Die Prinzessin vom Hohen Berg
Ich bin die Prinzessin vom Hohen Berg und mein Vater ist König und er liebt mich.
Er liebt mich so sehr.
Seine Liebe ist so groß wie das Wolkenmeer, das den Hohen Berg umgibt.
Unendlich groß, sagt er.
Und ich liebe ihn.
Das Königreich meines Vaters ist wunderschön. Ich kenne jeden Stein und jeden Halm beim Namen.
Und meine Freunde, die Dohlen, erzählen mir Märchen.
Sie sagen, die Welt ist groß und sie sagen, sie ist bunt.
Was könnte aber bunter und größer sein, als das Reich meines Vaters?
Er braucht nur mich und ich brauche nur ihn.
Jeden Tag vor der Mittagssonne wandere ich durch das Königreich und begrüße die Steine und Halme und ich sehe den Dohlen bei ihren Spielen zu. Und jeden Tag nach der Mittagssonne tue ich es noch einmal.
Am Abend erzähle ich alles, was ich erlebt habe, meinem Vater
und er freut sich darüber.
In einer Nacht mit halbem Mond lerne ich den Prinzen kennen.
Zu einer Prinzessin gehört auch immer ein Prinz, sagt der Vater.
Der Prinz spricht nicht und er ist nicht schön. Aber der König freut sich.
Und ich liebe ihn.
Seit der Prinz da ist, gehe ich zwei mal vor und zwei mal nach der Mittagssonne durch das Königreich.
Es ist kleiner geworden. Das Königreich ist zu klein für drei. Es ist zu eng für drei.
Manchmal ist es schwer einen Platz zum Atmen zu finden.
Und die Dohlen erzählen mir ihre Lügengeschichten von der großen, bunten Welt.
"Wo ist diese Welt?", frage ich sie.
Und sie schreien: "Hinter dem weißen Meer!"
Aber das Wolkenmeer ist groß, unendlich groß, so groß wie die Liebe des Vaters.
Ich glaube den Dohlen nicht.
Und am Abend erzähle ich dem König nicht, was gesagt wurde.*
Der Prinz kommt und der König freut sich.
Ich sehe in seinen Augen, wie sehr er sich freut.
Mehr als über meine Abendgeschichten.
Am nächsten Tag sitze ich bei den Dohlen und höre ihren schönen Lügengeschichten über die große, bunte Welt hinter dem Wolkenmeer zu.
Am Abend frage ich den König nach der Welt.
"Du kennst die Welt. Sie gehört mir und du darfst darin leben", sagt der König.
Und wir gehen zu Bett und der Prinz kommt.
Ich glaube, er liebt den Prinzen mehr als mich.
"Prinzessin, meine Liebe ist so groß und rein, wie das unendliche Meer aus Wolken, das die Welt umschließt", sagt er der Vater.
Und ihn liebe ich.
"Prinzessin, auch der Prinz liebt dich sehr. Er liebt dich beinahe so sehr wie ich es tue", sagt der König.
Aber ich weiß, dass es nicht wahr ist.
Der Prinz liebt mich nicht.
Und deshalb weiß ich, dass der König lügt.
Und das Wolkenmeer wird endlich wie die Liebe des Vaters.
Am nächsten Tag liege ich bei den Dohlen und weine und ich weine und sie flüstern mir ihre wunderschönen Geschichten ins Ohr.
Von der Welt, die groß ist und bunt.*Ohne den Prinzen.
Am Abend sage ich nichts und der König sagt nichts, bis der Prinz kommt.
Gute Nacht.
Der Vater schläft.
Ich nehme das Messer und schneide den Prinzen tot.
Es ist leicht.
Überall Blut.
Der König brüllt. Der Vater heult. Der Prinz ist stumm, liegt nur da, schlaff und klein.
Überall Blut.
Prinzenblut fließt aus dem König, der früher mein Vater war.
Und ich lasse es fließen.
Ich gehe aus dem Haus zum Dohlenfelsen.
Ich wecke meine Freunde und sie tragen mich über das Wolkenmeer bis ich gelernt habe, selbst zu fliegen.
Und hinter dem weißen Meer ist die Welt groß und sie ist bunt, als die Sonne aufgeht.
Auf dem Hohen Berg gibt es keine Prinzessin mehr und auch keinen Prinzen. Es gibt keinen König mehr und auch keinen Vater.
Da ist nur ein Mann und der weint und er weint.