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Die Premiere
Auf den Eintrittskarten stand: „Dienstag, 26.12.2000 – Premiere. Reihe 7 Platz 40 und 42“.
„P“ kaufte sie für seinen Chef zu dessen großem runden Geburtstag. Er wollte ihm damit eine besondere Freude bereiten, hatte doch sein Chef, als weltweit prominentes Mitglied der Gesell-schaft, kaum die Möglichkeit, einen Abend privat in angenehmer Atmosphäre zu verbringen. Ständig rief ihn die Pflicht zu irgend welchen wichtigen Aktivitäten.
Weil der Chef so berühmt ist, soll er hier vorsichtshalber nur „M“ genannt werden; und sein Mit-arbeiter „P“.
Bei seinen vielen Aufenthalten in der angelsächsischen Welt hatte sich „M“ angewöhnt, auch seinen zweiten Vornamen zu erwähnen. Es war dort halt so üblich. Nach der Rückkehr nutzte er dann die Gelegenheit seinen ersten Vornamen, den er im Laufe der Zeit mehr und mehr als un-modern und spießig empfand, wegzulassen. „M“ steht also für seinen zweiten Vornamen.
„P“ ließ sich genau beraten, als er die Karten lange vor dem Premieredatum erstand. Er wollte Plätze, die weit genug von der Bühne entfernt waren, so dass man mit einem Blick das ganze Geschehen auf den Brettern erfassen konnte – aber auch nahe genug, dass einem das feine Minenspiel der Schauspieler und Sänger nicht entging. Die Reihe 7 – genau in der Mitte - war eine ideale Empfehlung.
Natürlich kaufte er nicht ganz uneigennützig zwei Karten. So konnte er vielleicht in der Pause mal in Ruhe mit seinem Chef auch über private Dinge plaudern. Etwas, was in der Hektik des Allta-ges kaum möglich war.
Auf der Fahrt zum Theater standen sie kurz vor dem Ziel ziemlich lange im Stau. Gott sei Dank fanden Sie in der Tiefgarage noch einen Platz für Ihren Wagen.
Als „M“ und „P“ ihre Plätze einnahmen, erklang gerade das zweite Läuten. Zwei Plätze neben ihnen waren noch leer – ansonsten war das Theater sehr gut besetzt, wie ein kritischer Blick nach allen Seiten zeigte.
„M“ putzte sich mit dem Taschentuch umständlich seine Brille. Die Alterssichtigkeit machte ihm zu schaffen, deshalb war er auf diese Sehhilfe angewiesen. „M“ war von Natur aus ein sehr be-scheidener Mensch. Luxus mochte er nicht. Und Luxus an sich selber erst recht nicht. Er wollte möglichst viel von seinem Geld in seine großen, gemeinnützigen Projekte auf der ganzen Welt stecken; das war sein Ehrgeiz. Die schweren Gläser seiner Brille waren in einem sehr einfachen Kranken-Kassen-Gestell gefasst. Seine eleganten Theaterschuhe hatte er nur angezogen, weil es halt bei einer Premiere so sein musste. In Wirklichkeit taten ihm die Füße schon nach den wenigen Schritten von der Tiefgarage bis ins Theater weh. Die gesunden, breiten Heiland-Sandalen waren doch wirklich viel bequemer, überlegte „M“ gequält, und fuhr mit dem Finger zwischen Schuh und Socke seiner schmerzenden Ferse entlang.
Doch die Vorfreude auf die Premiere wischte alle diese kleinen Unannehmlichkeiten weg. „M“ hatte das Musical schon in einer früheren Fassung gesehen. Aber die heutige Version sollte we-sentlich moderner und aggressiver sein, las er in der Theatervorschau.
Er wollte sich angenehm überraschen lassen – und freute sich auch schon auf ein nettes Pau-sengespräch mit seinem Mitarbeiter.
Im letzten Moment wurden auch noch die beiden Plätze links von „M“ besetzt. Ein großer, breit-schultriger Mann mit einem sehr markanten, kantigen Gesicht, gefolgt von einem ebenfalls ganz in schwarz gekleideten Mann, drängte sich durch die voll besetzte Reihe. Mit einem kaum ver-ständlichen „Tschuldigung“ mussten sie sich den Durchgang verschaffen. Die meisten Zuschauer waren höflich, erhoben sich und ließen die beiden passieren. Nur eine etwas korpulentere Dame blieb sitzen. Ihr Gesichtsausdruck und ihre Körperhaltung machten deutlich was sie dachte: „Ihr blöden Hammeln, wenn ihr schon Karten in der Mitte der Reihe kauft, dann kommt doch bitte nicht im letzten Augenblick. Das ist eine Unverschämtheit“.
Auch die beiden letzten Premiere-Besucher – ich nenne den Größeren von beiden „S“ und den kleineren „B“ - standen im Stau. Als sie ins Parkhaus einfuhren, zeigte die Leuchtanzeige gerade noch „1 Platz frei“. Nachdem sie die Schranke passiert hatten, schaltete die Anzeige um und stoppte jetzt die nächsten Parkplatzsuchenden mit einem roten, blinkenden „BESETZT“. Den letzten freien Platz im Parkhaus mussten sie ziemlich lange suchen; deshalb kamen sie buch-stäblich in letzter Minute in den Zuschauerraum.
Für „S“ war so eine Premiere nicht unbedingt ein Vergnügen, wie es andere Menschen in vollen Zügen zwischen Weihnachten und Neujahr genossen. Er kam auf Empfehlung seines politischen Beraters. Der Regisseur des Musicals soll es meisterhaft verstehen, publikumswirksame Mas-senauftritte zu inszenieren. Er habe sein Handwerk beim Film erlernt und sei in dieser Sparte bis Hollywood aufgestiegen. Auf der Bühne konnte er vieles noch perfektionieren. Er soll ein wahrer Teufel in seinem Spezialfach sein.
Für „S“ also war dieser Premiere-Besuch eine Pflicht. Und er mochte Pflichten nicht. Früher nicht und heute erst recht nicht.
„M“ setzte die frisch geputzte Brille auf und schaute seinen neuen Nachbarn kurz von der Seite an. „Nein“, durchfuhr es ihn, „das darf doch nicht wahr sein!“. Er drehte den Kopf nochmals nach links, schaute länger und intensiver.
Es war wahr!
Wie Ameisen schwirrten die Gedanken in „M’s“ Kopf herum. „Jetzt versuche ich das ganze Leben lang, seit ich richtig denken kann, diesem Kerl aus dem Weg zu gehen. Meine Eltern schon hat-ten mich gelehrt, mich von diesem Halunken fern zu halten. Und jetzt sitzen wir genau neben einander. Und das bei der Premiere, wo es im Saal von Kritikern und Fotographen nur so wim-melt – eine Katastrophe!“
In diesem Moment drehte sich „S“ um. Auch er erkannte „M“ sofort und schaute ihm mit einem breiten Grinsen im Gesicht an.
Die Türen zum Zuschauerraum und zu den Logen wurden mit einem trockenen „Klack“ geschlos-sen. Der große Kristall-Lüster wurde gedimmt und die Musik setzte leise ein. Premiere-Gefühle stellten sich bei den Gästen im Raum und sicher auch bei den Protagonisten hinter dem Vorhang ein. Die letzten Blitzlichter der Pressefotographen erloschen. Kurzes Husten und Räuspern.
Die Vorstellung begann.
„M“ konnte sich nicht auf das Musical konzentrieren. Dieser verfluchte „S“ hatte ihm die ganze Freude am Geburtstagsgeschenk vergällt.
Kaum gingen in der Pause die Lichter im Parkett wider an durchzuckten neue Blitzlichtgewitter den Raum. Gerade in dem Moment, als „M“ und „S“, gefolgt von den beiden anderen Männern aus der Enge der Stuhlreihen in den breiten Korridor traten, stürzte ein Pressefotograf auf sie zu und lichtete sie ab.
Am Mittwoch erschien in der auflagestärksten Zeitung der Artikel des berühmten Theaterkritikers Kreisch-Kastritis. Unter dem reißerischen Titel „Jesus Christ Superstar – Eine Starbesetzung vor und hinter den Kulissen“ prangte das Bild, welches der Pressefotograf am Premiere-Abend ge-schossen hatte. Als Bildunterschrift war zu lesen:
„Jesus „Messias“ Christus, gefolgt von seinem Jünger Petrus, und der Satan persönlich, in Be-gleitung des Beelzebubs, verfolgten aufmerksam die Darbietung der Künstler auf der Bühne“.
Welche Schmach – und dazu mussten sie auf dem Bild auch noch in die Kamera lächeln! Was wird wohl die Menschheit denken? Und das nach 2000 Jahren!