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Die Quelle der Zeit
ANKUNFT
Der Motor brummte eintönig vor sich hin, und der Tempomat tat sein Bestes, die einschläfernde Tonlage zu halten. Die Straße führte schnurgerade durch eine trostlose Landschaft, flach, ohne Bäume, und mit nur wenig Struktur. Trockenes Grasland schien sich endlos nach beiden Seiten auszubreiten, hie und da von einem mickrigen Busch unterbrochen. Das letzte Fahrzeug war Peter vor mehr als einer Stunde entgegengekommen, und die letzte Ortschaft lag mittlerweile weit hinter ihm. Im Radio lief eine Nummer von Asia. Oder war es Amerika? Peter war zwar nicht ganz sicher, wer wirklich der Interpret war, aber immerhin kannte er die Melodie und summte leise mit.
Die Musik im Radio wurde zunehmend von einem Rauschen verdrängt, und ein Suchlauf förderte keinen brauchbaren Sender mehr zu Tage. Peter schaltete kurzerhand das Radio ab. Mit der rechten Hand griff er nach der Zigarettenpackung in seiner Hemdtasche und zog sie heraus. Das linke Knie stütze sich am Lenkrad ab und hielt den in die Jahre gekommenen Toyota so lange auf Kurs, bis sich eine glimmende Zigarette in Peters Mund befand, und er wieder eine Hand an das Steuer legen konnte.
Im Verlauf der Straße wuchs ein Gebäude langsam zur vollen Größe, als der Wagen sich näherte. Eine Tankstelle mitten im Nirgendwo. Ein einziges Haus stand hinter einer überdachten Zapfsäule. Es war offensichtlich aus Holz, mit einer Veranda vor dem Eingang. Ein alter Mann saß in einem Schaukelstuhl auf der Veranda. Er erhob sich, als er sah, dass sich Peters Wagen näherte, und starrte ihm entgegen. Im Vorbeifahren sah Peter dem Mann kurz ins Gesicht und konnte einen verblüfften und gleichzeitig freudigen Gesichtsausdruck erkennen. Im nächsten Augenblick lag wieder nur die einsame und gerade in die Ferne laufende Straße vor ihm, während die Tankstelle im Rückspiegel kleiner wurde und schließlich verschwand. "Hoffentlich hat diese gottverlassene Gegend bald ein Ende", dachte Peter bei sich und murmelte ein leises "Scheiße!" vor sich hin. Seine Kippe schnippte er achtlos aus dem Fenster. Ein neuerlicher Versuch, einen brauchbaren Sender zu finden, fand sein jähes Ende durch einen ärgerlichen Schlag auf die AUS-Taste des Radios. Es blieb nur das Geräusch des Motors.
Ein weiteres Gebäude tauchte vor dem Toyota auf. Doch je mehr die Entfernung abnahm, desto stutziger wurde Peter. Es war wieder eine Tankstelle. Wieder ein Holzhaus mit Veranda. Wieder ein Schaukelstuhl. Wieder ein Mann. Nein, derselbe Mann! Nur saß er dieses Mal nicht im Schaukelstuhl, er stand bereits und schien auf ihn zu warten. Während Peter mit quietschenden Reifen den Wagen zum Stehen brachte, hob der alte Mann seine Hand zum Gruß. Peter hielt seine Hände krampfhaft am Steuer und starrte zur Gestalt auf der Veranda hinüber. Hatte er irgendwo eine falsche Abfahrt genommen und war im Kreis gefahren? Aber da war doch gar keine Gabelung oder Kreuzung zwischen den Tankstellen gewesen? Wie konnte er kurz hintereinander an der gleichen Stelle zwei Mal vorbeifahren, obwohl er nur geradeaus gefahren war?
"Steig aus und komm her, ich erkläre es dir", rief der Alte. Als Peter nicht reagierte, fuhrt er fort: "Ich weiß, was in dir vorgeht, mir ging es damals auch so. - Nun komm!"
Der Wagen stand noch immer auf der Straße, als Peter den Motor abstellte und ausstieg. Mit langsamen Schritten und sich unsicher umsehend, bewegte er sich auf das Haus zu. Am Fuß der kurzen Treppe zur Veranda hielt er an und starrte dem Alten wieder stumm ins Gesicht.
"Mein Name ist Karl. Es freut mich, dich zu sehen. Wie heißt du?"
"Ich bin Peter. Was ist hier eigentlich los?"
"Hallo Peter. Komm rein, das erzähle ich dir bei einem kalten Bier."
GEFANGEN
Peter nahm den Spaten in die Hand und begann zu graben. Das Loch musste groß genug für Karls Körper werden. Peters Gedanken kreisten um die gestrigen Geschehnisse und um das, was Karl erzählt hatte.
Verrückter Alter! Er hatte versucht ihm einzureden, dass er hier gefangen war. Die Straße hätte keinen Anfang und kein Ende und würde in jeder Richtung wieder hierher zurückführen. So ein Blödsinn. Wenigstens einen Anfang musste die Straße ja wohl haben, wie hätte er sonst auf sie auffahren können. Und wo man auffahren kann, muss man auch abfahren können. Der Ursprung der Zeit wäre das hier. Eine Bruchbude im Nirgendwo? Lächerlich! Und der kleine Generator hinter dem Haus hielte die Zeit am Laufen. Er solle den Generator warten, hatte der Alte gesagt. Regelmäßig den Tank mit Benzin auffüllen und bei Defekten reparieren. Spinner! Vielleicht hätte Karl nicht so viel trinken sollen, so wie gestern. Vielleicht wäre er dann heute noch am Leben. Und vielleicht hätte Peter auch gleich wieder weiterfahren sollen, anstatt dem senilen Opa zuzuhören und ein Bier nach dem andern zu trinken. Schließlich hatte Peter dann auch noch auf den Alten gehört und hier übernachtet. Nur um am nächsten Morgen Karl tot in seinem Bett liegend zu finden.
Peter begutachtete das mittlerweile stattliche Loch in der Erde und versuchte abzuschätzen, ob es ausreichend groß war. Die Länge schien noch nicht zu passen, also setzte Peter noch ein paar Spatenstiche nach. Dann blickte er hinüber zum Haus. Es war an der Zeit den toten Karl aus seinem Bett zu holen und hier zu beerdigen. Widerwillig machte er sich auf den Weg. Die Leiche im Bett liegen lassen und einfach verschwinden wollte Peter dann doch nicht.
Es kostete Peter einige Mühen Karls bereits steif gewordenen Körper aus dem Haus in das Erdloch zu bugsieren. Schließlich lag Karl in seinem gestreiften Pyjama in der Erde. Ein paar letzte Worte wollte Peter noch sprechen, überlegte es sich dann aber doch anders. Es war ja sowieso niemand da, der sie hören konnte. Also steckte er sich eine Zigarette an und begann das Loch zuzuschippen.
Während die letzten Schaufeln Erde auf dem frischen Grab landeten, fing im Hintergrund der Generator an zu stottern. Offensichtlich ging der Sprit im Tank zur Neige. Peter kümmerte sich nicht darum, sondern glättete noch ein wenig die Oberfläche des gerade wieder aufgefüllten Lochs. Eine kleine Erhebung nackter Erde markierte Karls letzte Ruhestätte.
Ohne sich weiter aufzuhalten machte sich Peter auf zu seinem Wagen. Er wollte nur noch hier weg. Entschlossen setzte er sich auf den Fahrersitz und zündete sich eine weitere Zigarette an. Unwillkürlich blickte er ein letztes Mal zum Haus zurück und hoffte, diesen Ort und Karl bald zu vergessen. Etwas gequält sprang der Motor an, im Radio immer noch nur Rauschen. Mit durchgetretenem Gaspedal und quietschenden Reifen setzte sich der Toyota in Bewegung.
Nach nur wenigen Sekunden bremste der Wagen abrupt ab, und Peter wurde in den Sicherheitsgurt geschleudert. Etwas benommen lehnte er sich wieder zurück und sah sich um. Das erste was Peter auffiel, war das Fehlen des Motorgeräuschs. Wie konnte der Motor so plötzlich ausgehen? Ein Kolbenfresser hätte sich doch irgendwie bemerkbar machen müssen. Dann fiel sein Blick auf die Tachonadel, die knapp unter der 50 zum Stehen gekommen war. Peters Hand wanderte zum Zündschloss und versuchten den Schlüssel zu drehen. Er bewegte sich nicht, er war in seiner Stellung wie festgewachsen. Unter lautem Fluchen versuchte Peter, die Tür zu öffnen. Erfolglos. Also stieg er aus dem zum Glück offen stehenden Fenster. Er blickte sich um und sein Blut schien zu gefrieren, als er einen Falken regungslos am Himmel stehen sah. Der Blick des Falkens war auf der Suche nach Beute nach unten gerichtet, aber die Flügel schlugen nicht. Sie standen starr zum Himmel aufgerichtet, bewegungslos, wie auf einer Fotografie. Langsam dämmerte es Peter, dass der Alte vielleicht doch Recht gehabt haben könnte. Er blickte sich weiter um und konnte nirgendwo eine Bewegung feststellen. Kein Grashalm wiegte im Wind. Kein Geräusch zu vernehmen. Nicht einmal die paar Wolken am Himmel bewegten sich. Die Zeit schien stehen geblieben und mit ihr alles Leben, alle Bewegung. Mit einer einzigen Ausnahme.
Peters Versuch, in die entgegengesetzte Richtung zu Fuß zu entkommen, scheiterte. Etwa im gleichen Abstand zum Haus, in dem auf der anderen Seite sein Auto plötzlich stehen geblieben war, lief Peter gegen eine unsichtbare Wand. Nicht hart, eher weich. Aber beim Versuch in die Wand einzudringen zunehmend fester. Ein Durchkommen war unmöglich. Das Gleiche hinter dem Haus, auf der der Straße abgewandten Seite. Auch hier gab es diese Barriere, die sich anscheinend kreisförmig um das Haus zog. Es schien also eine Art Zeitblase um das Haus zu geben. Eine Blase, die das Haus kugelförmig umschloss, und Peter nicht wieder frei gab.
"Der Generator!", durchfuhr es Peter. "Er hat keinen Sprit mehr. Ich muss die Zeit wieder in Gang bringen!" Mit diesem Gedanken sprintete er los in Richtung des Generators. Wie sollte er den Tank wieder füllen? Er brauchte einen Kanister. Es musste hier einen Kanister geben, mit dem er den dringend benötigten Treibstoff transportieren konnte. Peter sah sich suchend um. Schließlich fand er ihn direkt neben der Zapfsäule stehend. "Alter Mann, auf dich ist Verlass", murmelte Peter vor sich hin. Eilig befüllte er den Kanister und schleppte ihn zum Generator. Peter schraubte den Tankdeckel vom Generator und kippte den Inhalt des Kanisters hinein. "Spring bloß an!" Mit diesen Worten riss er an der Schnur des Anlassers. Tatsächlich lief der Generator sanft an und tuckerte dann gemächlich vor sich hin. Zufrieden stand Peter daneben und grinste.
Von der anderen Seite des Hauses drang Lärm an Peters Ohren. Mit einer Vorahnung, was das gewesen sein konnte, rannte Peter erneut los. Dieses Mal in Richtung der Stelle, an der er sein Auto verlassen hatte. Die Ahnung wurde bestätigt. Mit dem Anlaufen des Generators war der Toyota weitergefahren, mit der gleichen Geschwindigkeit, wie vor dem einfrieren, aber ohne Fahrer am Steuer. Das Fahrzeug war nach kurzem Weg von der Straße abgekommen und hatte sich überschlagen. Es lag auf dem Dach. Der Motor lief im Standgas weiter, die Hinterräder immer noch antreibend.
Die Hoffnungslosigkeit seiner Situation begreifend, wurde Peter langsamer, blieb kurz stehen und setzte sich dann auf den Boden. Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und ergab sich seinem Schicksal.
ABLÖSUNG
Die Zeit verging. Peter gewöhnte sich an sein neues Zuhause. Es war einsam. Niemand kam vorbei. Anscheinend fand keiner die Zufahrt zur Straße, die an seiner Tankstelle vorbeiführte. Oder es sollte sie niemand finden. Vielleicht gab es sie auch gar nicht. Die Tage waren geprägt vom immer gleichen Rhythmus. Aufstehen, Frühstücken, Tank des Generators füllen, Zeit tot schlagen, Abendessen, Schlafen. Für sein leibliches Wohl wurde gesorgt. Wie das geschah, fand Peter nie heraus. Wenn er morgens aufwachte, war der Kühlschrank mit den Lebensmitteln gefüllt, die er für den Tag benötigte. Sogar Bier stand immer gut gekühlt darin. Peter legte sich zwar mehrmals nachts am Kühlschrank auf die Lauer, aber er bemerkte niemanden. Trotzdem war der Kühlschrank am nächsten Morgen wieder voll.
Die Vorräte an Benzin im Tank unter der Zapfsäule schienen ebenfalls niemals auszugehen. So viel er auch in den Jahren abgezapft hatte, es sprudele immer weiter aus der Zapfpistole.
Die einzigen Tage der Abwechslung waren die Tage, an denen der Generator repariert werden musste. Peter zerlegte die Maschine und reinigte die Einzelteile. Dann setzte er sie wieder zusammen, schmierte die beweglichen Teile neu und setzte den Motor wieder in Gang. Wohin die Energie des Generators eigentlich floss, konnte Peter nie feststellen. Er arbeitete einfach, ohne etwas elektrisch oder mechanisch anzutreiben.
Neugier und Bemühungen, die Geheimnisse diese Ortes zu ergründen, ließen mit der Zeit nach. Irgendwann interessierte er sich einfach nicht mehr für das warum und wie. Er nahm es hin, so wie es war. Er wurde alt und müde und sehnte sich nach dem Tag, an dem er all das hinter sich lassen konnte. Es schien ein Plan und ein Ziel hinter all dem zu stecken, also musste es auch weitergehen, wenn er einmal nicht mehr war.
Peter saß auf der Veranda im Schaukelstuhl und döste vor sich hin. Das Brummen des Generators schien plötzlich seine Tonhöhe zu ändern. Peter hörte genauer hin. Nein, es war nicht nur das Brummen des Generators. Ein zweites Motorengeräusch überlagerte den Generator und wurde langsam lauter. Peter machte die Augen auf und blickte die Straße entlang. Tatsächlich zog ein Fahrzeug eine Staubwolke hinter sich her und näherte sich seiner Tankstelle. Peter stieg aus dem Stuhl auf und blickte dem Fahrer in die Augen, als er das Haus passierte. Ein noch junger Mann ohne Begleitung.
Peter steckte sich gut gelaunt eine Zigarette an. "Meine Ablösung", dachte er bei sich. "Karl, stell schon mal das Bier kalt." Gegen einen Pfosten der Veranda gelehnt, blickte Peter in die Richtung, aus der das Auto gerade gekommen war. Es würde dort gleich wieder auftauchen, dessen war sich Peter sicher.