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Die Prinzessin vom Hohen Berg

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21.06.2016
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Die Prinzessin vom Hohen Berg

Ich bin die Prinzessin vom Hohen Berg und mein Vater ist König und er liebt mich.
Er liebt mich so sehr.
Seine Liebe ist so groß wie das Wolkenmeer, das den Hohen Berg umgibt.
Unendlich groß, sagt er.

Und ich liebe ihn.

Das Königreich meines Vaters ist wunderschön. Ich kenne jeden Stein und jeden Halm beim Namen.
Und meine Freunde, die Dohlen, erzählen mir Märchen.
Sie sagen, die Welt ist groß und sie sagen, sie ist bunt.
Was könnte aber bunter und größer sein, als das Reich meines Vaters?

Er braucht nur mich und ich brauche nur ihn.

Jeden Tag vor der Mittagssonne wandere ich durch das Königreich und begrüße die Steine und Halme und ich sehe den Dohlen bei ihren Spielen zu. Und jeden Tag nach der Mittagssonne tue ich es noch einmal.
Am Abend erzähle ich alles, was ich erlebt habe, meinem Vater
und er freut sich darüber.

In einer Nacht mit halbem Mond lerne ich den Prinzen kennen.
Zu einer Prinzessin gehört auch immer ein Prinz, sagt der Vater.
Der Prinz spricht nicht und er ist nicht schön. Aber der König freut sich.

Und ich liebe ihn.

Seit der Prinz da ist, gehe ich zwei mal vor und zwei mal nach der Mittagssonne durch das Königreich.
Es ist kleiner geworden. Das Königreich ist zu klein für drei. Es ist zu eng für drei.
Manchmal ist es schwer einen Platz zum Atmen zu finden.

Und die Dohlen erzählen mir ihre Lügengeschichten von der großen, bunten Welt.

"Wo ist diese Welt?", frage ich sie.
Und sie schreien: "Hinter dem weißen Meer!"

Aber das Wolkenmeer ist groß, unendlich groß, so groß wie die Liebe des Vaters.

Ich glaube den Dohlen nicht.

Und am Abend erzähle ich dem König nicht, was gesagt wurde.*

Der Prinz kommt und der König freut sich.
Ich sehe in seinen Augen, wie sehr er sich freut.

Mehr als über meine Abendgeschichten.

Am nächsten Tag sitze ich bei den Dohlen und höre ihren schönen Lügengeschichten über die große, bunte Welt hinter dem Wolkenmeer zu.

Am Abend frage ich den König nach der Welt.
"Du kennst die Welt. Sie gehört mir und du darfst darin leben", sagt der König.
Und wir gehen zu Bett und der Prinz kommt.

Ich glaube, er liebt den Prinzen mehr als mich.

"Prinzessin, meine Liebe ist so groß und rein, wie das unendliche Meer aus Wolken, das die Welt umschließt", sagt er der Vater.

Und ihn liebe ich.

"Prinzessin, auch der Prinz liebt dich sehr. Er liebt dich beinahe so sehr wie ich es tue", sagt der König.

Aber ich weiß, dass es nicht wahr ist.
Der Prinz liebt mich nicht.
Und deshalb weiß ich, dass der König lügt.

Und das Wolkenmeer wird endlich wie die Liebe des Vaters.


Am nächsten Tag liege ich bei den Dohlen und weine und ich weine und sie flüstern mir ihre wunderschönen Geschichten ins Ohr.
Von der Welt, die groß ist und bunt.*Ohne den Prinzen.

Am Abend sage ich nichts und der König sagt nichts, bis der Prinz kommt.
Gute Nacht.
Der Vater schläft.

Ich nehme das Messer und schneide den Prinzen tot.
Es ist leicht.

Überall Blut.

Der König brüllt. Der Vater heult. Der Prinz ist stumm, liegt nur da, schlaff und klein.

Überall Blut.

Prinzenblut fließt aus dem König, der früher mein Vater war.
Und ich lasse es fließen.

Ich gehe aus dem Haus zum Dohlenfelsen.
Ich wecke meine Freunde und sie tragen mich über das Wolkenmeer bis ich gelernt habe, selbst zu fliegen.
Und hinter dem weißen Meer ist die Welt groß und sie ist bunt, als die Sonne aufgeht.

Auf dem Hohen Berg gibt es keine Prinzessin mehr und auch keinen Prinzen. Es gibt keinen König mehr und auch keinen Vater.
Da ist nur ein Mann und der weint und er weint.

 

Hallo alle!

Ich bin ganz neu hier und bin schon sehr gespannt auf Eure Meinungen und natürlich auf Eure Geschichten. Freu mich schon!:)

Liebe Grüße
Mia

 

Hej Miamaria,

dein reduziertes Märchen ist ja nichts für "kleine Mädchen". ;)

Dein liebreizender Sprachgebrauch von der Liebe täuscht mich aber nicht und ich ahne recht früh, dass da was "im Busch" ist. Das ist sicher beabsichtigt und somit clever gemacht.

Leider bin ich auch nicht sicher, mit welcher Moral ich es zu tun habe - bin ungeübt in Metaphorik und Anspielungen. Somit gehöre ich nicht zum Leserkreis und meine Meinung ist nicht gewichtig.

Dennoch hat mir dein Stil und der Verlauf Spaß gemacht.

Und das Wolkenmeer wird endlich wie die Liebe des Vaters.

Mein Lieblingssatz. :shy:

Freundlicher Gruß, Kanji

 

Hallo Miamaria,

mir hat deine Geschichte auch sehr gut gefallen, ja, ich war seltsam angetan davon. Seltsam, weil ich gar nicht wusste, dass mir solche Geschichten gefallen können.
Ich kann es gar nicht mit Sicherheit sagen, dazu verstehe ich die Geschichte auch nach dem dritten Lesen noch nicht gut genug, aber ich habe das Gefühl, dass da eine Menge Überlegung und Raffinesse in der Anordnung der Sätze steckt. Zumindest möchte ich das glauben. Z.B. die Art, wie aus den Märchen der Dohlen Lügengeschichten werden, die dann doch geglaubt werden und sich später als Wahrheit erweisen.

Wenn ich überhaupt etwas zum Meckern finden müsste, dann wäre es diese Stelle:

Seit der Prinz da ist, gehe ich zwei mal vor und zwei mal nach der Mittagssonne durch das Königreich.
Es ist kleiner geworden. Das Königreich ist zu klein für drei. Es ist zu eng für drei.
Das "zwei mal vor und zwei mal nach der Mittagssonne" klingt etwas umständlich. Ich hätte einfach "öfter" geschrieben (ok, ich bin kein Poet). Aber geht man durch eine zu kleingewordene Welt öfter? Und dann wird "klein" wiederholt und dann kommt der gleiche Satz mit "eng" nochmals, ohne dass der Aussage dadurch etwas hinzugefügt wird.
Du hast wahrscheinlich einen Grund, warum du es genau so geschrieben hast, aber ich bin beim Lesen da etwas rausgekommen.

Ansonsten ging es mir beim Lesen wie Kanji: ich bin verwirrt und erfreut zugleich.

Viele Grüße
Ella Fitz

 

Hallo Miamaria,

kein Märchen für Kinder - das wurde schon gesagt. Ich denke, es ist gar kein Märchen. Ich kann mir eine junge Frau vorstellen, die nach jahrelangem Mißbrauch und einer Tötung in der Psychiatrie landet und in diesen distanzierten Worten ihre Lebensgeschichte beschreibt.

Meine Probleme/Fragen: Sind der Prinz und der Vater verschiedene Lebewesen bzw ist der Prinz überhaupt ein eigenständiges Wesen?

Da ist nur ein Mann und der weint und er weint.
Dieser Satz fällt aus der Geschichte heraus. Bis dahin ist alles selbst erlebt, aber da die Prinzessin nicht mehr auf dem hohen Berg lebt, kann sie das nicht wissen. Also das Fazit dieser Geschichte?

Liebe Grüße

Jobär

 

Hallo Kanji,
vielen Dank für Deine Nachricht! Großartig, dass Dir das Lesen Spaß gemacht hat. Ich habe hier für mich auch etwas ganz Neues versucht - so bewusst habe ich noch nie Sätze und Worte aneinander gereiht. Das mit dem WOlkenmeer ist vielleicht auch mein Lieblingssatz... Sicher noch ausbaufähig :-) Auf jeden Fall Danke für's Lesen und Kommentieren!!

Grüße
Miamaria

 

Liebe Ella Fitz, lieber Jobär,

auch Euch vielen Dank! Schön, dass das "Seltsame" und "Verwirrende" rüber kommt. Ich habe viel Zeit mit der Wahl der Worte und der Satzanordnung verbracht, ja ..(wann ist er Vater? wann ist er König? Der Weg Lüge- Märchen- Wahrheit u.ä.) und war aber nicht sicher, ob die Geschichte auch nur ansatzweise so funktioniert wie gewünscht...

Ella Fitz, du hast absolut recht:

Seit der Prinz da ist, gehe ich zwei mal vor und zwei mal nach der Mittagssonne durch das Königreich.
ist eine Stelle, die mir selbst auch nie wirklich gefallen hat. Danke für den Hinweis!

Da ist nur ein Mann und der weint und er weint.
Jobär - Danke!! Mir war nicht klar, dass der Perspektivwechsel störend wirkt. Das muss ich wohl anders lösen..
Und nein, der Prinz ist kein eigenständiges Wesen. Glaube ich zumindest. Ich glaube der Prinz ist ein Teil des Vaters, so wie auch der König ein Teil des Vaters ist (und anders herum).

Liebe Grüße & einen schönen Tag!
Miamaria

 

Hallo Miamaria,

ich wollte dich nicht verunsichern. Wenn der Perspektivwechsel gewünscht ist - und er bringt ja immerihn einen starken Hinweis: es gibt nur einen Mann - dann sit das in Ordnung. Letztlich kommt es mir wie das Fazit desjenigen vor, der die Geschichte des Mädchens erzählt. Also lass es bloss so.

Liebe Grüße

Jobär

 

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