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Die Prüfung
Man sagt, dass es nur eine Handvoll Menschen auf der Welt gibt, welche die Weltformel wirklich verstehen. Letztendlich erwies sich dieser Sachverhalt als belanglos.
Die Meute verteilte sich über die große Treppe und den Flur.
Wir beäugten uns und die verschlossene Flügeltür. Es war warm und roch nach Schweiß und Deo. Noch exakt 4 Minuten und 21 Sekunden. Es wurde wenig gesprochen, und das Wenige dann mit gedämpfter Stimme. Es genügte trotzdem für ein Rauschen an Wörtern und Lauten. Da nur wenig Raum war, hatte sich so etwas wie Fahrstuhlatmosphäre breit gemacht. Als Kontrast dazu hatten sich einzelne, kleine Nester von Sprechenden gebildet. Einige konnten nicht an sich halten und mussten erzählen, wie frei sie waren. Meine große Schwester war nie eingeladen worden, und sie war deshalb mutmaßlich höchst unfrei aber glücklich – glaubte sie. Wir alle hier waren frei. Natürlich. Zum Beispiel die kleine Rothaarige, die übertrieben gestikulierte. Ich war zu weit weg, um sie richtig zu verstehen, aber die Freiheit schien bei ihr wohl genetisch bedingt zu sein. So eine Oma, Papa, Kind Sache. Zum Beispiel der Business-Schnösel mit der langen Nase und dem knitterfreien Seidenpapiereinmalhemd – erster Eindruck: Maßanfertigung, also reich. Oder ich in zehn Jahren? Wollten wir da nicht alle hin? Wie konnten wir dann frei sein? Zum Beispiel ein schädelkahlrasierter Kumpelschleimer mit einem lässigen „Hach, jetzt stehen wir hier“ und nirgends ein wir nur ein ich, und man hat es sich noch selbst ausgesucht, auch das musste betont werden. Frei halt. Für mich waren das alles Konkurrenten. Das war weder logisch noch zweckdienlich, aber wenn Du weißt: 265 gehen rein, und im Schnitt kommen zwei, drei weiter, dann sind 263 gegen Dich. So ist das.
Man ist auch frei zu gehen. Der Typ mit dem Gocirucksack. Er fiel mir auf, wie er so stierte, irgendwie Marke kurz-vor-dem-Kreislaufkollaps. Er stierte so eine Weile vor sich hin, plauschte plötzlich mit Fremden, zog die Augenbrauen hoch, sah sich um, kramte einen zerknitterten Zettel aus der Tasche, sah sich nochmal um, sah die Rothaarige und ging - stand vermutlich auf dem Zettel.
Der Zettel rief mir Bruno und Magda, beste Freunde und kein Pärchen, in Erinnerung. Sie ließen es sich nicht nehmen, mir zu helfen, obwohl ich nicht wollte, zumindest anfangs. Ich wollte die Sache ganz relaxt angehen, aber ich werde gegen Ende immer so hibbelig, und als der Termin dann immer näher und näher rückte, verbrachten wir Abend um Abend damit, ein Freewareprogramm zu konfigurieren und zu kalibrieren. Ich glaube, ich führte mein Computer-Ich eine Million Mal durch eine der Türen: Die Sache an sich war am Anfang recht spaßig gewesen, dann ätzend dann irgendwie meditativ. Rechts oder links – von wegen „to be“ oder so.
So kam ich auch zu so eine Art Zettel. Mehrere Megabytes lang lagerte er zu Hause auf meiner Festplatte. Er meinte: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 78,31% würde ich mich nach Betreten des Saals nach links wenden. Die bedingte Wahrscheinlichkeit mich dann auf einen der vorderen Plätze zu setzen lag bei 81,25%. Sie hatten mir sogar Werte für die einzelnen Reihen ausgerechnet. Magda hielt das für voll wichtig. Darauf würde voll geachtet, vermutlich wäre das sogar der eigentliche Test. Aha. Und Bruno hatte Spaß dabei, ob wegen mir oder Magda sei mal dahingestellt. Ich sollte also nach rechts gehen. Nur so als Zeichen. Um auf Nummer sicher zu gehen. Und wenn ich dann links ginge, konnte ich gehen. Blödsinn. Besteht Freiheit nicht auch darin, trotzdem nach links gehen zu können?
Insgeheim hatte ich mir schon eine Lösung für das Dilemma ausgedacht. Ich würde den ersten Platz nehmen, der sich bot, also geradeaus drauf zu gehen und nebenbei die Meute als Zufallsgenerator nutzen. Das schien mir schlauer als alle Mathematik. Da wusste ich noch nicht, dass ich einer der letzten war, der reinkam.
Ich weiß nicht, warum ich den anderen so gebannt zuschaute. Ein älterer Mann vom Typ Seelsorgerhausmeister öffnete von innen und unter „obacht zur Seite“ Rufen langsam die Flügeltür. „Mäh“ machte keiner, wäre aber ein toller Scherz gewesen, lag mir kurz auf der Zunge, nahm mir dann die Freiheit darauf zu verzichten. Hätte vermutlich eh nur ich gelacht.
Wie sie gingen: Rechter Fuß, linker Fuß. Bildete ich mir das ein? Manchen, so glaubte ich, sah man es an, dass sie sich darüber Gedanken gemacht hatten. Lauter Magdas und Brunos irgendwo als Freiheitspaten zu Hause vor den Rechnern.
Lohnt es sich zu erwähnen, dass ich nur noch links vorne einen freien Platz sah? Später würde ich auf dem Zettel nachsehen, welche Wahrscheinlichkeit denn dafür ausgerechnet worden war. Da war also mein Platz: 60 auf 60cm Tisch mit Stuhl, Holz, verleimt, nicht genagelt, in halogengelb getauchtes rot, auf dem Tisch ein Umschlag, Größe C4, und ein Bleistift, neu, Härtegrad HB, kein Radiergummi. Ein Zeichen?
Ein grauhaariges Männchen im grauen Anzug verkündete dann, dass die Prüfung begann. 264 Stühle rückten nochmal. 528 Hände öffneten Umschläge: Ritsch, Ratsch und Wusch. Dann verlor meine Wahrnehmung den Kontakt zu meiner Umgebung. Ich sah einen großen, weißen Zettel. Links oben Platz für Name und so. In 12 Punkte Arial Schrift dann die eine Aufgabe, die erwartete Frage, die echte Freiheitsfrage: „Nennen Sie eine zufällige Zahl?“