Am Kreuzweg traf sie die Hexe. „Du kannst deinen Mantel wieder haben, es wird nun wärmer, da brauche ich ihn nicht mehr.“
So kam sie zum Häuschen des blinden Alten. Wie freute er sich, daß sie wieder da war, und daß sie überdies das Wasser mitgebracht hatte von der Quelle die alles heilt! Er trank einen Schluck aus dem Becher, und plötzlich war er in einen jungen Mann verwandelt, mit braunen Locken und strahlenden blauen Augen. Bewundernd blickte er die Prinzessin an. „Wie schön du bist! Aber ich wußte es ja, seit ich zum ersten Mal deine Stimme hörte. Schon damals liebte ich dich, und wenn du willst, möchte dich zur Frau haben.“
Schön? „Aber ich bin doch nicht schön! Ich bin klein und unscheinbar, noch nie hat mich ein Mann zweimal angesehen.“ - „Komm heraus zum Teich und sieh selber,“ entgegnete er. Und im Teich sah sie ihr Spiegelbild und war wirklich schön! „Wie kann das sein? So habe ich früher nicht ausgesehen.“ Der junge Mann dachte ein wenig nach. „Hast du vielleicht vom Wasser der Quelle getrunken?“ - „Ja, das habe ich, ich war so durstig als ich dort ankam. So hat das Wasser auch für mich etwas getan. Aber du, wie kam es, daß du als blinder alter Mann hier gelebt hast?“
Da erzählte der junge Mann: „Ich bin eines Königs Sohn, wuchs sorglos und glücklich auf. Als ich achtzehn Jahre alt war, nahm mein Vater mich in seinen Rat auf. Da gab es einen alten vertrauten Minister, der hatte schon meinem Großvater treu gedient, und mein Vater gab große Stücke auf seine weisen Ratschläge. Aber da er nun alt war, war er zittrig geworden, konnte nicht mehr ohne Stock gehen, und sein Augenlicht wurde immer schlechter, so daß er Schriftstücke ganz dicht vors Gesicht halten mußte, um sie lesen zu können. Ich leichtsinniger Junge machte mich häufig darüber lustig, ahmte ihn nach, wie er wackelig hierhin und dorthin ging, und tat so, als könne auch ich nichts lesen, was nicht ganz nahe vor meinen Augen war. Öfter mahnte mich mein Vater, solche Dummheiten zu unterlassen, aber ich hörte nicht auf ihn. Als ich während einer Ratssitzung wieder einmal den alten Minister erbarmungslos verspottete, schlug mein Vater plötzlich zornig auf den Tisch. „Welche Art von König wirst du einmal werden, wenn du keine Achtung vor den Menschen und keinen Respekt vor dem Alter hast? Ich wollte, du würdest einmal spüren, wie es ist, wenn man alt und schwach ist!“ Kaum hatte er ausgeredet, da wurde mir mit einem Male schwarz vor Augen. Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, fand ich mich hier in dieser Hütte, alt, schwach und blind, und eine Stimme sprach: „Alt, schwach und blind, sollst du hier bleiben, bis einmal ein Mensch aus freien Stücken und nur aus Mitleid Wasser für dich holt von der Quelle die alles heilt.“
Sie bereiteten ein Festmahl und aßen zusammen. Dann fragte das Mädchen: „Du willst nun sicher zurückgehen zu deinem Vater und ihn um Verzeihung bitten.“ Der Prinz senkte traurig den Kopf. „Das ist nicht möglich. Ich bin mehr als hundert Jahre verzaubert gewesen, und alle Menschen, die ich einmal gekannt und geliebt habe, sind längst gestorben. Aber was ist mit dir? Willst du nicht dorthin zurückgehen, wo du zuhause bist?“ - „Ach ja,“ sagte die Prinzessin, „das will ich. Zwar wird mir mein Vater wohl keinen guten Empfang bereiten, da ich so ungehorsam war, aber ich möchte so gern meine liebe Mutter wieder sehen.“
So machten sie sich auf den Weg und gelangten nach wenigen Tagen zum Schloß ihres Vaters. Als das Mädchen am Tor Einlaß begehrte und sagte, sie sei die Prinzessin, lachten die Torhüter sie aus. „Die Prinzessin? Die war ein häßliches kleines Ding, ist seit Monaten verschwunden und sicher schon gestorben und verdorben!“ Sie bat inständig, wieder und wieder, aber die Torhüter lachten nur noch lauter. Schließlich machten sie so einen Lärm, daß die Königin aus dem Fenster rief, weshalb denn der Mittagsschlaf des Königs gestört würde. „Hier ist ein Mädchen, das behauptet, die Prinzessin zu sein,“ gaben sie zurück.
Ein heißer Schreck durchfuhr die Königin. Sie eilte hinunter zum Tor, und als sie die Prinzessin sah, hatte sie keinen Zweifel. Ihr Mutterherz sagte ihr, daß dies ihre Tochter sei. Sie umarmte und küßte sie, brachte die beiden ins Schloß und ließ sich alles erzählen, was sich ereignet hatte. Dann sagte sie: „Dein Vater wird dir zuerst nicht glauben, aber wenn er dich genauer ansieht, wird er deine Züge erkennen, auch wenn du nun Rosenwangen und goldenes Haar hast. Er hat schon lange bereut, daß er dich fortgeschickt hat.“
Und so war es. Der König erkannte seine Tochter und schloß sie gerührt in die Arme. Sie wurde mit dem Prinzen vermählt, und da der König keinen Sohn hatte, machte er ihn und seine Tochter zu Erben seines Reiches.